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Fünfter Jahrgang.

No 44. Samstag, 4. November 1882.

Schweizerisches Proteftantenblatt

Herausgeber:

Pfr. A. Altherr und E. Linder in Basel, Pfr. Bion in Zürich.

Wir sollen nur nicht in Sinn nehmen, daß der heilige Geist gebunden
sei an Jerusalem, Rom, Wittenberg oder Basel, an deine oder eine andere
Person. In Christo allein ist die Fülle der Gnade und Wahrheit.
Oecolampad an Suther.

Erscheint jeden Samstag. Man abonnirt auf jedem Postamt der Schweiz und des Auslandes. Preis halbjährlich franko zugesandt 2 Fr. Wer das Blatt in Basel gratis erhalten will, kann dasselbe in der Buchdruckerei J. Frehner, Steinenvorst. 12, abholen.

Die „Erweckungen“ in Basel dauern fort.

Der große Vereinshaussaal wird jeden Abend gefüllt, oft daß kein Stehplaß mehr zu haben ist. An Stelle der Schaaren, welche anfangs die Neugier hintrieb, kommen jezt mehr und mehr bloß noch die Zuverlässigen, und die sich von diesen hinziehen lassen. Die Propaganda wird fast von Haus zu Haus und bis auf die Gassen mit einem Eifer betrieben, der nachgerade auch die Gleichgültigen nachdenklich macht. Bist du in der Versammlung gewesen? Bist du schon vorgetreten? Das sind bald die Hauptfragen in Basel, und das, was bisher Gläubigkeit hieß, genügt nicht mehr, man muß dort gewesen, vorgetreten sein. Eine franke Tochter in der Parterrewohnung kriegt eines Abends den Besuch einer jungen Dame und diese läßt nicht ab, bis jene nachgibt und mitkommt. Dann steigt die Dame eine Treppe hoch und drängt in eine alte Mutter, mitzukommen. Diese klagt, ihr Knabe von dreizehn Jahren sei seit dem Morgen vom Haus weg, sie wisse nicht wohin und sei in größter Angst um ihn und könne das Haus nicht verlassen. Hilft ihr aber nicht, sie muß in die Versammlung, weil das „Seligwerden“ vor dem Kinde geht. Wenn es die "Heilsarmee" so von Haus zu Haus treibt, ist es nur zu verwundern, daß das Vereinshaus nicht viel zu klein ist. Die Sache selbst nimmt dort Abend für Abend den gleichen Gang; Ansprachen und Gesänge, Zeugnisse und Lobpreisungen Gottes aus der Mitte der Versammlungen; auch ein zwölfjähriger Knabe steht auf und erklärt, er habe jetzt den Frieden" ge= funden und Herr Rappard antwortet darauf mit dem Schriftwort: „Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hat Gott sich ein Lob be= reitet." Dann im zweiten Akt Vortritt Derer, welche die „Gnade" am selben Abend angefaßt hat, Gewissenserforschung, Kniefall, Reinerklärung im Blut des Lammes. Von Denen, die also hinzugethan werden zur Gemeinde der „Erretteten", wird der Name erbeten, und Diejenigen, welche ihn angeben, erhalten dann den Besuch der Netter, wobei im Hause Kniefall und Gebet fortgesetzt wird. Die Zahl der Vorgetretenen muß sich auf viele Hunderte belaufen. Von diesen werden vielleicht viele mit der Zeit wieder kühl und untreu werden, d. h. sie werden bei der Kirche verbleiben, während die verschiedenen Sekten jedenfalls eine große Ernte einheimsen, allen voraus die Methodisten und die evangelische Gemeinschaft". Was so nstdie Bewegung

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noch für Folgen haben wird, ist sehr schwer zu sagen. Jedenfalls geht sie an Umfang und Intensität weit über das hinaus, was seiner Zeit Hebich und vor fünf Jahren Prediger Smith zu Stande gebracht, (welch' letterer bekanntlich ein dunkles Ende genommen).

Die Leiter der Bewegung, ohne Zweifel Leute, die es auf ihre Art ganz redlich meinen, sind selber erstaunt über den Erfolg, der all' ihre Erwartungen weit übertrifft, sie preisen laut die wunderbare Gnade Gottes und sind überschwenglicher Hoffnung voll, als ob sie ein zweites Pfingsten erlebt hätten. Anerkannt werden muß, daß in Folge einer im Großen Rath gestellten Interpellation und polizeilicher Untersuchung die Redner sich in Ausmalung gewisser Sünden weit vorsichtiger benehmen. Wie es aber möglich geworden ist, diese „Erweckungen" durch mehrere Wochen hindurch derart in Schwung zu erhalten, das hält für diejenigen, welche Basel kennen, (in jeder andern Stadt wären sie ja nicht denkbar), keineswegs schwer. Außerkirchliche, religiöse Versammlungen sind durch das Vereinshaus in Basel längst sehr populär und werden von einer Reihe landeskirchlicher Pfarrer eifrig gepflegt. Wie schon Hebich, so wird auch diese Erweckung nach englisch-amerikanischem Schnitt von vielen Reichen dieser Welt, Herren und Damen aus den vornehmen Familien, protegirt. Das Volk empfindet lebhaft die schwere Zeit in Folge Geschäftsstockung und Mißjahren, der Mittelstand schwindet vor der Macht des Großkapitals sichtlich dahin und Tausende von Arbeiterfamilien führen ein elend und erbärmlich Leben, wovon wir täglich Beweise erhalten. Das Alles machen sich die Leiter dieser Versammlungen zu Nuße. Sie fragen die Massen und die Vortretenden auch nach ihren ökonomischen Nöthen und verheißen neben dem himmlischen Segen auch einen irdischen. Nicht wahr, es drückt Euch etwas? Ist es Euch die letzte Zeit nicht herzlich schlecht gegangen? Lebt Ihr nicht in Sorge und Nöthen und Unfrieden? Möchtet Ihr es nicht gern besser haben? Und die auf solche Fragen antworten mit einem herzlichen Ja! ihnen thut natürlich schon die Theilnahme an ihrem bittern Schicksal in der Seele wohl, sié hoffen Erlösung, und wenn's auch nachher nichts daraus wird, so war die kurze Hoffnung doch ein Stückchen Himmel. Wir wollen nicht behaupten, daß dieß Alles, nur daß es Vieles erklärt.

A.

Ein liberaler Basler Pfarrer vor 60 Jahren.

Vor mir liegt ein Schriftchen aus den Zwanziger Jahren, gedruckt in Basel bei Neukirch, und betitelt: Ueber die Vernunft; zwei Predigten nach Matth. 6,23, gehalten in der Kirche St. Theodor den 9. und 16. Hornung 1817 von J. J. Fäsch, Pfarrer.

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Ueber die Vernunft !" Zwei Predigten darüber von einem Hauptpfarrer zu St. Theodor! Gewiß eine Thatsache, welche uns zu näherer Nachfrage und eingehender Untersuchung dieser Predigten veranlassen muß!

I. I. Fäsch, geb. 1752, seiner Zeit einziger liberaler Pfarrer in Basel, war neun Jahre lang (von 1793 an) Helfer und sodann volle 30 Jahre lang Hauptpfarrer zu St. Theodor. Er starb 1832. Jm Sterberegister verzeichnet einer seiner Amtsbrüder seinen Tod mit dem Beifügen:

„Der unvergeßliche und hochwürdige Herr Pfarrer Fäsch, welcher beiläufig ein halbes Jahrhundert hindurch als treneifriger Lehrer und Oberhirte an dieser christlichen Gemeinde gestanden hatte, und im sechsundachtzigsten Altersjahre seinen Hirtenstab niederlegte und zu einem bessern Leben hinübergerufen wurde."

Dieser von seiner Gemeinde hochgeachtete Seelsorger fühlte sich in den Zwanziger Jahren gedrungen, obige zwei Predigten, die er 1817 gehalten hatte, im Druck herauszugeben. Er hatte hiebei lediglich ein seelsorgerliches Motiv, welches er in der Vorrede zu den Predigten in folgenden Worten ausdrückte: „Wer unter meinen verehrlichen Mitbürgern, für welche besonders diese wenigen Bogen geschrieben sind, mit mir die höhern Stufen des menschlichen Alters erreicht hat, der wird es gestehen müssen, daß es bei uns, in Rücksicht des Religiösen besonders, nicht mehr ist, wie gestern und ehegestern, und daß in unsrer lieben Vaterstadt Neuerungen emporgekommen, die wir in keiner Gegend Helvetiens finden; ob wir dadurch weiser, frömmer, glücklicher geworden als unsre Miteidsgenossen, das überlasse ich andern, zu entscheiden; ich habe es hier mit der Vertheidigung der Vernunft allein zu thun, und ein halbes Jahrhundert, das ich bereits dem Studium der Theologie geweihet habe, hat mich überzeugt und in dieser Ueberzeugung hat mich die ganze Kirchengeschichte gestärkt: daß nämlich jede Entfernung von der gesunden Vernunft der Religion und der Menschheit immer nachtheilig geworden ist; und öffentlich zu bezeugen, was ich nach vieljährigem Forschen und Prüfen als Wahrheit erfunden habe, das wird mir als einem Lehrer der Religion jezt besonders zur Gewissenssache, da ich mit einem Fuße bereits im Grabe stehe und in Kurzem Niemandem mehr Rechenschaft abzulegen habe, als dem göttlichen Geber der Vernunft, der die Wahrheit und Weisheit selber ist. Sein Reich komme!“

Man sieht aus diesen Worten, daß Fäsch während seiner Amtswirksamkeit eine Veränderung in der religiösen Anschauungsweise in Basel erfahren mußte, vor welcher er warnen zu müssen glaubte. Es war dieß das Eindringen der pietistisch-wundergläubigen Scheinfrömmigkeit, welche seither sich in Basel die Herrschaft zu erringen gewußt, und je und je durch künstlich gemachte „Bewegungen“ den erlahmenden Eifer wieder zu beleben gesucht hat. Was in den jüngsten Zeiten durch Hebich, Smith u. A. getrieben wurde und eben jest wieder durch die methodistischen Bekehrungsversammlungen erreicht werden soll, fing damals in Basel zu spucken an durch den Einfluß der bekannten Frau von Krüdener. Einige Notizen über diese eigenthümliche Frau werden uns sofort den Charakter jener Neuerungen“, gegen die Fäsch zu zeugen sich verpflichtet fühlte, erkennen lassen.

Frau von Krüdener war in ihren jüngern Jahren eine halbgelehrte und geistreiche Kokette gewesen und hatte, getrieben durch einen unruhigen Drang nach Neuem und Auffallendem Jahre lang eine ziemlich zweideutige Rolle gespielt. Von ihrem Manne getrennt, zog sie einige Zeit mit einem französischen Husarenoffizier in der Welt herum, überall Verbindungen anknüpfend und durch Wort und Schrift von sich reden machend. Als sie in die Jahre kam, wo die körperlichen Reize schwinden, bekehrte sie sich, und warf sich, mit derselben Eitelkeit, wie vorhin, und mit demselben Widerwillen gegen ruhige und anspruchslose Pflichterfüllung, auf das Feld der

frommen Schwärmerei. Sie bereiste Land um Land, hielt Belehrungsvorträge, predigte von dem Verderben der Welt und der Nothwendigkeit einer Umkehr zu Chrifto, und ließ sich sogar auf Geistererscheinungen und andere vermeintliche Wunder ein. So kam sie anno 1815 auch nach der Schweiz und nach Basel. Hier fand sie einen empfänglichen Boden. Die wundergläubigen Kreise unsrer Stadt sahen in ihr eine Botin des Himmels, erwarteten eine allgemeine Ausgießung des heil. Geistes, und so kam jene pietistische, der Wissenschaft und dem vernünftigen Denken feindliche, wundergläubige und daher wundersüchtige Frömmigkeit zur Herrschaft, welche, später noch durch schwäbische Einwanderung verstärkt, heute noch der Gegner ift, gegen welche, - ich will nicht einmal sagen: die Reform, aber jede vernünftige und gesunde Auffassung des Christenthums kämpfen muß.

Gegen sie zu kämpfen, hielt damals, als sie sich zu regen begann, der Hauptpfarrer von St. Theodor für seine Pflicht. Es ist bezeichnend, daß er als Thema seiner beiden Predigten furzweg bezeichnete: Ueber die Vernunft." Hatte doch schon sein Lehrer, der Prof. Sam. Werenfels, Aussprüche gethan, wie folgende:

„Durch einen blinden Glauben wird weder Gott, noch der Kirche gebient."

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Was mit der Vernunft im Widerspruche steht, kann nie als eine göttliche Offenbarung angesehen werden.“

All' dieses Geschrei wider die Vernunft hat keinen andern Zweck, als die Menschen dahin zu bringen, gewissen Dogmen, die keine Untersuchung aushalten können, ohne Untersuchung mit blindem Glauben anzunehmen; wer sieht aber nicht ein, daß auf diese Art auch die ungereimtesten Lehren dem Menschen können aufgedrungen werden ?“

Sehen wir nun zu, wie Fäsch diese, der Orthodoxie durchaus widersprechenden und daher liberalen Grundsäße in seinen Predigten ausgesprochen hat! Wir zitiren einige Stellen.

„Noch immer treiben ein unverständlicher Mystizismus, ein verwirrender Settengeist, eine betäubende Schwärmerei, eine menschenfeindliche Prophezeihungssucht ihr verderbliches Wesen in der Christenheit, machen die Schwachgläubigen irre und geben den Ungläubigen reichlichen Stoff zu den bittersten Spötteleien; und woher diese Verirrungen, diese Unfugen, diese Ausschweifungen alle? Von der Verachtung der Vernunft, von einer vernachlässigten Bildung des Verstandes, wobei diese herrliche Gottesgabe, dieses hinimlische Licht entweder ausgelöscht oder unter den Scheffel gestellt wird!"

„Die reine, die ächte Christusreligion ist nur da anzutreffen, wo das Licht der Vernunft mit dem Lichte des Evangeliums vereinigt zum Himmel emporlodert. Der Vernünftigste unter den Menschen ist auch der beste, der würdigste unter den Christen; denn er hält sich nicht an leere Worte, an äußerliche Formeln; er spricht nicht blindlings nach, was andere ihm vorschwagen; er denkt selber nach über jede Wahrheit des Evangeliums und gelangt dadurch zu einer festen, wirksamen Ueberzeugung; sein Glaube ist nicht das bloße Erbgut seiner Väter, noch weniger ein Geschent des Sektengeistes, sondern die reife Frucht eigener Untersuchung. Ach! ohne eine geläuterte Vernunft werden wir bald dem Unglauben huldigen, bald dem Aberglauben fröhnen, bald in der Schwärmer Dienste

treten, bald zur Fahne falscher Propheten schwören; ohne eine geläuterte Vernunft sind wir nie im Stande, der apostolischen Vorschrift Genüge zu Leisten Prüfet die Geister! Prüfet Alles und das Gute behaltet !"

„Wer die Vernunft verachtet, der rerachtet Gott selbst, der sie uns gegeben hat, nicht um dieses goldene Talent zu vergraben, sondern um dasselbe auf Zinse zu legen, um der Talente noch mehrere zu gewinnen; die Vernunft ist die Krone unseres Geschlechts, das Ehrwürdigste in der Welt; nichts muß daher höher geschäht, nichts mehr unangefochten bleiben, als diese göttliche Gabe. Durch sie allein werden wir des Menschennamenz würdig; durch sie allein werden wir fest im Christenthum und gesichert vor den Empfindeleien, Faseleien und Schwärmereien unseres Zeitalters; fein eingeweihter Priester, kein habsüchtiger Bileam, keine Zauberin von Endor, keine Afterprophetin aus Liefland wird den Mann von gebildetem Verstande jemals zu bethören, jemals irre zu führen vermögen!"

Auf den Einwand, daß die vernünftige Auffassung der Dinge nicht vor Aberglauben und Irrthum schüße, vielmehr dazu führe, erwidert unser Prediger: „Nein, die Vernunft wird nur von sündlichen Begierden und tobenden Leidenschaften verdunkelt und verfinstert, aber sind es nicht eben diese Begierden und Leidenschaften, die auch das Christenthum in Dunkel und Finsterniß hüllen? Wessen Herz empört sich nicht bei dem Gedanken der groben Unwissenheit, des schrecklichen Aberglaubens, der Schand- und Lasterthaten, deren sich im grauenvollen Mittelalter Hohe und Niedrige, Reiche und Arme und besonders die Lehrer des Evangeliums schuldig machten! Aber wer würde es nicht ungerecht finden, wenn wir diese schauerliche Nacht, diese zügellose Lasterhaftigkeit der damaligen sogenannten Christen dem Christenthum selbst zum Vorwurfe machen wollten? Wer wird nicht vielmehr die Priester dieser unglücklichen Zeiten verflagen, die geflissentlich dahin arbeiteten, die Vernunft zu unterdrücken, die Wissenschaften zu verbannen, und so die Dummheit des Volkes zu befördern, zu unterhalten, und an dem Gengelbande eines blinden Glaubens dasselbe nach Willführ zu leiten, irre zu führen? Wie wahr spricht daher ein berühmter Dichter des Vaterlandes, der selige Haller, der diese traurigen Zeiten im Auge hatte:

Ich weiß, die Welt hat es erfahren,

Daß selbst der Glaub' in eines Priesters Hand
Mehr Böses that in wenig hundert Jahren,

Als in sechstausend Jahren der Verstand.

Aber laßt die Wissenschaften wieder aufblühen; laßt die Vernunft sich wieder auf ihren Thron erheben, und ein Luther, ein Calvin, ein Zwingli und Oekolampad werden auftreten, und die Nacht, welche die Christenheit bedeckt, wird verschwinden, und das Licht des Evangeliums von Neuem erleuchten die Völker des Erdkreises; weg dann mit allem Tadel der Vernunft! es ist ein Tadel des göttlichen Gebers derselben; es ist eine Lobrede, die wir der Dummheit halten; es ist ein strafbares Bestreben, das Licht der Welt, die Sonne der Gerechtigkeit zu verdunkeln, die Nacht der Unwissenheit und des Aberglaubens über die Menschheit zu verbreiten!"

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