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Fünfter Jahrgang.

No 40. Samstag, 7. Oktober 1882.

Schweizerisches Proteftantenblatt

Herausgeber:

Pfr. A. Altherr und E. Linder in Basel, Pfr. Bion in Zürich.

Wir sollen nur nicht in Sinn nehmen, daß der heilige Geist gebunden
sei an Jerusalem, Rom, Wittenberg oder Basel, an deine oder eine andere
Person. In Christo allein ist die Fülle der Gnade und Wahrheit.
Decolampad an Luther.

Erscheint jeden Samstag. Man abonnirt auf jedem Postamt der Schweiz und des Auslandes. Preis halbjährlich franko zugesandt 2 Fr. Wer das Blatt in Basel gratis erhalten will, kann dasselbe in der Buchdruckerei J. Frehner, Steinenvorst. 12, abholen.

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Das Armenwesen der Reformation.

Unter diesem Titel hat unlängst Pfr. B. Riggenbach in Basel eine interessante Studie veröffentlicht, auf die wir um so lieber aufmerksam machen, als dieser Gegenstand -die sozialen Bestrebungen der Reformatoren bisher noch sehr wenig in's Auge gefaßt und durchforscht worden sind. Man pflegte die Wirksamkeit und die Leistungen einer kirchlichen Gemeinschaft, sei es nun einer alten oder einer modernen, fast blos auf dem Gebiete der Lehre und des Kultus zu suchen und übersah es bisher in der Regel, daß zur Pflicht einer religiösen Gemeinschaft auch die Organisation der praktischen Liebesthätigkeit gehöre. In Wirklichkeit haben aber sowohl die katholische wie die protestantische Kirche zur sozialen Frage ihre ganz bestimmte Stellung eingenommen, freilich in sehr verschiedener Weise. Und eben den Unterschied zwischen den beiden zu beobachten, ist höchst interessant.

Anknüpfend an ein von dem Basler Drucker Gengenbach verfaßtes und im Jahre 1509 gedrucktes Buch, welches das zur Landplage gewordene Bettlerunwesen beschreibt, schildert R. zunächst das Verhalten der katholischen Kirche zur Armenfrage.

„Es wäre ein großer Irrthum, wollte Einer aus dem Vorhandensein der damaligen abnormen Bettelhaftigkeit den Schluß ziehen, es habe im Mittelalter an christlicher Nächstenliebe oder doch wenigstens an großartiger Bethätigung derselben gefehlt. Im Gegentheil! Große Freundlichkeit gegen die Armen ist einer der hervortretendsten Charakterzüge des Mittelalters, und sehr Vieles von dem, was heute zur Linderung der vielgestaltigen Noth und zum Wohle der unbemittelten Volksklassen geschieht, ist lediglich eine Fortsetzung der im Mittelalter und zwar sofort auf umfassendster Grundlage begonnenen Liebesthätigkeit. Wenn wir auch nur oberflächlich und blos in der lokalen Geschichte des Mittelalters uns umsehen, so treten uns eine Fülle der erquickendsten Bilder entgegen: in und vor den Städten Spitäler für Alte und Kranke und Elendenherbergen für Fremde, an den großen Heerstraßen Asyle für Pilger und Siechenhäuser für Aussäßige und

sogenannte „Französische“, an jeder Klosterpforte Freitisch, Muß und Brot für die Armen, dazu tausenderlei einzelne Vergabungen für Badekuren, für Verbesserung der Spitalkost, für Geld und Naturalgaben an Bedürftige, bis hinaus zu der Stiftung jenes Coblenzer Bürgers, jedem armen Wanderer, der über die Moselbrücke gehe, einen Trunk Weins zu reichen!"

Diese mittelalterliche Wohlthätigkeit mag nun leicht den Schein erwecken, als sei es in jenen Zeiten gerade so gut bestellt gewesen wie jezt, und man könnte auf den Gedanken kommen, es gebe überhaupt keinen Fortschritt in dieser Sache. Sieht man aber an den Sinn und Geist dieser Art von Wohlthätigkeit, auf die Gedanken und Grundsäße, von welchen die mittelalterliche Liebesthätigkeit geleitet war, so gewinnt die Sache ein anderes Aussehen. Von einem eigentlichen „Armenwesen des Mittelalters", sagt R., kann durchaus nicht die Rede sein. „Was man unter dem Wort Armenwesen“ versteht, nämlich geordnete Veranstaltungen, die Armuth zu verhindern, zu beseitigen, einzuschränken, kennt das Mittelalter gar nicht." Warum? Wir finden die beste Antwort in dem kurzen Sah aus Luthers Erklärung der Genesis: „Die Papisten machen aus Bettelwerk Gottesdienst!“

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In einer Kirche, welche die Weltflucht und Weltverachtung als größte Christenpflicht predigt und Diejenigen als besonders heilig preist, welche das Gelübde der Armuth auf sich nehmen, in einer Kirche, wo die Mitglieder der Bettelorden sich eines besondern Ansehens erfreuten, konnte die Armuth nicht als ein Unglück, sondern nur als ein Verdienst gelten, und dagegen: nach Besitz und Vermögen, nach selbständiger, unabhängiger Existenz zu streben ist weltlich. Somit konnte keine Rede sein von einer Bekämpfung des Bettlerthums, im Gegentheil, je mehr Bettler, desto mehr Heilige. Und weil im Weitern das Almosengeben ein verdienstliches Werk war, womit man sich Sündenvergebung erwirbt und kräftige Fürbitter schafft, so hatte es keinen Sinn, die Gelegenheiten dazu zu beschränken.

„Dieser selbstsüchtigen Auffassung des Gebens entspricht in der mittelalterlichen Denkweise eine ebenso unevangelische Stellung des Empfängers. Der Arme wird nicht veranlaßt, durch Arbeit sich zu einer selbständigen Existenz emporzuschwingen und sein eigenes Brot zu essen; denn kein Eigenthum zu haben ist sittlich absolut besser, als eines zu haben. Bettler sein ist ein Stand wie ein anderer; ja eigentlich ein höherer Stand, entschieden höher als die vulgäre Thätigkeit Dessen, der nur eben für seinen und der Seinigen Lebensunterhalt arbeitet."

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Das war die mittelalterliche Betrachtung des Armenwesens. So lange eine allgewaltige Kirche Gott und alle Heiligen zu Bettlern machte, und so den schamlosesten Bettel theoretisch und praktisch sanktionirte, konnte an eine geordnete Armenpflege und an eine Hebung der sozialen Mißverhältnisse nicht gedacht werden."

Ganz anders faßte nun die Reformation die Angelegenheit auf und an. Sie bestritt keineswegs die Pflicht, Barmherzigkeit zu üben, im Gegentheil betonen alle Armenordnungen der Reformationszeit dieselbe ernstlich und dringlich. Aber sie haben von vorneherein einen ganz andern Zweck im Auge, nämlich eben den, die Armuth zu lindern, den Bedürftigen sittlich

zu heben und zur Selbstthätigkeit zu erziehen und damit eben die Arbeit wieder als sittliche Pflicht zur Geltung zu bringen. Die genannte Schrift zählt eine reiche Reihe von Armenordnungen auf, welche alle diesen Charakter an sich tragen und beweisen, daß der Sinn und Geist der protestan= tischen Liebesthätigkeit ein ganz anderer war, als derjenige der katholischen, daß es sich dort um einen organisirten Kampf gegen die nicht mehr als Verdienst, sondern als Uebel angesehene Armuth handelte, daß erst die reformatorische Kirche eine wirkliche Armenpflege" ausgebildet hat.

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Es ist nicht nur zur Vergleichung mit dem Mittelalter, sondern auch zu einer solchen mit dem Armenwesen der Gegenwart interessant, die Hauptpunkte dieser Armenordnungen in's Auge zu fassen.

Vor allem andern steht in erster Linie das Verbot des Bettels. Schon die Sprache zeichnet die ganz neue Auffassung der Sache. „Die faulfressenden, muthwilligen Bettler, die nicht arbeiten und doch immer fressen wollen, sollen ernstlich bestraft werden; denn dieselben nehmen mit Lug und Trug den andern rechten Armen, die bei uns wohnen, das Brot, so ihnen gottselige Leute geben würden, vor dem Maul hinweg." Allgemein wird verfügt, daß fremde Bettler ausgewiesen werden; den armen Durchreisenden soll zwar werden, „was ihnen gehört", aber sie sollen im nächsten halben Jahre nicht wieder kommen. Alle fremden Kranken sollen behandelt werden wie Einheimische; man soll sie ansehen als solche, die „Gott selbst in ihrer Noth uns zu besorgen übergeben". Arbeitsfähige Bettler sollen schon an der Grenze zurückgewiesen werden. Die schon vorhandenen sollen zu nützlicher Arbeit angehalten werden, die Männer bei öffentlichen Bauten, die Frauen, sofern sie nicht kleine Kinder oder kranke Angehörige zu besorgen haben, zu Kranken- und Waisenpflege.

Ein zweiter Grundsatz des reformatorischen Armenwesens ist die Gestaltung der Armenpflege als einer Gemeindesache, natürlich ohne die individuelle Liebesthätigkeit damit auszuschließen. Daher entstehen nun die Gemeindearmenkassen, die „gemeynen Kasten“, welchen alle kirchlichen Einnahmen zugewendet werden sollen, aus welchen aber auch die kirchlichen Besoldungen und Verwaltungskosten bestritten wurden. Für den Fall, daß die vorhandenen Gelder zur Armenunterstüßung nicht ausreichen sollten, werden Armensteuern (an einem Ort sogar eine Progressivsteuer) bestimmt. Zur Verwaltung der Gelder wurde eine eigene Behörde erwählt, welcher die Pflicht jährlicher und pünktlicher Rechnungsablage auferlegt war. Zur Aeufnung des Vermögens wurde der „Geldstock" oder „Tröglein“ eingeführt und dringend zu Vermächtnissen und Schenkungen, besonders bei Hochzeiten und Leichenbegängnissen, aufgefordert.

In der Auswahl der Unterstügungsbedürftigen stellen die Armenordnungen durchaus richtige und von wahrhaft christlichem Sinn zeugende Bestimmungen auf. Der Unterstüßung werth hielt man im Allgemeinen „alle frommen, ehrbaren, hausarmen Leute, die all ihr tag gewercht, ge= worben und sich mit ehren gern ernehrt hätten, die das ihre nicht üppiglich verthan, verspielt noch verpraßt haben, sondern, und vielleicht aus Verhenknuß Gottes, durch Krieg, Brunst, Theure, Zufäll, Viele der Kinder, große Krankheiten, alters oder Unvermeglichkeit halber sich nicht mehr er=

nehren noch arbeiten können, und von ihren Freunden mit Hülfe verlassen werden." Eine damals ganz wohl angebrachte, im Verlauf der Zeit aber doch gefährlich gewordene Bestimmung war die, daß diese Almosengenössigen müßten ihren Katechismus hersagen können und das Wort Gottes fleißig hören. Es handelte sich damals um die Unterstügung von protestantischen Glaubensbrüdern; heutzutage möchte es wohl nicht mehr am Plaze sein, die Unterstützung von fleißigem Kirchenbesuch oder vom Glaubensbekenntniß abhängig zu machen.

Besonders einläßlich beschäftigen sich die Armenordnungen der Reformation mit der Aufgabe der Armenerziehung. Die einschlägigen Bestimmungen beweisen, daß es mit dem Kampf gegen die Armuth selbst und mit der Hebung des Bedürftigen aus seinem sittlichen Elend vollständig Ernst gemeint war. Namentlich sollten arme und begabte Kinder in ihrer Schulbildung unterstüßt oder behufs Erlernung eines Handwerks oder der Haushaltungsarbeit arme Knaben bei Handwerkern, Bauern, Mädchen in rechtschaffenen Familien untergebracht, oder arme ehrbare Töchter und unbemittelte junge Wittwen mit einer ziemlichen Steuer zum Ehestand berathen werden. Ja auch über das Kindesalter hinaus erstreckte sich die Fürsorge der Gemeinde, indem bestimmt wurde: "Jungen Eheleuten und Handwerksanfängern, die sich mit Gott und Ehren durchbringen möchten, denen es aber an ausreichendem Anlagekapital gebricht, oder die noch nicht genug Kundsame haben, um ihr Handwerk ohne Hilfe ununterbrochen betreiben zu können, ferner Bauern, welchen um der hohen Wucherzinse willen der Nothverkauf droht, soll der Armenkasten, ohne zu warten bis es zu spät und das Dach eingestürzt ist, entweder unverzinslich oder doch nicht höher als vier vom Hundert das Nöthige leihen.“

Endlich befaßten sich die reformatorischen Armenordnungen mit be= fonderer Liebe auch mit den armen Kranken. Die vorhandenen Spitäler wurden verbessert und reorganisirt, überhaupt erst jezt als Heilanstalten erklärt. Wir treffen da alle die Gedanken schon, die heute unsere Krankenpflege leiten: die Verpflegung armer Dienstboten auf Kosten des Armenkastens, die Absonderung ansteckender Kranker in besondern Häusern, und lezteres nicht blos um der Gesunden, sondern auch um der Kranken selbst willen, deren Heilung dadurch eher möglich wurde; die Besorgung armer Wöchnerinnen durch von der Armenpflege bezahlte Hebammen; die An= stellung von Armenärzten (wobei sogar 1521 der Vorschlag auftauchte, alle Aerzte vom Staate zu besolden, damit sie zu Jedermanns Dienst, ohne besondern Sold, in gleicher Weise willig und bereit wären“). Endlich sorgte man auch nach dem Tode des Armen wenigstens für einen Sarg und eine anständige Beerdigung. (Schluß folgt.)

Noch einmal von Bikius.

Wir können es nicht lassen, wieder von dem merkwürdigen und seltenen Mann zu reden, über dem sich am 22. September das Grab_schloß. Innerhalb und außerhalb der Schweiz sezt sich in zahlreichen Kreisen, wo

Wenige oder Viele versammelt sind, das Nachdenken darüber fort, was die Kirche und das Vaterland an ihm verloren. Es ist uns noch an keinem Todesfall so klar geworden, daß im Tod eines großen Menschen der Anfang seiner Auferstehung liegt. Natürlich seßt es dabei auch einzelne schiefe Beurtheilungen ab. Solche, die ihn nie erkannt, meinten, er würde in späteren Jahren von der radikalen Partei sich abgewendet haben. Andere wollen ihm vorwerfen, ihm, dem unerbittlichsten Feind alles Schlechten, er habe zu wenig gegen die Sünde zur Buße gerufen. Dritte behaupten sogar, er hätte nicht genug den Werth des religiösen Jnnenlebens betont. Betont? Soll das heißen viel reden, schwagen? Es ist wahr, er hat nicht gern, nicht viel, immer nur von der Sache und von der Noth gedrungen geredet; er hat weniger als Andere geredet von religiöser Tiefe, Gluth, Innigkeit, aber er hatte wie selten Einer Tiefe, Gluth, Innerlichkeit. Wenn irgend Jemand vom Herzen heraus lebte, so war er es; wenn irgend Einer auf Formeln und Schlagwörter und Phrasen nichts gab, sondern überall auf die Quelle des Lebens, die Gesinnung, die Sache, auf das Selbstdenken, Selbstempfinden, Selbsterfahren und Selbsterringen drang, so war wieder er es. Er war freisinnig, nicht nur im Allgemeinen und überhaupt, sondern bis auf die Wurzel und in jeder einzelnen Frage, aber alle bloße Freisinnigkeit in Schlagworten und Phrasen war ihm zuwider. Er war ein Reformer, nicht ein Viertels- und Achtel-Reformer, sondern ein ganzer Reformer, nicht blos theologisch ein bischen aufgeklärt, sondern ein unerbittlicher Dränger nach Reformen im gesammten politischen und sozialen Leben, aber wer sich mit dem bloßen Namen begnügte und auf äußerlichen Reformsiegen ausruhte, der hatte ihn zum Gegner. Er war ein Demokrat, von unendlichem Glauben, daß sich das Volk der weitgehendsten Rechte würdig erweise, aber wer als Glied des Volkes unten oder oben seiner Pflichten vergaß, der bekam seinen heiligen Zorn zu fühlen. Er hat nach außen gearbeitet, das Christenthum in alles Leben hineinarbeiten wollen, reale weltliche Dinge, wie Gesetzgebung, Fabrikwesen, Schulwesen, Sanitätswesen, Steuerwesen, haben ihn zeitlebens beschäftigt; aber er hat diese Dinge alle an ihrer tiefsten religiösen und sittlichen Wurzel angefaßt, sein Nachdenken darüber bildete die ewige Anbetung seiner Seele Tag und Nacht. Er ist ein Kämpfer gewesen, rücksichtslos, furchtlos, bis auf's Mark des Gegners Sache und, wo es Noth that, auch den Gegner treffend, ein Kämpfer auch da, wo Andere fürchteten, zauderten, warnten, fröhlich und selig im Kampf, auch wenn er allein stand, lieber in einer zielbewußten Minderheit, als bei einer übermüthigen Mehrheit; aber ein oberflächliches Verdammen der Gegner und ihrer Sache war ihm zuwider wie Sünde am heiligen Geist, er verstand auch das relative Recht der gegnerischen Ueberzeugung und der Gegner war ihm nie Feind; wenn er Jemand bis auf's Mark traf und er sah ihn darauf in's Wasser fallen, so sprang er ihm als der Erste nach und zog ihn heraus, nicht weil es die Bibel so befiehlt oder weil es sich schön ausmacht, wenn's in der Zeitung steht, sondern weil er fühlte: es wäre schad um diesen Menschen, sogar um diesen Menschen schade! So war Bizius, weil er ganz von Innen heraus lebte, ein im tiefsten Wortsinn frommer Mensch, ein Gottes

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