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Die griechische Kolonisation am Nordgestade des Schwarzen Meeres im Lichte archäologischer Forschung 1).

Von Ernst von Stern.

Die Zeit, da für den modernen Historiker die Geschichte Griechenlands sich, abgesehen vom homerischen Zeitalter, im wesentlichen auf die Geschichte Spartas und Athens reduzierte und er seine Aufgabe für gelöst betrachtete, wenn er die politischen Schicksale und die Kulturentwicklung dieser beiden Staaten zum Gegenstand seiner Forschung gemacht hatte,

die Zeit, m. H., liegt hinter uns in wesenlosem Schein. Wir wissen nun seit einem Menschenalter, dank archäologischer Forschung, dass über 1/2 Jahrtausend früher, als Sparta und Athen zu politischer Bedeutung gelangen, Griechenland eine hohe Kulturblüte durchlebt hat, wir wissen jetzt, dank vertieftem Eindringen in die historischen Probleme, dass als des attischen Reiches Herrlichkeit gefallen war und Spartas Könige nur noch als Söldnerfürsten in fremden Diensten sich Ruhm erwarben, die griechische Kultur im Hellenismus ihre weltgeschichtlich bedeutsamste Mission erfüllte, es ist vor allem längst erkannt, worauf es mir hier in erster Linie ankommt, dass Griechenland, dem heutigen Grossbritannien vergleichbar, vor allem ein Kolonialreich war und dass Macht und Blüte von Mutterland und Kolonie sich gegenseitig bedingten.

Aber von dieser theoretischen Erkenntnis der Bedeutung der griechischen Kolonien, die wie ein Blütenkranz das Meeresufer vom Kaukasus bis nach Afrika und Frankreich umsäumten, bis zur praktischen Lösung der Aufgabe, die Geschichte dieses Kolonialreiches zu ergründen, in seiner Entwickelung und seinem Niedergang darzustellen, ist noch ein weiter Weg. Bei dem Charakter unserer literarischen Ueberlieferung kann der Historiker nur dann diese Aufgabe ihrer Lösung näher zu bringen hoffen, wenn er beim Archäologen in die Schule geht, oder richtiger gesagt, wenn er selbst zum Archäologen wird. Nur eingehende topographische Forschung, Teilnahme oder noch besser Leitung von Ausgrabungen an Ort und Stelle, eingehende Berücksichtigung des einschlagenden epigraphischen und numismatischen Materials und volle Beherrschung all der Kleinfunde, in erster Linie der Keramik, kann den Historiker in den Stand setzen, zu deutlicher Anschauung des

1) Vortrag, gehalten auf dem internationalen Kongress für historische Wissenschaften zu Berlin am 7. August 1908 in einer kombinierten Sitzung der Sektionen II (Geschichte von Hellas und Rom) und VIIa (Archäologie).

Klio, Beiträge zur alten Geschichte IX 2.

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kulturellen Lebens in dem einen oder anderen Kolonialgebiet zu gelangen. Mir ist es vergönnt gewesen in einem Zeitraum von fast 25 Jahren. von diesen Gesichtspunkten aus das griechische Kolonialleben an einer der wichtigsten Stätten des Kolonialreiches am Nordgestade des Schwarzen Meeres zu erforschen: Der liebenswürdigen Aufforderung des Organisationskomitees des Kongresses nachkommend, will ich versuchen, so weit dies in der kurzen Spanne Zeit, die mir zur Verfügung steht, möglich ist, ein Bild der politischen und kulturellen Entwickelung dieses Kolonialgebietes zu entwerfen, wie es sich im Licht archäologischer Forschung darstellt. Das Nordufer des Pontus, auf dem in historischer Zeit blühende griechische Städte standen, ist ein uraltes Kulturland. Die Grabungen von Chwoiko im jetzigen Gouvernement Kiew, meine Ausgrabungen in Bessarabien bei Belzie haben uns Ansiedlungen aus rein neolithischer Zeit kennen gelehrt, für die eine reich entwickelte, bemalte Keramik besonders charakteristisch ist. Es lässt sich diese eigenartige Kultur, die trotz lokaler Divergenzen doch ein geschlossenes Ganze darstellt, vom Gouvernement Tschernigow an über Bessarabien, Galizien, Rumänien bis nach Thessalien (Sesklo und Dimini) verfolgen. Die historischen Schlüsse, die sich aus den Fundtatsachen ergeben, habe ich in meiner Schrift über die prämykenische Kultur in Süd-Russland zu ziehen versucht 1). Ob diese Fundtatsachen, wie ich anzunehmen geneigt bin, den archäologischen Beweis für die Richtigkeit der griechischen Wandersagen erbringen, mag hier unerörtert bleiben; zweierlei scheint mir unanfechtbar sicher: diese Kultur darf nicht, wie das vielfach geschehen ist, als Ausstrahlung" der mykenischen betrachtet werden sie geht ihr zeitlich und inhaltlich voraus; und zweitens dürfen wir von einer Kulturströmung, die sich von Norden nach Süden verbreitet, sprechen 2).

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War so in vorhistorischer Zeit das Schwarzmeergebiet in kultureller

1) E. von Stern, Die prämykenische Kultur in Südrussland. Russisch und deutsch. 87 Seiten in Folio mit 12 Tafeln; Trudy des XIII. archeol. Kongresses in Jekaterinoslaw, Moskau 1907. Vergl. auch den Vortrag von E. von Stern in den Iswestia des XII. arch. Kongresses in Charkow 1902, S. 87 folg.

Ungarn,

2) Vergl. über diese Frage auch Hubert Schmidt, Troja Mykene Zeitschrift für Ethnologie 1904. S. 634 f. 643 f. Dass von de Morgan in Susa eine sehr analoge Keramik aufgedeckt worden ist, deren Spuren auch in Aschabad und Merv zu finden sind, worauf Wolkov auf dem XIV. archäol. Kongress in Tschernigow (Iswestia des XIV. arch. Kongresses, Tschernigow 1908 S. 51) neuerdings wieder hingewiesen hat, macht mich an der Richtigkeit meiner Schlussfolgerung nicht irre. Dass gleichartige kunstindustrielle Formen und Produkte man vergl. beispielsweise die Gesichtsurnen in Troja, Westpreussen, Mexiko zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern sich finden, ist eine oft beobachtete Erscheinung. Von einer Abhängigkeit der prämykenischen Kultur Süd-Russlands und des Balkangebietes von Susa dürfte man nur dann reden, wenn sich dort die gleiche Grab- und Häuseranlage fände und wenn ein zeitlicher und geographischer Zusammenhang sich nachweisen liesse. Beides ist nicht der Fall.

Beziehung das Gehende um die Wende des I. Jahrtausends kehrte das Verhältnis sich um: es wurde das Empfangende; aus dem durch die Berührung mit dem Orient weiter vorgeschrittenen, weiter entwickelten Süden begann die Rückflut. Bronce, zugleich Eisen Bronce, zugleich Eisen eine reine Broncezeit gibt es in Südrussland nicht finden ihren Weg in das Schwarzmeergebiet und bald darauf folgen die Griechen, in deren Sagenüberlieferung dieses Gebiet (das goldene Vliess, Prometheus, Iphigenie) schon früh eine hervorragende Rolle spielt, mit der Anlage von Handelsfaktoreien und Kolonien. Während, wie die reichen Goldfunde im Kubangebiet lehren, am Nordfuss des Kaukasus im VIII./VII. Jahrh. eine eigenartige griechischpersische Mischkultur herrscht 1), entstehen am Nordufer des Pontus eine stattliche Anzahl griechischer Städte.

Einer wohlverbürgten Tradition nach gehört die Führung und Gründung Milet). Mit der archäologischen Bestätigung dieser literarischen Ueberlieferung sah es lange recht dürftig aus; eine einzige milesische Vase aus Kertsch (Pantikapaion) in der Kaiserl. Ermitage diente jahrzehntelang als einziger materieller Beleg für die Richtigkeit der Tradition. Und wenn auch im Laufe der Zeit die Zeugen sich mehrten und Scherben unzweifelhaft ionischer Keramik in Olbia und Kertsch gefunden wurden, so waren doch diese Funde im Verhältnis zum attischen Gut so gering, dass ich noch im Jahre 1899 auf dem Kiewer Archäologischen Kongress das volle Recht zur Behauptung hatte, die milesische Kolonisation müsse als Gründung vereinzelter Handelsfaktoreien betrachtet werden, die erst zum Schluss des VI. Jahrh., zur Zeit der durch Peisistratos begründeten attischen Vorherrschaft zur See in eigentliche Kolonien und Städte umgewandelt seien 3). Heute bedarf diese Behauptung einer Modifikation. Zahlreiche Grabfunde altmilesischer Töpferwaren weit von der Schwarzmeerküste nach Norden, im Jekaterinoslawschen Gouvernement), im Gouvernement Kiew bei Smela), im Swenigorodsker Kreise des Kiewer Gouvernements ) beweisen, dass diese milesische Kulturwelle weit ins Festland sich ergossen hat; im Gegensatz zu Goldschmuck und Waffen, die

1) Vergl. Iswestia der kaiserl. archäol. Kommission I, 94–103, IV, 136–138, XII, 36—60, XVI, 1–26 und die von Pharmakowsky auf dem Athener archäol. Kongress 1905 besprochenen charakteristischen Goldfunde. (Comptes rendus du Congrès international d'archeologie, Athènes 1905 p. 306: L'archaisme grec et l'Orient).

2) Strabon VII, 306 und 309.

3) E. v. Stern, Die Bedeutung der keramischen Funde in Süd-Russland für die Kulturgeschichte der Schwarzmeerkolonien (russisch). Zapiski der kaiserl. Odessaer Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde. Band XXII (1900), S. 1-21. Vergl. auch Jahrbücher des kaiserl. Deutschen archäol. Institutes 1900. (Julisitzung).

4) Vergl. Iswestia des XIII. archäol. Kongresses in Jekaterinoslaw 1905.

5) Graf A. Bobrinsky, Kurgane bei Smela (russisch). 2 Bände mit vielen Tafeln. 1894.

6) E. v. Stern, Der Einfluss der antiken Kultur auf die Bevölkerung Süd-Russlands ausserhalb der Grenzen der griech. Kolonisation. 324. Sitzungsprotokoll der Odessaer Gesellschaft f. G. und Altertumskunde. Zapiski Band XXIII (1901) S. 11-17 (russisch). 10*

als Kriegsbeute oft weit gewandert sind, lassen diese keramischen Funde auf eine intensive kulturelle Beeinflussung der indigenen Bevölkerung schliessen. Aber noch mehr; es ist mir vergönnt gewesen im Lauf der letzten fünf Jahre an einem Ort, von dem die literarische Ueberlieferung schweigt, auf der dem Dniepr-Bug-Liman vorgelagerten kleinen Insel Berezan eine in ihrem Hauptbestand milesische Niederlassung auszugraben, die historisch und archäologisch um so bedeutsamer ist, als sie nur bis zum Beginn des V. Jahrh. existiert hat und uns daher ohne jegliche spätere Beimischung ein Bild des ältesten Koloniallebens gleichsam in Reinzucht bietet. Die jetzige Insel Berezan hat offenbar ursprünglich mit dem Festland zusammengehangen: der Meeresarm von 5 Kilometer Breite, der jetzt die Insel vom Ufer trennt, ist derart seicht, dass er grösstenteils nur auf einem Flachboot zu passieren ist und auf seinem Grunde finden sich die gleichen antiken Kulturüberreste, wie auf der Insel. Der sanfter zum Meer abfallende nordwestliche Teil des steilen Felseneilands war von der antiken Ansiedlung eingenommen. Es lassen sich deutlich zwei Bauperioden unterscheiden. Die kleinen Häuser der I. Periode sind aus behauenen Steinen, von denen sich 3-5 Reihen erhalten haben, ohne Mörtel errichtet; die Fundamente stehen nicht auf dem gewachsenen Boden, sondern auf einer aus Asche und Lehm gebildeten Zwischen- oder Isolierschicht; die gleiche Bautechnik finden wir bei den ältesten Häusern in Olbia: sie darf wohl speziell ionisch genannt werden. Neben den Häusern befinden sich trichterförmige Abfallgruben, von deren Inhalt sogleich die Rede sein wird, und kreisrunde, in den Fels gehauene Brunnen, deren Wasser, jetzt, nachdem der Meeresdurchbruch sich vollzogen hat, zum Trinken untauglich erscheint. In der zweiten Bauperiode, die nach den Funden höchstens um 50-100 Jahre später liegt, sind die Häusermauern direkt auf der Kulturschicht der früheren Periode aufgeführt; vielfach ziehen sie sich über die zugeschütteten Gruben aus älterer Zeit hin und mussten abgetragen werden, um diese Gruben zu leeren; die Mauern sind wenig sorgfältig aus kleinen Bruchsteinen errichtet, zum Teil mit Lehmmörtel verschmiert; die Lehmdiele ist glatt gestampft, an den Wänden ziehen sich Lehmbänke hin, ganz wie beim heutigen kleinrussischen Bauernhause. Die Brunnen dieser Periode haben eine viereckige Form. Das Interesse des Archäologen und Historikers fesselt natürlich in erster Linie zunächst der Inhalt dieser Abfallgruben und Brunnen. Ausser den Küchenabfällen Austernschalen, Fischgräten, Wirbelknochen und Gebisse immenser Sterlete und Karpfen, Knochen aller Tiergattungen, unter anderen vielfach auch junger Hirsche, die damals in der nicht allzu entfernten Hylaia genügenden Waldschutz hatten sind diese Gruben mit jeglicher Art von Kulturresten angefüllt: Pfeilspitzen, Münzen (die bekannten Olbiaer Fische), Bronce- und Eisengeräten, Beilen, Hämmern, Ankern, Messern, Schleifsteinen, Netzbeschwerern, Angelhaken, Häkelnadeln aus Knochen geschnitzt, Netzstrickern, Spinnwirteln,

Garnwickeln usw. usw., vor Allem aber mit Tongefässen und Vasenscherben. Und nach diesen keramischen Funden können wir Abfallgruben aus drei Perioden unterscheiden. Sie alle enthalten einfache Amphoren verschiedener Form, die ältesten mit reichem dekorativem Ornament versehen, und einfaches schwarz graffitiertes Koch- und Gebrauchsgeschirr, zum Teil auch lokale, ohne Drehscheibe aus schlecht gebranntem Lehm geformte Näpfe mit Wellen- oder Strichornament: Gefässe, wie wir sie früher als charakteristisch für die Skythengräber betrachteten. Weiter enthalten die ältesten Gruben eine Fülle von Naukratisscherben, rhodischer Teller, sogenannte Fikelluraware 1) und Scherben klazomenischer und altmilesischer Gefässe mit wunderbar reichen und schönen Tierfriesen: weidende Steinböcke, Jagdszenen, Löwen, die Stiere oder Hirsche überfallen usw. Auf die Beziehungen dieser Darstellungen zu den von Lehmann-Haupt besprochenen vorarmenischen Funden 2), zu den Münztypen von Tarsos einzugehen und die Frage über die Herkunft und Bedeutung dieser ionischen Keramik zu behandeln, muss ich mir für meine in der Vorbereitung befindliche Publikation über Berezan vorbehalten 3). Zweitens haben wir Gruben, in deren unteren Schichten milesisches Gut, ionische Kyliken (aussen gelb mit geometrischen Ornamenten und stilisierten Wasservögeln, innen rot, schwarz, braun, in den verschiedenen Nuancen, mit drei bis einfarbigem Bandornament) technisch nah der Naukratisware verwandt, wie besonders deutlich eine Spielart dieser Kyliken mit weissem Ueberzug und schwarzer Innenfläche zeigt, sowie korinthische Scherben vorherrschen; weiter oben finden sich schwarzlackierte Schalen und schwarzfigurige attische Scherben. Endlich gibt es Gruben, in denen die samische, rhodische, milesische Keramik fast ganz oder ganz fehlt, und die attische schwarzfigurige Ware prävaliert: sehr vereinzelt finden sich ganz oben in diesen Gruben, wie auch in den viereckigen Brunnen, rotfigurige attische Scherben und Kyliken des strengen Stiles unter ihnen Stücke ersten Ranges: z. B. eine Schale mit kynischem Innenbild und der Beischrift Ιππαρχος καλός.

Nicht minder interessant ist die Nekropole, die zum grössten Teil schon vor mir von Skadowsky aufgedeckt, zum Teil durch Raubgräberei vernichtet war. Meine Beobachtungen lassen sich kurz, wie folgt, zusammenfassen. Die ionische Bevölkerung verbrannte ihre Toten und setzte die Aschenurnen in trichterförmigen Gruben bei, die ganz ähnlich, wie die Abfallgruben konstruiert sind. Der Totenverbrennung muss aber ganz wie wir es aus Homer ersehen eine Periode vorangegangen sein, in der die Ionier ihre Toten

können

1) Nach Boehlau, Nekropolen 52 f., dem Prinz, Funde aus Naukratis, 1908 S. 41 zustimmt, sind die sogenannten Fikelluravasen wohl samischer Herkunft.

2) Lehmann-Haupt, Sitzungsberichte der archäol. Gesellschaft zu Berlin, Sitzung vom 5. Nov. 1907: Archäologisches aus Armenien, S. 27 des Separatabdruckes.

3) Vergl. vorläufig E. v. Stern, Die Ausgrabungen auf der Insel Berezan in den Protokollen der Sitzungsberichte der kaiserl. Odessaer Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde 1905 Nr. 369, 1906 Nr. 377, 1907 Nr. 385 (russisch).

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