Dr. med. Iwan Bloch
Spezialarzt für Sexualleiden in Berlin Charlottenburg.
»Das Sexualleben unserer Zeit<< >>Ursprung der Syphilis<<
Mit einem Namen-, Länder-, Orts- und Sachregister
Erstes bis zehntes Tausend
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(zugleich Einleitung zum Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen).
Der Name und Begriff einer umfassenden wissenschaft" ist im Jahre 1906 von mir gebildet und in die Wissenschaft eingeführt worden, wo er sich rasch Bürgerrecht erworben hat und von autoritativer Seite als der treffendste Ausdruck für eine durchaus selbständige, weit über den bisherigen rein medizinischen Rahmen hinausgehende Sonderwissenschaft anerkannt worden ist. So schrieb kein Geringerer als Albert Eulenburg in einer Besprechung meines Buches ,,Das Sexualleben unserer Zeit" in der ,,Deutschen Literaturzeitung" 1907:,,Mancher Leser wird gewiß einigermaßen überrascht und vielleicht sogar etwas bestürzt aufblicken, wenn ihm in der Vorrede des Bloch'schen Werkes plötzlich das Wort Sexualwissenschaft" entgegenspringt - und noch dazu gleich in voller Wehr und Rüstung, wie die zeusentsprungene Wissensgöttin selbst, schwer belastet mit den Ansprüchen eines schon zu voller Entfaltung gediehenen, enzyklopädisch aus- und durchgearbeiteten, selbständigen Forschungsgebietes
vor ihn dahintritt. Und doch werden wir uns bei einer nicht allzu weit. zurückgreifenden geschichtlichen Betrachtung eingestehen dürfen and müssen, daß dieser anfangs beanstandete Ausdruck genau das Richtige trifft und jedenfalls dem Werke, dem er als gewissermaßen programmatische Bezeichnung vorangeht, in Wahrheit den Stempel einer innerlichen und äußerlichen Existenzberechtigung aufdrückt. Warum sollten auch dem vielverästelten und zu immer größerer Höhe emporsteigenden Baume, dem wir unser Wissen so gern vergleichen, nicht neue Seiten
triebe entstehen, neue Zweige sich ansetzen, wenn der Saft in ungeahnt mächtiger Fülle immer und immer wieder einzelnen Stellen zufließt das heißt, wenn sich die Summe der Tat- sachen, Erfahrungen, erkennbaren Beziehungen, die ja den alleinigen Inhalt unseres Wissens ausmachen, nach bestimmten Richtungen hin für gewisse Lebens- und Forschungsgebiete mit einem Male in früher unerhörter Massenhaftigkeit anhäuft und verdichtet?" Aehnlich zustimmend äußert sich der geistvolle Georg Hirth in einer im April 1907 in der „Jugend“ er- schienenen Rezension, betitelt ,,Sexualwissenschaft!" (wieder ab- gedruckt in seinem Buche,,Wege zur Heimat", München 1909, S. 477-478), wo er die Sexualwissenschaft ,,die letzte und jüngste aller Wissenschaften, trotzdem die wichtigste" und mein Buch,,den ersten, wirklich groß angelegten Versuch einer Um- schreibung der neuen Wissenschaft" nennt. Kurze Zeit darauf haben auch Magnus Hirschfeld und Hermann Roh- leder den Ausdruck,,Sexualwissenschaft" akzeptiert, der erstere durch Herausgabe seiner vortrefflichen ,,Zeitschrift für Sexualwissenschaft", die leider nur ein Jahr (1908) bestanden hat, der letztere durch Schaffung einer besonderen Rubrik ,,Sexual wissenschaft" für seine Kritiken auf diesem Gebiete im,,Reichsmedizinalanzeiger" (seit 1908). Zahlreiche andere Autoren haben dann in den letzten Jahren die Berechtigung des Begriffes einer besonderen selbständigen,,Sexualwissen- schaft anerkannt, der heute in fast allen wissenschaftlichen medizinischen, anthropologischen und auch juristischen und theologischen Zeitschriften anzutreffen ist.
Schon wenige Monate nach dem Erscheinen der ersten systematischen Darstellung der Sexualwissenschaft, meines Werkes ,,Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur" (Berlin 1907), forderte mich der be- kannte Psychologe Willy Hellpach auf (vgl. seinen Artikel ,,Sexualpsychologie" im ,,Tag" Nr. 168 vom 4. April 1907), ein größeres ,,Handbuch der Sexualwissenschaft“ zu schaffen, wobei er natürlich nicht an eine bloße (etwa durch Illustrationen schmackhafter gemachte) Wiederholung oder Nachahmung meines ,,Sexualleben" dachte, sondern an eine wissenschaftliche Durchdringung aller sexu- ellen Einzelprobleme, an ihre völlige Neubearbei- tung und neue Grundlegung in größeren Einzeldar-
stellungen auf Grund der von mir schon 1902 in den ,,Beiträgen zur Aetiologie der Psychopathia sexualis" inaugu- rierten und in dem ,,Sexualleben" weiter durchgeführten an- thropologisch ethnologischen Forschungsmethode. Denn eine bloße Zusammenfassung des bisher Geleisteten kann uns nicht mehr genügen. Nunmehr handelt es sich um die exakte Begründung der Sexualwissenschaft als einer reinen Wissenschaft für sich, es handelt sich um die kritische Einzelbearbeitung der zahlreichen noch ungelösten und ungeheuer komplizierten Fragen auf diesem Gebiete. Die Doppelnatur des Geschlechtstriebes, seine biologische und kulturelle Seite, läßt uns die ganze Schwierigkeit der wissen- schaftlichen Sexualforschung verstehen und es begreiflich er- scheinen, daß auf der einen Seite die Mediziner und Natur- forscher auf der anderen die Theologen, Philosophen, Juristen und Kulturforscher die ,,sexuelle Frage" von ihrem einseitigen Standpunkte aus lösen zu müssen glauben. Schon aus dieser Tatsache ergibt sich die Notwendigkeit einer Begründung der Sexualwissenschaft als einer reinen Wissenschaft für sich, die nicht, wie bisher, als Anhängsel irgendeiner anderen Wissenschaft aufgefaßt werden darf, oder etwa, was völlig widersinnig ist, diese ganz verschiedenen Disziplinen als ,,Sexualwissenschaf ten" (!) zusammenfaßt. Wo- hin das führen würde, hat die rein medizinisch-kli- nische Betrachtungsweise von Krafft Ebings, des eigentlichen Begründers der modernen Sexualpathologie, seiner Vorgänger und Nachfolger gezeigt, unter denen manche schon die Wissenschaft bereichert zu haben glauben, wenn sie neue Spezialfremdwörter ohne begrifflichen Inhalt bilden, während es doch gerade hier vor allem auf die kritische Untersuchung der tatsächlichen Vorgänge ankommt. Die Sexualwissenschaft ist weder ein untergeordneter Teil der Psychiatrie und Neu- rologie, die ja in ihren hervorragendsten Vertretern noch heute alles Sexuelle beinahe als eine quantité négligeable betrachtet, noch (wenn man z. B. an die Prostitution denkt) der Venero- logie. Und wenn sich heute Aerzte von dem Augenblick an, wo sie sich ausschließlich mit den Problemen der Sexualwissen- schaft beschäftigen, als ,,Spezialärzte für psychische und ner- vöse Leiden" bezeichnen, so ist das ein Rückschritt und eine bedauerliche Inkonsequenz und wenig geeignet, die für mich
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