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In der Urzeit, auf der primitivsten Stufe, stand zweifellos den Eltern ein unumschränktes Verfügungsrecht über Leben und Tod der kleinen Kinder zu. Man betrachtete ganz naiv das Kind als Frucht und Eigentum der Eltern und fand in Kindestötung wie in Abtreibung des keimenden Wesens nichts. Sündliches, ja Ungehöriges. Man ging soweit, den Kindesmord da zur Sitte zu erheben, wo die Sorge für die Ernährung der Kinder sich geltend machte oder die Arbeitskraft der Frau, die während des Stillens ihren Beschäftigungen entzogen wäre, unentbehrlich erschien. Der Schutz der Neugeborenen und gar des werdenden Lebewesens ist erst das Produkt späterer und verfeinerter Kulturperioden. Man muss auch zugeben, dass eine Übervölkerung bei den Nomadenzügen jener ältesten Kulturperiode zu unmöglichen Konsequenzen hätte führen müssen und daher um jeden Preis zu vermeiden war; uns erscheint dieser Preis freilich als ein Greuel, jene alten Zeiten fassen es als eine naturgemässe Notwendigkeit auf. Sie setzten sich mit eiserner Härte über die Bedenken hinweg, die uns die ersten Gesetze der Menschheit zu gebieten scheinen.

So kann man wie ungeheuerlich es erscheinen mag ruhig sagen, dass der Kindesmord, namentlich an Mädchen 1),

So kommt in den indischen Sagen regelmässig neben mehreren Brüdern eine einzige Schwester vor. (BERNHÖFT in Zeitschrift, Bd. 9, S. 6). Wegen Roms vergleiche DIONYS VON HALIKARNASS II. 15 (ROMULUS habe das Gebot erlassen, alle Söhne und von den Töchtern die erstgeborenen aufzuziehen; dies würde voraussetzen, dass früher mitunter nicht einmal die erstgeborenen verschont waren, und dass später die jüngeren getötet werden konnten). Wegen der slavischen Völker MACIEJOWSKI, slavische Rechtsgeschichte Bd. 2, S. 224; wegen des Kaukasus DARESTE, Lois et coutumes du Caucase im Journal des savants 1893, S. 88. Vergleiche Q. SCHRADER, Sprachvergleichung und Urgeschichte, S. 564. Wegen Athen PLOSS: Das Kind in Brauch und Sitte, Bd. 2, S. 176. Auf den Neu-Hebriden ist der Mädchenmord verbreitet; die Neugeborenen werden lebendig begraben (JUNG, Weltteil Australien, Bd. 3, S. 30). In gleicher Weise verfuhr man vor Annahme der christlichen Lehre auf Tahiti (W. ELLIS, Polynesian Researches, 1830, Bd. 1, S. 340).

eine Rechtseinrichtung der ältesten Völker war. So tötete man gewohnheitsmässig den Säugling, dessen Mutter gestorben war, wenn keine andere Frau zum Stillen bereit und künst liche Ernährung nicht vorhanden ist (bei Australiern, Eskimos, Indianern Nord- und Süd-Amerikas, Hottentotten und Negern 1): dies ist im Grunde nichts anderes, als ein Gnadenstoss, der dem armen, sonst zum Verhungern bestimmten Geschöpf versetzt wird. Ähnlich bei der Geburt von Zwillingen, wenn hier auch abergläubische Gründe häufig mit oder allein wirken 2).

Ebenso schlachtet man die Kinder, als die dem Stamm am wenigsten nützlichen, in Zeiten der Hungersnot3), und soll es sogar vorgekommen sein, dass Kinder von ihren Eltern verzehrt wurden).

Dies Alles kann durch die Not, die alle menschliche Rücksicht und Liebe vernichtende Gewalt schrecklicher Hungerperioden hervorgerufen gedacht werden. Aber dann kommt das Entsetzlichste, dass alles ursprünglich in den Bedürfnissen des Lebens Wurzelnde zur Schablone werden kann, erstarrt und bleibt, weil es war; so sehen wir mit Entsetzen, das durch nichts gemildert werden kann, die systematische Kindestötung bei manchen Völkern (Eskimos, Kamtschadalen, Mexikanern, Papuas u. s. w.) zu einem Gebot erhoben, dem sich jeder, auch wenn kein zwingender Anlass zum Umbringen des kleinen Wesens vorliegt, fügen muss, weil es die Rechtssitte so vorschreibt. Ja, es ist vorgekommen, dass durch diese unsinnige, nur durch den Hang des Menschen am Gewesenen 1) Vergleiche die Nachweise bei FRIEDRICHS in Zeitschrift, Bd. 10, S. 222.

so in

2) Auch die Zwillingstötung ist ein weitverbreiteter Brauch; Kamtschatka, Indochina, Nord- und Südamerika, bei den Malaien, Hottentotten, Negervölkern; vergleiche FRIEDRICHS a. a. O. S. 223, 224.

3) Z. B. bei den Australiern, Eskimos, Kaliforniern, Buschmännern ; FRIEDRICHS a. a. O. S. 224.

4) So bei den alten Wenden, SCHWEBEL, Geschichte der Stadt Berlin, 1888, Bd. 1, S. 26.

und einmal Geübten allenfalls erklärliche Sitte ganze Nationen zum Aussterben gebracht sind 1). Völker, die sich selbst

das Grab graben, weil sie eigensinnig an einem furchtbaren Brauch festhalten!

Bei den Römern wie bei den Germanen stand in alter Zeit das unbedingte Tötungsrecht (jus vitae ac necis) dem Familienvater zu 2). Er durfte unbedenklich sein Kind wie seinen Sklaven töten. Freilich, so weit die geschichtliche Erinnerung zurückreicht, wurde nur selten und nur innerhalb durch die Sitte gezogener Grenzen davon Gebrauch gemacht3) und scheint schon sehr früh in der tatsächlichen Übung auf die Aussetzung neugeborener Kinder beschränkt worden zu sein. Hierbei waren es insbesondere die kleinen Mädchen, denen man von je nicht hold war. Was man in der überwiegenden Zahl brauchte, waren kräftige Arme; wurden statt der erwarteten Söhne Töchter geboren, so gereichte es den armen Wesen oft zum Verderben. So sollte nach der Legende die Mutter des heiligen Ludiger als neugeborenes Kind ertränkt werden, weil ihrem Vater nur Töchter, nicht Söhne geboren wurden1). So galt der Besitz von Töchtern der alten Vedenzeit Indiens

')PLOSS a. a. O. Bd. II, S. 251 ff. Der afrikanische Räuberstamm der Dschagga totete die eigenen Kinder, um sich die Mühe des Aufziehens zu ersparen, und nahm die grösseren Kinder der besiegten und vernichteten Stämme als Nachwuchs in sich auf (SCHURTZ, Altersklassen und Männerbünde, S. 62).

2) Wegen der Gallier vergleiche CAESAR, bell. gall, 6, 19. Bei den Griechen und Römern wurde, offenbar als eine Milderung späterer Zeit, das Recht der Aussetzung von der Anhörung der Ältesten oder der nächsten Nachbarn abhängig gemacht (PLUTARCH, LYKURG c. 16; DIONYS VON HALIKARNASS II, 15).

3) LABAND, in Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Bd. 3, S. 145 ff. KONRAD MAURER, die Bekehrung des norwegischen Stammes zum Christentum, Bd. 1, S. 433, Bd. 2, S. 181.

4) GRIMM, Rechtsaltertümer, S. 458, 459.

als ein »Jammer<'). Und nicht anders war die Anschauung der Griechen), wie der Römer3). Die Aussetzung geschah in der Regel in den Wald (unter einen Baum) oder auf das Wasser in einer Kiste), was auch mit den sagenhaften Überlieferungen anderer Völker (persische Königsgeschichte, Kindheit des MOSES) übereinstimmt.

Ähnliches lässt sich über die ganze Erde nachweisen. Wir hören von ganz denselben Dingen von den alten Arabern aus den Zeiten der Unwissenheit« (vor Mohammed)"), von den Todas in den blauen Bergen des Dekan), wo einer Übervölkerung durch Massenmord der neugeborenen Mädchen vorgebeugt wurde und erst die englische Regierung dagegen einschritt, - und ebenso in verschiedenen Gegenden der indischen Nordwest-Provinzen). Und China ist auch jetzt noch das klassische Land der Kindestötung, obwohl sie auch dort unter Strafe gestellt ist).

1) ZIMMER, altindisches Leben, S. 320.

2) HERMAN BLÜMNER, die griechischen Privataltertümer, S. 282, Anm. 2. 3) MARQUARDT, römische Privataltertümer, 2. Aufl., S. 3, Anm. 1. 4) GRIMM a. a. O., S. 459.

Kindesmord

5) WILKEN, Matriarchat bei den alten Arabern, S. 53: an Mädchen kam bei den alten Arabern mannigfach vor. Man pflegte die Mädchen, sobald sie geboren waren, lebend zu begraben. In Sprichwörtern wird dies als lobenswert bezeichnet. Das Vorausschicken der Mädchen (in den Tod) gehört zu den edlen Taten«, heisst es, oder auch wohl das (lebendig) Begraben der Töchter gehört zu den edlen Handlungen. MOHAMMED schritt dagegen ein, wie es in der 17. Sure des Koran heisst: » Auch tötet eure Kinder nicht aus Sorge vor Verarmung; wir werden sie ernähren und euch selber; traun! ihre Tötung ist ein grosser Frevel,<

6) Zeitschrift, Bd. 9, S. 14, Bd. 12, S. 462; RITTER, Erdkunde, Bd. IV, 1, S. 1035, MARSHALL, A Phrenologist amongst the Todas, S. 193 ff.

7) KOHLER in Zeitschrift, Bd. 11, S. 171. Wegen der Mädchentötung in Indien überhaupt RATZEL, Völkerkunde, 2. Aufl, Bd. 2, S. 593.

8) KOHLER ebenda, Bd. 6, S. 379, Anm. 65; HUBERICH, paternal power in Chinese Law, S. 6.

Und fern weg von diesen Völkern, auf einem Kontinent, der von den übrigen durch einen Ozean geschieden ist, bei den Australnegern finden wir, dass der Kindesmord, insbesondere bei Missgestalten und illegitimen Kindern, noch heute erlaubt ist und auch dann zugelassen wird, wenn die Kinderzahl eine bestimmte Höhe übersteigt. Auch hier wird der Säugling mit der im Wochenbett gestorbenen Mutter begraben1). Also das nicht oder nicht mehr erwünschte Kind ist dem Tode verfallen.

Wir sehen erschüttert, wie in TOLSTOI's »Macht der Finsternis« ein genialer Dichter mit schaudernder Hand den Vorhang zurückschlägt vor einem Bilde des Greuels und Entsetzens, wo das dem Ehebruch entsprossene Kind verscharrt wird, nachdem die abergläubischen Weiber es vor dem Erwürgen mit dem Kreuze des kinderfreundlichen Heilands gesegnet haben was diese Frauen tun, uns Greuel und Schrecknis, ist die tägliche Übung vieler primitiver Völker der Vor- und der Urzeit, ja solcher, die noch heute als unsere Zeitgenossen mit uns leben. Dieselbe Sonne bescheint sie, dieselbe Luft umweht sie, und welch' andere Gedankenwelt!

Dieselben grausamen Sitten finden wir in Polynesien in ganz allgemeinem Gebrauch 2); auf den Radack-Inseln wird. das Drei-Kinder System in der furchtbaren Form geübt, dass keine Mutter mehr als drei Kinder erziehen darf und das vierte und jedes folgende selbst lebendig vergraben muss3). Hiergegen erscheinen die russischen Bauernweiber in dem von der Kultur abgelegenen Dorf, wie TOLSTOI es so packend schildert, noch menschlich; was sagen wir zu einer Mutter, die ihr

1) KOHLER ebenda, Bd. 7, S. 355, Bd. 12, S. 421.

2) Zeitschrift, Bd. 14, S. 436, wegen der Marschall-Insulaner ebenda, Bd. 12, S. 445, wegen Tahiti W. ELLIS, Polynesian Researches, London 1830, Bd. 1, S. 81, 82; 322, 332 ff.

3) KLEMM, Kulturgeschichte, Bd. 4, S. 303.

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