Die Vertheidiger unserer Theorie müssen sich aber vor nichts so sehr hüten, als dem gegen sie erhobenen Vorwurfe: sie sähen alle organische Entwicklung als ein zufälliges Naturspiel an und hätten überhaupt nur eine Zufallslehre, Waffen in die Hände zu liefern 24). ,,Wir wünschen und wollen nun ein für allemal", so heisst es in den „Bekenntnissen einer schönen Seele", dass die, welche so sehr privilegirt sind, auch gar keinen Tribut, keine Abgaben zahlen sollen;" wir dürfen uns aber durch diese unsre Eigenheit nicht verleiten lassen, das unsterbliche Verdienst des „,Newton des Grashalms", CHARLES DARWIN, wegen jener „,Spuren der Menschheit", die sich auch bei ihm finden, zu unterschätzen. Eine neue, so umfassende Theorie kann doch nicht gleich endgültig vollendet auftreten, nicht in ganzer Rüstung dem Haupte entspringen, sodass auch gar nichts zu verbessern und zu ergänzen wäre! Nach diesen einleitenden Bemerkungen können wir uns unsrer Aufgabe zuwenden, eine Darstellung der philosophischen Consequenzen der LAMARCK-DARWIN'schen Entwicklungstheorie zu versuchen; und wir werden dieselben in vier Hauptrichtungen zu verfolgen haben: in Hinsicht auf Psychologie, Erkenntnisstheorie, Moral und Religion 25). 24) Da ich im Laufe unserer Erörterungen noch einmal auf diese Fragen eingehen muss, so konnten diese einleitenden Bemerkungen genügen. 25) KONRAD DIETRICH's wohl durchdachte und in freier, edler Sprache dargestellte Abhandlung: „Philosophie und Naturwissenschaft, ihr neuestes Bündniss und die monistische Weltanschauung" (Tübingen 1875) habe ich erst nach Beendigung dieser Schrift kennen gelernt. Obwohl ich nicht überall im einzelnen mit den Ansichten des Verfassers übereinstimme, so theile ich doch seine allgemeinen Grundanschauungen; vor Allem vertheidige ich mit ihm jenes edle Menschenbedürfniss, ein Oberstes anzuerkennen“, zu dem sich ein Goethe bekannte, und theile die Abneigung gegen das Lucrezisch-aufklärerische Herabziehn der Welteinheit zu einem Tohu wa Bohu zahlloser Atome. I. PSYCHOLOGIE. ,,Es ist das Thun und Treiben der Individualität Zweck an sich selbst." HEGEL. Die LAMARCK-DARWIN'sche Entwicklungstheorie lehrt, dass sich auf unsrer Erde aus einfachsten organischen und animalen Wesen durch Anpassung an die sich allmählich verändernden geologischen, bez. kosmischen Bedingungen ein reiches, sich allmählich immer höher steigerndes organisches und animales Leben continuirlich entwickelt hat. Und da wir wissen, dass unsre Erde während der grössten Zeit ihres Bestehens kein Schauplatz des Lebens gewesen sein kann, so muss dieses in einem ganz bestimmten Zeitpuncte zuerst auf unsrer Erde aufgetreten sein. Was ist nun der Ursprung des Lebens? Die naheliegendste Antwort auf diese Frage ist jedenfalls die: dass das Reich des Lebendigen aus dem Reiche des Unlebendigen durch Urzeugung (generatio aequivoca) entstanden ist1). Man sagt auf diesem Standpuncte, dass ja das Krystallisiren in bestimmten Systemen im Grunde auch nicht wunderbarer sei, als die Selbstgestaltung organischer Zellen; es sei sehr wohl denkbar, dass unter jenen durchaus anderen elektrischen, atmosphärischen und barometrischen Verhältnissen sich eiweissartige Kohlenstoffverbindungen" und endlich,,Moneren" gebildet hätten. In der That 1) Vgl. ERNST HAECKEL, Natürliche Schöpfungsgeschichte. 13. Vortrag. Berlin, 1868. (seitdem bekanntlich in vielen Auflagen erschienen). wäre gegen diese Auffassung vielleicht nichts einzuwenden, wenn - 2) E. DU BOIS-REYMOND, Ueber die Grenzen des Naturerkennens. Leipzig, 1872. S. 16. 3) RUDOLPH VIRCHOW, Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin. Frankfurt a/M., 1856. S. 18. Sinneseindruck,,eine chemische Zersetzung im Gehirn." Dem entgegnet nun FRIEDRICH HARMS 4), dass doch jedenfalls ein Bewegungszustand nicht die Wahrnehmung desselben, eine chemische Zersetzung nicht die Empfindung derselben, ein Verbrennungsprocess oder ein,Glühen' des Gehirns nicht die Vorstellung desselben ist. . . Mögen immerhin in den Nerven und im Gehirn Bewegungszustände, chemische Zersetzungen, Verbrennungsprocesse, elektrische Processe, ein Glühen und andere mechanische und chemische Vorgänge stattfinden; zu meinen aber, dass aus ihrer einfachen Gleichsetzung mit geistigen Thätigkeiten damit eine Erklärung der geistigen Thätigkeiten gegeben sei, beweist nur, dass der Materialismus das Problém gar nicht kennt, dessen Lösung er zu besitzen glaubt." "Durch keine zu ersinnende Anordnung oder Bewegung materieller Theilchen lässt sich eine Brücke in's Reich des Bewusstseins schlagen", bemerkt DU BOIS - REYMOND 5). „Es scheint zwar bei oberflächlicher Betrachtung, als könnten durch die Kenntniss der materiellen Vorgänge im Gehirn gewisse geistige Vorgänge und Anlagen uns verständlich werden. Ich rechne dahin das Gedächtniss, den Fluss und die Association der Vorstellungen, die Folgen der Uebung, die specifischen Talente u. d. m. Das geringste Nachdenken lehrt, dass dies Täuschung ist. Nur über gewisse innere Bedingungen des Geisteslebens, welche mit den äusseren, durch die Sinneseindrücke gesetzten etwa gleichbedeutend sind, würden wir unterrichtet sein, nicht über das Zustandekommen des Geisteslebens durch diese Bedingungen. Welche denkbare Verbindung besteht zwischen Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, andrerseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definirbaren, nicht wegzuleugnenden Thatsachen: ich fühle Schmerz, fühle Lust, ich schmecke süss, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Roth, und der eben so unmittelbar daraus fliessenden Gewissheit: also bin ich? Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, dass es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- u. s. w. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, 4) FRIEDRICH HARMS, Abhandlungen zur systematischen Philosophie. Berlin, 1868, S. 266. 5) E. DU BOIS-REYMOND, Grenzen des Naturerkennens. S. 25 f. wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden." Jener berühmte Cartesianische Satz, der noch stets seitdem der Ausgangspunct aller Philosophie geblieben ist, der Satz: dass wir uns am zweifellosesten unseres geistigen Daseins bewusst sind, ist bei den Materialisten fast durch sein Gegentheil vertreten: während für sie alle übrige Realität einfach selbstverständlich ist, würden sie, wenn es nur irgend anginge, das geistige Leben, das in ihr System so gar nicht passen will, am liebsten ganz leugnen! Von dem Bewusstsein der inneren Unhaltbarkeit des Materalismus ausgehend, und dabei dennoch die Annahme der Urzeugung, des Hervorgehens des Animalen aus dem Anorganischen, für unvermeidlich haltend, haben nun denkende Forscher sich einem spiritualistischen Monismus wieder zugewendet, der, schon seit den alten Hylozoisten und seit EMPEDOKLES, in der Geschichte der Philosophie sehr hervorragende Repräsentanten aufzuweisen hat, als dessen Hauptvertreter aber vielleicht BRUNO anzusehen ist. Und der Nolaner erklärt: ,,Moses, da er die Entstehung der Dinge beschreibt, führt das allgemeine wirksame Wesen also redend ein: die Erde bringe hervor lebendige Thiere, das Wasser bringe hervor sein Lebendiges: - so viel als überhaupt: es bringe die Materie hervor;" und dieses ist zu interpretiren: die Materie sei so beschaffen, dass sie hervorbringen kann. So sagt nun ZÖLLNER: die uns in der Natur thatsächlich vorliegenden Empfindungsphänomene lassen sich nicht aus den bisher der Materie beigelegten Eigenschaften, zeitlichen und räumlichen Beziehungen, die durch „Kräfte“ in ein gesetzmässiges Causalverhältniss gebracht sind, erklären; wir müssen daher die allgemeinen Eigenschaften der Materie hypothetisch um eine solche vermehren, welche die einfachsten und elementarsten Vorgänge der Natur unter einen gesetzmässig damit verbundenen Empfindungsprocess stellt.“ „Dass wir die Fähigkeit zur Empfindung nur der höher organisirten Materie beilegen, geschieht lediglich auf Grund einer unvollständigen Induction mit Hülfe eines Analogieschlusses. Wären wir im Stande, vermöge feiner ausgebildeter Sinnesorgane, die gruppenweise geordneten Molecularbewegungen eines Krystalles zu beobachten, wenn derselbe an irgend einer Stelle gewaltsam verletzt wird: wir würden wahrscheinlich unser Urtheil, dass die hierdurch erregten Be |