ÀҾ˹éÒ˹ѧÊ×Í
PDF
ePub

2. Nerthus.

Das älteste geschichtliche Zeugnis für die Verehrung der Erdgöttin bei den Ingwäonen bietet Tacitus (Germ. 40): Weiterhin von den Langobarden wohnen die Reudigner und Avionen, die Anglier und Variner, die Eudosen, Suardonen und Nuitonen, die alle durch Flüsse und Wälder geschützt sind. Bemerkenswert bei den einzelnen Völkern ist nichts, vereint verehren sie die Nerthus, das ist die Mutter Erde. Sie glauben, daß die Göttin eingreife in das Leben der Menschen und bei den Völkern einziehe. Es ist auf einer Insel im Ozean ein heiliger Hain, den niemand betreten darf, und in ihm ein geweihter Wagen, mit einer (weißen) Decke verhüllt. Nur dem Priester ist es gestattet, ihn zu berühren. Dieser weiß, wann sich die Göttin im Allerheiligsten aufhält, und er begleitet sie, wenn sie auf ihrem von Kühen gezogenen Wagen umfährt in frommer Haltung, unter Beobachtung heiliger Gebräuche und mit ehrfurchtsvollem Gebete. Frohe Tage gibt es dann und festlich geschmückte Orte, wohin die Göttin gastlich ihre Schritte lenkt. Die Waffen ruhen, des Krieges Stürme schweigen, alles Eisen ist verschlossen; Friede und Ruhe sind dann allein bekannt, dann allein geliebt, bis derselbe Priester die des Verkehrs unter den Sterblichen satte Göttin ihrem Heiligtume zurückgibt. Dann wird der Wagen nebst den Tüchern und, wenn man glauben will, die Gottheit selbst im einsamen See gebadet. Sklaven versehen dabei den Dienst, die sogleich derselbe See verschlingt. Daher der geheimnisvolle Schauer und die heilige Unwissenheit, was das sei, das nur dem Tode Geweihte schauen.“ (D. S. Nr. 364).

Tacitus schildert den Kultus der seeanwohnenden Stämme. Tiwaz Ingwaz und Nerthus, der Himmelsgott und die mütterliche Erde, sind das göttliche Paar bei den Ingwäonen. Wo die Gemahlin verehrt wurde, muß auch der himmlische Gatte verehrt sein; das Fest wird schwerlich der Göttin allein gehört haben.

Tacitus verdankt seinen Bericht, der allerdings das Fest des Gottes unerwähnt läßt, offenbar einem Römer, der selbst.

in diesen Gegenden die ihm merkwürdige Prozession erlebte und mit ähnlichen Schaustellungen in der kaiserlichen Hauptstadt verglich. Die Schlußfolgerungen sind vom Schriftsteller selbst gezogen, er hat erst nach den Motiven der Handlung geforscht und sie sich nach seiner Geistesrichtung zurechtgelegt. Also nur das Tatsächliche des Berichtes ist der Wirklichkeit entnommen, alles übrige ist freie Reflexion. Aber auch so bleibt bei der Gedrängtheit des Stiles manche Ungewißheit und Unklarheit zurück.

Schon der Schauplatz des Festes ist nur im allgemeinen angegeben. Der Wohnsitz der sieben ingw. Völkerschaften, die sich zur gemeinsamen Verehrung der Nerthus zusammen fanden, liegt nördlich vom Stammlande der Langobarden, dem Bardengau. Wo aber im einzelnen die Stämme gewohnt haben, und wo der aus dem Meer aufragende Hain zu suchen ist, bleibt ungewiß. Der Name der Reudigner ist vermutlich wie der der Semnonen (S. 220) und Nahanarvalen (S. 274) ein hieratischer Kultname; an. rjóđa,,röten“ ist die technische Bezeichnung für das Bestreichen und Besprengen mit dem heiligen Opferblut; die Reudigner wären also das Sacralvolk der Ingwäonen. Sechs Stämme scheinen auf dem Festlande gewohnt zu haben, der siebente, die Aviones, auf den Inseln; ihr Name bedeutet,,Inselbewohner".

Höchst wahrscheinlich war der Nerthustempel auf Seeland gelegen, nicht auf Rügen, Fehmarn, Bornholm, Alsen (Als-ö Insel des Heiligtums), noch auf einer der friesischen Inseln der Nordsee. Es ist erklärlich, daß sich ein Teil der Ingwäonen die erntespendende Erdmutter auf Seeland heimisch dachte, dem fruchtbarsten Lande, das sie von Hause aus besaßen. Noch im 10. Jhd. wird berichtet, daß in Hleidr (Lejre, Lederun) auf Seeland jedes neunte Jahr um die Zeit der Sommersonnenwende große Opferfeste gefeiert wurden, die erst Heinrich der Vogler 934 abschaffte (Thietmar von Merseburg 19). Und da der Ort auf einer Insel (Seeland) gelegen ist, sogar in der Nähe der See nicht fehlt (der Videsö, der weiße See bei Ledreburg), so wird hier das Stammesheiligtum zu suchen sein. Selbst der Name Hleidr (vgl. got. hleiþra Hütte,

Zelt) scheint aus vordänischer Zeit zu stammen und die ingw. Bezeichnung für das Gebäude zu enthalten, in dem Wagen und Bild der Göttin bewahrt wurden.

[ocr errors]

Der römische Reisende, der Tacitus von diesem Feste Kundé gab, vernahm als den heimischen Namen der Göttin Nerthus, den er mit,,terra mater" verdolmetschte. Nerthus ist grammatisch Masc. und Femin. zugleich, mythologisch eine doppeltgeschlechtige Gottheit (S. 191), ein Geschwisterpaar, das zugleich ein Ehepaar war. Als Gattin des Tius könnte sie die Herrin der Erde, der Unterwelt sein, daher mag sie die „,Unterirdische" sein (véorɛool Götter der Unterwelt). Da aber die höchste Göttin sonst schlechthin Frija heißt, d. i. die Geliebte, die Gattin des obersten Gottes, so ist auch die Erklärung ,,Männin" nicht völlig abzuweisen (idg. *ner Mann, skr. nara, gr. avg; mit Suffix-p). Der männliche Nerthus ist allein im Norden als Nigrdr erhalten, seine Schwester und Gemahlin allein bei den Ingwäonen. Die Bezeichnung,,Mann und Frau" für den Himmelsgott und die Erdgöttin hat Anspruch auf höchstes Alter. Im Grunde auf dasselbe läuft die Erklärung hinaus: nertu Masc. und Femin. (= guter Wille, das lat. numen) sei ursprünglich Epitheton gewesen, das sowohl einer männlichen wie einer weiblichen Gottheit gegeben werden konnte.

[ocr errors]

Aus unbekannter Ferne nahte der Himmelsgott den Menschen und hieß darum Ingwio der Ankömmling. Im Winter aber zog er wieder in fernes Land, aus dem er im Frühling heimkehrte. Solange die holde Gegenwart des Gottes währte, glaubte man ihn anwesend und beging festlich seine Vermählung mit der Erdgöttin im Lenz. Auch die Göttin war dann den Menschenkindern sichtbar, in feierlichem Umzuge ward sie von der dankbaren Bevölkerung eingeholt. Sie wachte jedes Jahr von ihrem totenähnlichen Schlummer auf, sobald die ersten Lerchen schwirrten; beseligend war ihre Nähe, und Blumen und Früchte waren ihr Gastgeschenk an ihre Verehrer. Aber wenn die Blüte bleicht, wenn eisig Schnee und Reif sich auf die Fluren legen, dann zog sie sich wieder in die Unterwelt zurück. Darum ward, wie Tacitus berichtet, nach beendigter Umfahrt

der Wagen der Nerthus, die Tücher und die Gottheit selbst im einsamen See gebadet. Denn nunmehr verschwand sie in ihrem unterirdischen Reiche, dessen Eingang der See bildet. Aber wenn der Priester (harugari) in dem sonst von keinem Menschen betretenen Haine am Belauben des Waldes, ain Erblühen der ersten Waldbume, vielleicht des Zeidelbastes (S. 213) oder am Erscheinen des ersten Käfers das Nahen des Frühlings, die Heimkehr des Gottes wahrnahm, dann besuchte auch die Göttin in segnendem Umzuge ihr Volk. Die feierliche Umfahrt der Nerthus bedeutet also das Erwachen der Natur im Frühjahre; das Einholen des Maigrafen und der Maigräfin, des Maikönigs und der Maikönigin ist durch dieselbe Anschauung hervorgerufen. Obwohl Tacitus nichts von dem göttlichen Gemahl erwähnt, so ist doch wahrscheinlich, daß das Fest zu Ehren der Vermählung des göttlichen Paares stattfand. Oder der Priester galt als der Vertreter des Gottes, denn Tacitus sagt ausdrücklich, daß allein dem einzigen Priester erlaubt war, den Wagen zu berühren, und die göttliche Ehe war schon vollzogen, wenn das erste Grün sich zeigte. Milde Witterung und Hoffnung auf gute Ernte brachte die Göttin; sie gestattete wieder die Schiffahrt und spendete stilles Wetterfür die Fischerei. Aber mit der guten Zeit, wo Fruchtbarkeit herrschte, Handel und Schiffahrt blühte, ersehnte der Germane auch zum Schutze seiner blühenden Gefilde Frieden und Waffenruhe. Wenn auch im allgemeinen die religiöse Ehrfurcht eine Unterbrechung der verwüstenden Fehden wünschenswert erscheinen lassen mußte, die Ingwäonen waren unfraglich schon zu einer ruhigeren Lebensweise gedrungen, als die beiden andern Stämme. Ein Volk, das die Segnungen der Kultur so tief empfand, wird auch seine höchsten Götter zu Schützern des Friedens gemacht haben. Nicht mehr Kampf und Streit galt als die Krone des Daseins, sondern Friede und Fruchtbarkeit. Darum ruhten auch zur Zeit des Umzuges Wehr und Waffen verschlossen in der Halle.

Als der höchsten Göttin brachte man ihr auch das kostbarste Opfer dar, das die grausame Vorzeit kannte, Menschen. Nichts anderes kann der Ausdruck meinen der See selbst

reißt die dienenden Knechte in sich". Schwierigkeiten macht nur, daß ein einziger Priester sie geopfert haben soll; oder ist an ein Töten durch Überfahren mit dem Wagen zu denken? Nur in entfernter Weise darf man an die Sklaven denken, die den Busentofluß nächtlich abgruben und nachher getötet wurden, damit der Ort geheim bliebe, wo der große Tote ruhte (D. S. Nr. 372). Vielleicht ist auch ihre Tötung als ein Opfer anzusehen. Wie die Semnonen ihren Festkult begannen, indem von Staats wegen ein Mensch geopfert wurde (Germ. 39; S. 220), so brachten die ingw. Stämme die ertränkten Sklaven der Nerthus als Opfer dar, wenn sie in das Innere der Erde zurückkehrte.

Der Ausgangspunkt der Prozession war ein Wald, der in stiller Abgelegenheit durch den Besuch der Menge nicht entweiht war. Dort stand der Tempel der Göttin und in ihm ein geheimnisvoller und darum mit Tüchern verhüllter Wagen. Beim Erwachen des Frühlings gab der Priester den Befehl, Kühe vor den Wagen zu schirren, und das Bild der Göttin ward auf den Wagen gehoben, der mit einem Tuche oder mehreren Decken bedeckt war. Während zu Ehren des Tius kriegerische Rosse aufgezogen und zu gottesdienstlichen Zwecken an den Wagen gespannt wurden (Germ. 10; S. 223), stehen. die Kühe, das uralte idg. Symbol der Fruchtbarkeit, mit dem weiblichen Geschlechte der tragbaren Mutter Erde in Zusammenhang. Die Umfahrt auf dem Wagen reicht vermutlich in die älteste Zeit zurück, wo die Germanen noch als flüchtige Nomaden kein festes Haus, also kein bestimmtes Tempelgebäude kannten; der zweirädrige, von Rindern gezogene Karren, der auf niedrigen, massiven Holzrädern ruhte, war ihnen Wohnsitz und Tempel zugleich. Auf dem Wagen stand das (hölzerne) Bild der Göttin; es war verhüllt, um das Heiligtum bald der anbetenden Menge zu zeigen, bald profanen Blicken zu entziehen. Die Annahme eines Tempels und eines aufrechtstehenden oder sitzenden Bildes ist unumgänglich nötig, trotzdem daß Tacitus sagt, die Germanen hielten es nicht der Größe der Himmlischen für gemäß, die Götter innerhalb der Wände zu bannen oder dem menschlichen Antlitz ähnlich zu bilden

« ¡è͹˹éÒ´Óà¹Ô¹¡ÒõèÍ
 »