Vorwort. Die Mehrzahl der vorliegenden Aufsätze (S. 1-116) wurde Im Laufe des letzten Jahrzehntes ist die Kant'sche Sitten- und Religionslehre nach ihrem bleibenden Werte wie nach ihren Einseitigkeiten und Unzulänglichkeiten mehrfach ein- gehend behandelt worden (z. B. von A. Dorner, der bleibende Wert der Kant'schen Ethik; Pünjer, die Religionslehre Kant's 1874; Hildebrand, Grundlinien der Vernunftreligion Kant's 1875). Dass die folgenden Ausführungen gleichwohl den An- spruch auf volle Selbständigkeit der Darstellung wie der Die seit hundert Jahren über Kant's Ethik und Vernunft- religion speciell von theologischer Seite abgegebenen Urteile - als Anwalt der altlutherischen Orthodoxie, als Vertreter Allen solchen Rubricierungsversuchen gegenüber hat sich Kant von vornherein seine eigene und einzigartige Stellung angewiesen (Relig. innerhalb d. Grenzen d. Vernunft 231 f. XV ff.): es ist die des reinen Rationalismus. Ihm gemäss erklärt Kant die (natürliche) Religion für moralisch notwendig und für Pflicht; er verneint nicht schlechthin, wie die Naturalisten, alle übernatürliche, göttliche Offenbarung; er lässt sie vielmehr zu, behauptet aber, dass sie zu kennen und für wirklich anzunehmen, zur Religion nicht notwendig erfordert werde". Die nachfolgende Kritik geht so viel als möglich auf diesen von Kant selbst präcisierten Standpunkt ein. Vielfach, so am Anfang und am Ende, ist das grosse Verdienst nachdrücklich hervorgehoben, das sich Kant (ähnlich wie Lessing) durch die energische Betonuug und Vertretung des ethischen Interesses (gegenüber einem nur formalistischen Dogmatismus) auch um die evangelische Theologie erworben hat. Freilich war trotzdem der Kant'sche „reine Rationalismus“ in den meisten religiös-sittlichen Fragen als unhaltbar, als ungenügend zu bezeichnen: sofern vielfach von Kant aus unsicheren Prämissen zu viel gefolgert oder die petitio principii an Stelle des logischen und sachlichen Beweises gesetzt worden ist; oftmals hat Kant das Evangelium irrig gedeutet, fast durchweg hat er die sittliche Tendenz der evangelischen Hauptlehren und Hauptthatsachen verkannt, und doch hat er für seine „Vernunftreligion" der göttlichen μopía des Evangeliums nicht entraten können. Auch „,innerhalb der Grenzen" der Vernunft drängt sich ihm so manches Irrationale und Geheimnisvolle auf, das auch von seinem engen Begriffe der „Religion" sich nicht will fern halten lassen und das er nur aus der christlichen Offenbarungsreligion herüber genommen hat. Jene Grenzbestimmung innerhalb der Vernunftbegriffe" schädigt und verkümmert den Lebensnerv der wahren, vollen Religion: denn die |