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gewöhnlichen Menschenart. Alle Menschen aller Zeiten sind hier vor einen absolut treuen Spiegel gestellt und Jeder liest für sich darin das Urtheil: Du bist der Mann!

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Erstens das Volk. Jesus wendete sich an's Volk, ohne Unterschied des Standes, an Alle. Sein Evangelium ist für alles Volk, denn es appellirt an das allen Menschen Gemeinsame, ihr Herz, Gefühl, Gewissen. Eine Freude allem Volk sollte die Botschaft sein von der Bestimmung jedes Menschen zum Kinde Gottes, von dem freien Zutritt jeder Seele zum Thron der himmlischen Gnade und von der Vereinigung aller Gotteskinder im großen Bruderbund des Reiches Gottes. In Galiläa droben fühlte das Volk, welch' eine Erlösung in dieser neuen Lehre verborgen liege, denn das Volk drängte sich mit Ungestüm um Jesus, lief ihm nach in Schaaren bis in die einsamen Orte und wollte ihn zum Könige machen. Der große Umschwung trat erst zu Jerusalem, im Angesicht des Tempels und der Priesterschaft ein. Hier lebte ein ganz anderes Volk, als auf dem Lande. Dieses Stadtvolk urtheilte nicht mehr frei mit dem von Gott empfangenen Verstand und Gewissen, sondern war ein Werkzeug in der Hand weniger Führer. Hier gibt der Wille der Priester den Ausschlag, was den Tempelbesuch und die Kirchenfeste mit all' der sich daran hängenden Industrie hebt und vergrößert. Die kleine Schaar Derer, welche Jesum in diese Stadt begleitet hatten, drang nicht durch mit dem „Hosiannah, Davids Sohn“. Diese glaubensvolle, schwärmerische Huldigung schlug zu seinem Verderben um. Denn sobald von der Priesterschaft die Parole ausgetheilt wurde, daß dieser Galiläer ein falscher Prophet und daß durch ihn der Glaube der Väter und der Fortbestand des Tempels und die Ehre des auserwählten Volkes in Gefahr sei, alsobald war bei diesem von der Priesterschaft völlig abhängigen Volk die Sache entschieden. Aus den Häusern durch alle Gassenwuchs stromartig die künstlich arrangirte Bewegung gegen den, der Gott und Mose gelästert habe und den Tempel abbrechen wolle. Da wurde es zu einem Kennzeichen der „guten Gesinnung“, recht laut und möglichst verächtlich von ihm zu reden und schon das Schweigen machte verdächtig. Zum Thron des römischen Landpflegers drängt fluthartig die Petition, daß er zum Schutz der gefährdeten Religion den weltlichen Arm erhebe: „Gib uns Barrabas los und kreuzige diesen! Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" So handelte das Kirchenvolk zu Jerusalem. Und wer die Geschichte anderer tiefgreifender Bewegungen kennt, in welchen neue Fortschritte und Offenbarungen rangen mit alten Gewohnheiten und Ueberlieferungen, der weiß, wie oft das Volk und die große Masse blinden Führern gefolgt ist, seien diese Führer nun Priester oder Laien oder gar Feinde aller Priester

gewesen. Es gibt kein Volk auf der Erde, das nicht auch schon dem Volk zu Jerusalem glich im blinden Widerstand und Wüthen gegen eine von ihm unverstandene oder ihm unbequeme Wahrheit, keines, zu dem der Geist der Wahrheit nicht zu Zeiten sagen müßte: Du bist das Volk in der Leidensgeschichte Jesu, du bist der Mann !

Zweitens die Priester und Schriftgelehrten. Es ist ein merkwürdiges Zeugniß der Schrift, daß kein Oberster in Israel an Jesus glaubte und daß ein Nikodemus nur heimlich bei der Nacht ihn aufzusuchen gewagt hat. Wir dürfen aber deßwegen nicht in den großen Fehler verfallen, sie allesammt der Heuchelei oder sonst einer niedern Gesinnung anzuklagen. Bei gewissenhafter Prüfung aller Berichte aus jener Zeit muß man durchaus die Möglichkeit anerkennen, daß sie Jesum ganz aufrichtig für einen Zer= störer der Frömmigkeit und guten Sitte hielten. Denn eine Decke lag auf ihren Augen. Sie sahen eben nur eine Form der Gottesverehrung für berechtigt an, die von den Vätern überlieferte; hielten nur ein Glaubensbekenntniß für seligmachend, das ihrige; kannten nur einen Weg zur Versöhnung des sündigen Menschen mit dem heiligen Gott, den Weg durch ihre gewohnten Opfer in ihrem Tempel. Gerade das nun stellte Christus mit seinem alle Menschen umfassenden, großen Evangelium von der Gnade Gottes gegen jedes Menschenherz an jedem Ort in Frage. Das genügte. Eine Religion ohne ihren Tempel, ein Glaube ohne ihre Formeln, eine Frömmigkeit ohne ihre Ceremonien, eine Sittlichkeit ohne ihre Dogmatik, eine Liebe zu Gott und den Menschen ohne ihre festen, kirchlichen Saßungen, eine Erlösung ohne ihre messianischen Vorstellungen, das war in ihren Augen nur ein Baum ohne Wurzel, ein löcherichter Brunnen ohne Wasser, ein Frrlicht und ein Betrug. Hier schien ihnen besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe. Und bei diesem Rettungswerk dessen, was sie für die alleinseligmachende Wahrheit hielten, schien ihnen jedes Mittel geheiligt durch den guten, Gott wohlgefälligen Zweck. Darum wundere dich nicht über die List, zu der sie greifen, verstehe die Angst, in der sie Jesu Wort theils mißverstehen und theils absichtlich verdrehen, entseze dich nicht über die falschen Zeugen, welche sie aufstellen, ärgere dich nicht, daß sie schließlich Den als einen Empörer gegen die staatliche Ordnung verdächtigen, welchem nur die Heiligung des Namens Gottes und die sittliche Erlösung aus der Knechtschaft der Sünde und der große Liebes- und Friedensbund zwischen allen Menschen und Völkern am Herzen lag. Es ergibt sich Alles so natürlich, ja naturnothwendig aus dem einzigen, verhängnißvollen Frrthum, die religiöse Wahrheit allein und ausschließlich zu befizen in unabänderlich festen, von Gott selber gegebenen Formen. Und wo

irgendwo unter dem großen Dach des Himmels eine alte oder neue, eine große oder kleine Kirche auf den gleichen, fundamentalen Irrthum gebaut ist, da wirst du ihre überzeugten Anhänger und vor Allem ihre Priesterund Dienerschaft auf dem ganz gleichen Wege, ganz der gleichen Handlungsweise und kirchlichen Agitation ertappen, wie bei der Kreuzigung Jesu in der Tempelstadt Jerusalems. Der Geist der Wahrheit spricht: Du bist die Priesterschaft, die den Herrn Jesum getödtet hat Du bist der Mann !

Drittens der Landpfleger Pilatus. Hätte der Mann den Herrn Jesum wirklich einmal und mit Ernst angehört, ich glaube, er hätte Etwas fühlen müssen von der königlichen Hohheit des Evangeliums. Dieses Evangelium Jesu war ja so frei von all' dem abergläubigen Formenkram, der die pharisäische Frömmigkeit jedem gebildeten Römer so widerwärtig machte. Durch die Seele der damaligen Heidenwelt ging ein so tiefes Sehnen nach einem glaubwürdigen, lebendigen Gott, einem väterlichen Tröster des von der Weltlust unbefriedigten Herzens. Auf das Wort Jesu, daß die ganze Welt nichts hilft Dem, der Schaden an der Seele genommen hat, würde in der Brust des Pilatus eine Stimme geantwortet haben: Ja, du haft Recht, ich fühl' es! Nun blieb aber dieses Evangelium Jesu diesem Pilatus eine verborgene Welt. Er sah Jesum zum ersten Mal, als diesem schon das Todesurtheil gesprochen war vom hohen Kirchenrath. Wohl sieht der Römer einen blassen Schein der Wahrheit auf dem Gesicht des Angeklagten und sein Weib läßt ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten. Aber Pilatus ist kein freier Mann mehr. Amt und Stellung drängen ihn zu einer Handlung, der sein Gewissen und Rechtsgefühl laut widerspricht. Er muß regieren und um Israel zu regieren braucht er den guten Willen der Obersten in Israel. Sind diese gegen ihn, so ist es das Volk auch und seine Stellung ist unhaltbar. Er verachtet die Priesterschaft, aber er muß ihr den Willen thun. Es ist kein Funke von Ehrfurcht und Zustimmung für ihren Glauben in seiner Seele, aber die Rücksicht auf Amt und Brod erniedrigt ihn doch zu ihrem Werkzeug. Und nun rechtfertigt er sich vor sich selbst damit, daß man ja doch nicht wissen könne, auf welcher Seite die Wahrheit liege, gibt Jesum zur Kreuzigung preis und wascht seine Hände in Unschuld. So schlingt sich das Band zwischen Aberglaube und Unglaube um das Kreuz, wie um einen Altar, auf welchem der Zeuge der Wahrheit verzehrt wird. Schau' in die Weltgeschichte hinein und in all' ihre großen Kämpfe bis herab auf die Gegenwart: die Aufgeklärten, die nichts glauben, deren Gott die Welt, der Erfolg und Gewinn dieser Welt ist, haben immer diese tragische Pi

latusrolle gespielt.

Sie

stellten sich nie auf die Seite des Kreuzes, der Gefahr und Verfolgung. Ihre Losung war immer die, jeder Unannehmlichkeit aus dem Wege zu gehen und mit dem Strome zu schwimmen. Und zu all' diesen klugen Weltleuten spricht der Geist der Wahrheit: Du bist der ungerechte Richter in einer heiligen Sache Du bist der Mann!

Viertens die Kriegsknechte. Von ihnen heißt es: wie der Herr so der Knecht und wie der Hirt so die Heerde. Sie üben einfach ihr Handwerk aus, thun das, wozu sie angestellt und wofür sie bezahlt sind. Wie sie Jesus auskleiden, ihm die Dornenkrone aufseßen, ihn an's Kreuz hinaufheben, anbinden und annageln und dann sich theilen in seinen armseligen Nachlaß, so thäten sie mit gleicher Fertigkeit und gleicher Gefühllosigkeit an einem Jeden, den ihnen die rechtmäßigen Vorgesetzten zur Exekution ausliefern würden. Sie sind zur Untersuchung von Recht und Unrecht nicht da, wer verurtheilt ist, den greifen sie kurz, und wer sie bezahlt, dem ge= hören sie an. Weß Brod ich eß', deß Lied ich sing, ist ihre Richtschnur und damit Punktum. Wer will sie verdammen? Ich nicht. Wenn Pilatus seine Landpflegerstelle und wenn der Hohepriester sein Ansehen vertheidigt gegen den Unruhestifter, so gehört ihnen ihr Taglohn, das Stück Kupfer, ebenso gut. O, denke nicht zu gering und verächtlich von den kleinen. schwachen Leuten aus dem sogenannten Pöbel, welche für gar nichts ein Herz haben, was nicht die Verbesserung ihrer materiellen Lage und einen handgreiflichen Gewinn abwirft. Das Beispiel dazu wird ihnen zu oft und viel von oben gegeben. An der groben und massiven Selbstsucht der untern Klassen trägt die feine und raffinirte Selbstsucht der obern Zehntausend die Hauptschuld. Es ist eine große gemeinsame Schuld, daß unzähligen Menschen der Geist der Wahrheit sagen muß: Du bist an Gesinnung gleich den rohen Kreuzsoldaten Du bist der Mann!

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Fünftens die Jünger. Auch sie, von denen wir geneigt sind, das Beste zu halten, wurden in der Stunde der Sichtung allesammt schwach. Sie können in Gethsemane nicht eine Stunde wachen. Nachdem sie soeben versprachen, sie wollten mit dem Meister sterben, fliehen sie Alle. Derjenige, welcher sich dabei vermessen, er wollte, wenn Alle untreu würden, ganz allein Stand halten, verleugnet seinen Herrn am lautesten und ein Anderer, welcher kaum noch am Tisch mit seinem Herrn gesessen, verkauft ihn. Juden und Heiden haben von jeher voll Hohn den Finger auf diese Stelle der Leidensgeschichte gelegt und gemeint, es müsse mit dem Meister selbst nicht viel gewesen sein, da er von seinen Nächsten so schmählich im Stich gelassen worden sei. Und das zulezt geschriebene Evangelium Johannes, sagen sie, müsse selber diese Schmach empfunden haben, da es

wenigstens den Jünger Johannes mit der Mutter Jesu unter dem Kreuz ausharren läßt. Aber wir möchten die offenkundige Schwachheit der Jünger auf keine Weise abschwächen. Die ihnen auferlegte Probe war so furchtbar schwer, das Erwachen aus ihrem Traum eines baldigen Messiasreiches irdischer Art mußte ihnen so überaus bitter sein, daß wir ihre namenlose Bestürzung vollkommen begreifen und wer darf behaupten, daß er an ihrer Stelle stärker gewesen wäre? Es ist leicht, in Tagen des Glücks Gott zu vertrauen, im Sturm des Unglücks ging auch einem Hiob Glaube und Geduld aus. Es ist keine Tugend, der Wahrheit anzuhangen, wenn sie Mehrheit, Macht und Erfolg für sich hat, aber wenn Machthaber, Kapitalisten und die ganze vornehme Welt eine Wahrheit hassen und sich zu ihrer Unterdrückung verbünden, pflegt das Häuflein der Getreuen sehr zusammen zu schwinden und manch ein Vorlauter wird nicht mehr gesehen. Es braucht kein edles Herz, um da wieder zu lieben, woher es Liebe empfängt, aber Die segnen, welche uns beleidigen, macht dem himmlischen Vater gleich, und in dieser Probe lassen sich sonst edle Herzen bekanntlich sehr schwach finden. Der beschämende Abfall in den Reihen der eigenen Jünger ist von den Evangelisten gewiß nicht blos erfunden worden, um den Zaghaften in der verfolgten Christengemeinde als warnendes Exempel zu dienen, er hat die psychologische Wahrheit und das Zeugniß der Geschichte und die Stimme des Menschenherzens für sich. Wer aufrichtig ist, wird von den vielversprechenden und wenig haltenden, den schlafenden, fliehenden, feigen, treulosen Jüngern der Leidensgeschichte bekennen müssen, daß sie aus dem Leben geschnitten sind, wie es war und ist und bleiben wird : Du bist der Mann!

Bei diesem demüthigen Zugeständniß bleibt man desto ehrfurchtsvoller und dankbarer vor dem Gekreuzigten stehen, der, was menschliche Schwachheit nur immer verbrechen kann, getragen, innerlich überwunden, im tiefsten Sinn des Wortes gefühnt und zur Ehre Gottes gewendet hat.

Du bist der Mann, der meine Schuld will büßen

Am blut'gen Marterholz,

Du bist der Mann, dir werf' ich mich zu Füßen,
Dahin ist all' mein Stolz!

Herr, heile mich von meinem Sündenschaden,
Herr, stärke mich mit deinem Geist der Gnaden!
Du, der am Kreuz den großen Sieg gewann,
Du bist der Mann!

(Gerock.)

A.

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