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funden hat. So versichert uns wenigstens die „Allgem. Schweiz. Zeitung."; wir in unsern Kreisen haben wenig von dieser Gläubigkeit bemerkt. Dafür aber Anderes. Einmal, daß sich die werkthätige Nächstenliebe bei solchen Gelegenheiten in immer reicherm Maße bekundet, obschon der Anlässe dazu nachgerade viele werden. Welch' ein Sturm der theilnehmenden Liebe erhob sich bei der Kunde vom Elmer Unglück! Nicht mehr das dumpfe und zwecklose Klagen, sondern ein thatkräftiges, sofortiges Handanlegen, wie sich's geziemt für ein Volk von Brüdern, die sich in keiner Noth und Gefahr verlassen wollen! Sodann: wie vereinzelt sind heutzutage gegenüber der frühern Zeit jene Stimmen, die sofort in jedem noch so unverschuldeten Unglück eine göttliche Strafe erblicken! Zwar hörten wir ja: die Elmer seien eben Protestanten gewesen; wir lafen ferner in einem Basler Blatt, das Ringtheater sei eine Stätte der Gottlosigkeit gewesen und sei zudem auch unter Benützung des Sonntags gebaut worden. Aber das ist nur noch der Sinn einzelner, in ihr Dogma verbohrter Fanatiker, lange nicht mehr die Ueberzeugung des vernünftig denkenden Volkes; dergleichen konnte vor etwa fünfzig oder sechszig Jahren noch von den Kanzeln ausgesprochen werden, heutzutage erntet es nur noch den Widerwillen oder den Spott. Es geht also doch vorwärts.

Sollen wir noch von der allgemeinen politischen Lage ein Wort sagen? Ein witziger Redaktor hat vor einem Jahre die Hoffnung ausgesprochen, das Jahr 1881 werde, weil die krummen Ziffern der Jahrzahl in der Mitte, die geraden zu beiden Seiten stehen, ein entschiedeneres Auftreten der aufrichtig fortschrittlichen Elemente mit sich bringen, so daß die Zweifelstriche einer hinter den Coulissen arbeitenden und rückläufigen Politik beherrscht würden durch die stramme Haltung der mit freisinnigen Grundfäßen kämpfenden Parteien. Ich weiß nicht, ob er Recht gehabt hat; mir schien es: das Volk hat überall seine Pflicht gethan und liberal gewählt, in Deutschland den Reichstag, in Frankreich die Kammer, in der Schweiz die Bundesversammlung, in Basel den Großen Rath. Aber da und dort haben die Gewählten den ihnen in die Hände gelegten Sieg zum Theil wieder preisgegeben; zumal in den Bundesrathswahlen waren die Zweifelstriche auch für ein unbewaffnetes Auge deutlich erkennbar. Trösten wir uns! Ein altes lateinisches Sprichwort sagt: durch die Vorsehung Gottes und die Konfusion der Menschen wird die Welt regiert; vielleicht ist das auch hier der Fall. Hat die Centralregierung keinen Fortschritt aufzuweisen, so sind einzelne Kantone, wie Zürich, Genf, Basel sich ihrer fortschrittlichen Mehrheit wieder bewußt geworden, und namentlich erfreuen sich die beiden lettern gegenwärtig eines liberalen Regiments. Es ist doch da wenigstens vorwärts gegangen.

Ueberblicken wir die politische Lage der Gegenwart im Ganzen und Großen, so machen wir die eigenthümliche Wahrnehmung, daß überall die bisherigen Parteigruppirungen sich verschieben und an die Stelle alter, ab= genutzter Loosungsworte andere, neue treten wollen. Wir haben diese Erscheinung in der Schweiz bei den Nationalrathswahlen erlebt, wo eine jungdemokratische Partei sich regte mit der Parole: nicht immer Kulturkampf, sondern volkswirthschaftliche Interessen. Wir nehmen sie wahr in Deutschland, wo der alte Kanzler plötzlich ein Sozialist geworden und Stöcker als Prediger dieses Sozialismus seine Kolportage betreibt. Wir können

nicht beurtheilen, in wieweit diese neuen Tendenzen eine Zukunft haben werden; auf jeden Fall ist das sicher, daß nicht immer dieselbe Melodie gesungen werden muß, daß auch in der Politik das Alte stürzt und neues Leben aus den Ruinen hervorblüht. Aber eines scheint uns aus dieser Verschiebung der Parteistandpunkte hervorzugehen, daß nämlich die Strömung unsrer ganzen, so tief aufgeregten Gegenwart, rund herausgesagt, eine sozialistische ist. Und wir freuen uns darob. Wir gehören nicht zu Denen, welche unter sozialen Bestrebungen Umsturz und Ruin alles Bestehenden verstehen; aber auch nicht zu Denen, welche bei jedem Laut, der von dorther an ihr Ohr schlägt, Gänsehaut bekommen. Wir kennen einen Sozialismus, der nichts Anderes ist, als das Christenthum in seiner Urgestalt, nämlich die Verwirklichung der Solidarität Aller für Alle. Wenn man allerseits wollte, so könnte man diese große Aufgabe, die offenbar unserm Geschlecht gestellt ist, Schritt für Schritt und auf rein gesetzlichem Wege lösen und damit das gefürchtete rothe Gespenst bannen. Es war einst eine Zeit, wo eine Unzahl von Heimatlosen, von einem Kanton in den andern abgeschoben und da wieder vertrieben, nur noch die Grenzen als ihren Aufenthaltsort hatten und darum dieselben unsicher machten. Man sah damals diesen Zustand als ein nothwendiges Uebel an und fügte sich darein, so gut es ging. Später lernte man diese Leute als Menschen behandeln und die Furcht vor ihnen schwand; wer weiß heute noch von Heimatlosen? Aber die christliche Liebe entdeckt immer wieder neue, bisher nicht beachtete Ungerechtigkeiten und Mißstände; warum stellt sich ihrem Streben immer wieder dasselbe Mißtrauen und dieselbe blinde Furcht entgegen? Möge es auch hierin vorwärts gehen!

Der Hund auf dem Münsterplak.

L.

Als in der letzten Sylvesternacht zwischen dem Geläute der Glocken, unmittelbar vor dem Zwölführschlag, vom hohen Basler Münster herab der Jubelchoral „Lobe den Herrn“ über die mondscheinbeglänzte Stadt hin ertönte, haben unter tausend geöffneten Fenstern, kleinen, matterleuchteten und großen, lichtstrahlenden, viele Tausend Menschen, die sonst nicht in die gleiche Kirche gehen, miteinander einen Gottesdienst gefeiert, haben in ihrem Herzen zur Musik die bekannten Worte gesungen und in diese Worte ihre freudvollen und leidvollen Erfahrungen gelegt: „Der dich erhält, wie es dir selber gefällt, hast du nicht dieses verspüret? In wie viel Noth hat nicht der gnädige Gott über dich Flügel gebreitet! Der sichtbar dein Werk dir gesegnet, der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet; er ist dein Licht, Seele, vergiß es ja nicht! Lob' ihn in Ewigkeit, Amen." €8 war eine Stille, wie wenn der liebe Gott durch die Nacht ginge.

Nur ein Hund auf dem Münsterplaß machte Lärm mit seinem Wau! Wau! mitten in die Verse und in die Pausen hinein drang sein böses, zorniges Wau! Wau!

„Ach, dieser Hund, daß er Einem die ganze Freude verderben muß“, flagte ein andächtig in der Fensternische liegendes Mädchen. Und die versammelte Gesellschaft gab mit stillen Zeichen dem kleinen Mädchen Recht.

Aber der Großvater mit dem grauen Lockenhaar nahm die Enkelin bei der Hand und sagte weniger ihr, als den versammelten Mitgliedern seiner zahlreichen Familie: „Liebe Anna, laß den Hund bellen, die Harmonie ist ihm zuwider und er weiß nichts Besseres; auch er gehört in die Weltordnung unseres Gottes. Du kannst aus dieser ersten Viertelstunde des neuen Jahres etwas lernen: Es wird auch in diesem Jahr viel Unangenehmes, Störendes, Schmerzliches geben, das wir miteinander in Geduld tragen wollen. Auch im neuen Jahr werden Berge weichen, Wasser-, Hagel- und Feuerverheerungen kommen; auch im neuen Jahr müssen Krankheit und Tod wieder an der Arbeit sein; auch im neuen Jahr bleiben alle die Menschen eines bösen und verkehrten Sinnes, welche die Harmonie nicht leiden können und es nicht leiden wollen, daß die Menschen im Frieden beieinander leben und Einen Herrn im Himmel miteinander loben. Jhr Lieben", schloß der Großvater mit einem Blick auf seine ganze kleine Hausgemeinde, nehmen wir diese Weltordnung Gottes demüthig an und lassen wir uns durch kein unvernüftiges Wesen die Andacht und den Seelenfrieden stören."

Alle gaben dem Großvater und einander gegenseitig die Hand. Darauf schieden sie bewegt.

Die Thesen Zwingli's.

A.

Wer hat jemals, sofern er nicht gerade in die spezielle Kirchengeschichte der Schweiz eingeweiht ist, von Thesen Zwingli's gehört? In jedem Schulbuch steht geschrieben, daß Luther mit fünfundneunzig Thesen am 31. Oft. 1517 das Signal zur Reformation gegeben habe, und es gilt als allgemeine Ansicht, Luther habe in denselben ein vollständiges Reformationsprogramm aufgestellt.

Wir haben unlängst in diesem Blatte diese Ansicht einigermaßen reduziren müssen. Ohne den deutschen Reformator irgendwie verkleinern zu wollen, haben wir doch gestehen müssen, daß seine Thesen an Halbheit und Unentschiedenheit leiden, daß er selbst über die Tragweite derselben erschrack, daß es also nicht seine Schuld, sondern Gottes Werk war, wenn das deutsche Volk aus denselben mehr herausgelesen hat, als wirklich darin lag.

Es liegt nahe, sich zu fragen, ob nicht auch von Zwingli in ähnlicher Weise eine That geschehen sei. Es ist ja möglich, daß dieselbe vor dem glänzenden Erfolg der That Luther's verschwand, während sie vielleicht an ihrem Orte ebenso bedeutsam war, wie jene. Und es ist wirklich so. Auch Zwingli hat eine Reihe von Thesen zum Gebrauch bei einer öffentlichen Disputation veröffentlicht; mit Ausnahme weniger Säße, welche sich auf das Cölibat beziehen, ebenfalls gegen den damals von Bernhard Samson in der Schweiz betriebenen Ablaßhandel gerichtet; es sind ihrer siebenundsechszig, verfaßt für die vom Zürcher Rath veranstaltete Disputation zu Zürich am 29. Januar 1523. Eine Vergleichung dieser Thesen mit denjenigen Luther's zeigt uns sofort eine entschiedenere, radikalere Haltung Zwingli's; da ist keine Halbheit, noch Unentschlossenheit, kein Aussprechen protestantischer Grundsäge zugleich mit Anerkennung päpstlicher Machtvoll

kommenheit, kein Schillern zwischen Freiheit der Ueberzeugung und Gebundenheit an die römische Tradition. Zwingli's Thesen sprechen mit offener und rückhaltloser Sprache dasselbe aus, was Luther sagen wollte und sagen sollte, aber nicht gerade heraus zu sagen gewagt hat. Warum doch ist dieser seither stets als der Größere und Muthigere verherrlicht worden?

Wir wollen beispielsweise und zur Vergleichung die hauptsächlichsten Thesen Zwingli's in deutscher Ueberseßung mittheilen; zu bemerken ist nur, daß die damalige Opposition sich gegen dreierlei zu richten hatte: gegen die Lehre von dem Verdienst der Heiligen, gegen die von den Qualen der unversöhnt Verstorbenen im Fegfeuer, und gegen die Anschauung, daß der Papst durch seine Legaten aus dem Schatz der verdienstlichen Werke der Heiligen beliebig Sündenvergebung (Ablaß) ertheilen könne. Hierüber spricht sich nun Zwingli folgendermaßen aus:

These 3: Christus ist der einzige Weg zum Leben für alle Menschen, welche gelebt haben, leben oder leben werden.

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These 4: Wer einen andern Weg sucht oder zeigt, der irrt, ja er ist ein Seelenberücker oder Seelendieb.

These 6: Christus ist das von Gott dem ganzen Menschengeschlechte versprochene und vorgesezte Oberhaupt (gegen die Anmaßung des Papstes, als des Stellvertreters Christi).

These 11: Daher schließen wir auch, daß die Traditionen und Gesetze der sogenannten Kirchenlehrer, auf welche sie ihren Stolz, ihren Reichthum, Ehren, Titel und Sagungen gründen, die Ursache alles Unsinns ist, da sie nicht mit dem Haupte Christus harmoniren, — (ein Protest gegen die unfehlbare Gültigkeit Alles dessen, was nicht mit der Lehre des neuen Testamentes stimmt). Ebenso:

These 16: Im Evangelium lernen wir, daß alle menschlichen Lehren und Ueberlieferungen für das Seelenheil unnüß sind.

These 17: Der alleinige ewige Hohepriester ist Christus; Diejenigen also, welche sich für Hohepriester ausgeben, streiten gegen den Ruhm und die Macht Christi; sie verwerfen Christum.

These 20: Gott gewährt uns Alles durch Christum; daher folgt, daß wir außer Christo keines andern Mittlers für ein anderes Leben bedürfen. (Geht gegen die Lehre, daß nur durch Vermittlung des Papstes und des Priesters Sündenvergebung zu erlangen sei.)

These 25: Kein Christ wird zu einem Werke, das Christus nicht vorgeschrieben hat, verpflichtet; er kann zu jeder Zeit jede Speise genießen, und die Verordnungen, welche die Priester hierüber aufstellen, sind römische Betrügereien.

These 34: Die Gewalt, welche sich der Papst, die Bischöfe und andere Geistliche anmaßten, den Stolz, von dem sie strogen, beruht nicht auf der heiligen Schrift und auf der Lehre Christi.

These 37: Der weltlichen Obrigkeit müssen alle Christen, Niemand ausgenommen, gehorchen, sofern jene nichts gegen

Gott befiehlt, (ein Saß, welcher viel entschiedener gegen die Oberherrschaft des Papstes auch über die weltlichen Dinge protestirt, als es je in den Thesen Luther's ausgesprochen ward).

These 44: Die wahre Verehrung Gottes besteht im Geiste und in der Wahrheit, nicht im Geräusch vor den Menschen, (ein klarer Protest gegen jede Veräußerlichung der Religion zum Ceremoniendienst).

These 50 und 51: Gott allein vergibt die Sünden durch Christum; wer daher eine Vergebung der Sünden ausspricht, beraubt Gott seines Ruhmes und ist ein Unchrist.

These 56: Diejenigen, welche gewisse Sünden für einen Lohn oder für Geld vergeben, sind Freunde Simons und Balaams, wahre Gesandte Satans.

These 57: Die heilige Schrift kennt kein Fegfeuer nach diesem Leben.

These 60: Wenn Jemand, für die Todten bekümmert, bei Gott um Gnade fleht, so verdamme ich ihn nicht; aber die Zeit, wie lange sie im Fegfeuer bleiben müssen, zu bestimmen und des Gewinnes wegen zu lügen, ist nicht menschlich, es ist teuflisch.

Dies einige Beispiele aus den Thesen Zwingli's. Bekanntlich hat er seine Disputation über dieselben, obschon ihm der Generalvikar des Bischofs von Konstanz, Johannes Faber, gegenüberstand, siegreich durchgeführt und den Zürcher Rath damit zu einer entschiedenen und durchgreifenden praktischen Reformation veranlaßt.

Wer nun den Ton und die Haltung dieser Thesen mit denjenigen Luther's vergleicht, der wundert sich billig, daß der lettere bisher ungebühr lich hoch geehrt, Zwingli hingegen fast vergessen worden ist, als ob er der Geringere gewesen wäre. Aber die Zeit und die Macht der Persönlichteiten waren Schuld an diesem Unrecht. Luther trat bekanntlich mit hartem Fuß zu Boden, was irgendwie energisch auf praktische Durchführung der protestantischen Grundsäße dringen wollte. Karlstadt und seine Freunde, welche Dasjenige, was Luther gesagt, in That und Wahrheit umseßen wollten, wurden von ihm niedergepredigt, und auch Zwingli warf er mit den Schwärmern in einen Tiegel. Die Macht und das Ansehen des deutschen Reformators hat den schweizerischen verdunkelt, und es ist seit dreihundert Jahren wieder eine unantastbare Tradition geworden, daß Luthers Thesen die einzige und unanfechtbare Heldenthat der Reformation gewesen seien.

Es ist Zeit, daß wir auch mit dieser Tradition brechen. Luther's Halbheit war vielleicht für die ersten Jahrhunderte nach der Reformation der richtige Ausdruck; es war das Uebergangsstadium des Katholizismus zum wahren und vollen Protestantismus. Aber jetzt sollte seine Zeit doch endlich vorbei sein. Die Kirche wenigstens, welche sich nach Luther's Namen nennt, hat durch ihre Entwicklung den Nachweis nicht geleistet, daß sie den ächten protestantischen Geist in sich trage; sie ist gegenwärtig die verknöchertste, trockenste und engherzigste Kirche Deutschlands; sie ist katholischer, als Rom selbst und zwar ohne irgendwie die Macht Roms zu besißen.

Wir glauben, daß die Zeit gekommen sei, wo Zwingli's freier, starker, kühner, radikaler Geist die protestantische Kirche beherrschen wird, weil er weiter und fortschrittlicher ist, als derjenige Luthers. Er bricht vollständig mit allem

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