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nach wie vor an der Spitze der Regierung bleiben und die wunderbare Idee, als Parlamentarier die politische Thätigkeit fortzusetzen, wenn sie je ernstlich gedacht war, wird nicht mehr discutirt werden können. Wir glauben auch, troß aller Geistesgaben und des schweren Gewichts seines Namens, würde selbst Bismarck nicht im Stande sein, auf dem Parquet des Reichstages neben den altgedienten Parteiführern, einem Miquel, Bennigsen oder Lasker, diejenige herrschende Stellung einzunehmen, ohne welche wir uns nun einmal diesen Mann nicht denken können.

Es ist übrigens ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß zu gleicher Zeit mit dem Haupte der Regierung auch der zur Zeit vielleicht hervorragendste und einflußreichste Führer der Volksvertretung, Laster, unter der übermenschlichen Laft der Geschäfte zusammenzubrechen drohte. Es war etwas Prophetisches, als er in einer seiner letzten Reden die Nothwendigkeit betonte, durch erhöhte Leistungen der Selbstverwaltung der Regierung und den Abgeordneten einige Entlastung zu Theil werden zu lassen, und auf alle die müden Männer am Ministertische und in den parlamentarischen Reihen hinwies. Wenige Tage später lag er selbst todtkrank darnieder und, wenn auch die täglichen Bulletins, welche die „Nationalztg." über sein wie eines gekrönten Hauptes Befinden auszugeben pflegt, jezt etwas befriedigender lauten und die schwerste Krisis überstanden sein soll, so wird doch lange Monate die Thätigkeit dieses Mannes brach liegen, und das ist ein schwerer Verlust, zumal in einer Zeit, wo die Reform der Verwaltung und dann die Berathung der großen Reichsjustiz gesetze die Arbeit Laskers ganz besonders in Anspruch genommen haben würden. Hoffen wir, daß die schmerzliche Muße des Krankenlagers diese rüstige Kraft nicht allzulange gefangen halte!

Die parlamentarischen Vorgänge sind zur Zeit nicht von besonderem Belang. Es werden die Etats der verschiedenen Ministerien durchberathen, mancherlei Klagen und Wünsche über Einzelheiten vorgebracht, vom Ministertische Besserung und Abstellung verheißen, Alles ohne sonderliche Erregung oder erhebliche Differenzen. Von allgemeinerem Interesse war in den leyten Tagen nur die Wiederholung der bereits aus früheren Sessionen bekannten schleswigholsteinischen Tebatte über die Zwangsanlchen von 1849 und 1850. Die Regierung hat in den diesjährigen Etat eine Summe von 1,200,000 Mart als Ersag für die durch die Kriegsereignisse jener Jahre belasteten Communen aufgenommen, mit der stillschweigenden Bedingung, daß sich die unangenehmen Mahner damit zufrieden geben würden. Ist doch die staats- und völkerrechtliche Verpflichtung zur Uebernahme jener Anleihe, trotz der glänzenden Rede des Abgeordneten Hänel, eine keineswegs unzweifelhafte. Die schleswig Holsteinischen Abgeordneten sind jedoch mit dieser Abfindung nicht zufrieden und wollen dieselbe lieber zurückweisen, als durch Annahme des Geschenks ihre

Rechte aufgeben, und voraussichtlich wird das Haus, welches gegen die anspruchsvollen nordalbingischen Brüder auch früher eine vielleicht zu weit gehende Connivenz bewiesen, sich jenem Antrage anschließen und der Regierung mehr Freigebigkeit und Entgegenkommen in dieser vielerörterten Frage anempfehlen. Die schleswigholsteinische Zwangsanleihe wird also auch diesmal nicht von der Tagesordnung verschwinden.

Auch das eigenthümliche Verhältniß des Fürstenthums Waldeck kam wieder einmal im Abgeordnetenhause zur Sprache. Dieser unter preußischer Verwaltung stehende souveräne Staat erfordert bekanntlich einen namhaften Zuschuß aus der preußischen Staatskaffe, und da der „Accessionsvertrag“ demnächst abläuft, so macht sich in der Presse und der Volksvertretung die Meinung geltend, es sei Zeit, diesem kostspieligen und auf die Dauer unhaltbaren Zustande ein Ende zu machen. Kein Mensch auf der ganzen Welt, auch nicht der loyalste Waldecker, hätte etwas gegen die vollständige Einverleibung in den preußischen Staat einzuwenden, und der Fürst selbst wäre bereit, seine Krone auf dem Altar des Vaterlandes niederzulegen, wenn ihm eine genügende Entschädigung in Baar zu Theil würde. Die schönen Domänen reizen schon lange seine Begier. Allein es ist nicht abzusehen, wie über diese finanzielle Lebensfrage eine Verständigung möglich sei. Es wird denn wohl auch die Kündigung des Vertrages unterbleiben, und die staatliche Mißbildung, welche in jenem Ländchen zur Erscheinung kommt, noch auf eine weitere Reihe von Jahren ihre seltsame Existenz fortführen.

Ein anderer Posten, der in dem diesjährigen Etat erscheint, dürfte ebenfalls allgemeineres Interesse in Anspruch nehmen: es ist die für den Bau einer Begräbnißstätte für das preußische Königshaus geforderte Summe. Wenn unsere kaiserliche Familie im Leben Wohnstätten besißt, die durch Einfachheit und Bescheidenheit hervorragen und kaum mit den Palästen reicher Privatleute concurriren können, so ist die Königsgruft im Dome geradezu unwürdig und bei hohem Wasserstande der nahen Spree nicht einmal vor Beschädigung und Zerstörung sicher. Schon Friedrich Wilhelm IV. hatte im Zusammenhang mit dem seit Jahrzehnten geplanten Neubau des Domes die Errichtung einer neuen Begräbnißstätte für das königliche Haus in Angriff genommen; allein das Werk gerieth ins Stocken und liegt jetzt buchstäblich in wüsten Trümmern. Diese Anfänge sollen nun wieder aufgenommen und vollendet werden, nach einem, wenn auch nicht pruntvollen und imposanten, so doch würdigen und edlen Plane, und zugleich soll eine Reihe von Grüften zur Begräbnißstätte ausgezeichneter Männer der Nation mit dem Campo santo des Königshauses verbunden werden. Von dem Neubau des Domes ist vorläufig Abstand genommen, und Gott weiß, wenn endlich diesem verunglückten Gebäude die zeitgemäße und nothwendige Verjüngung wird zu Theil werden. Eine Con

currenz, die vor einigen Jahren ausgeschrieben worden war, hat keine brauchbaren Projecte ergeben und wird wohl demnächst erneuert werden. Es schwebt ein eigener Unstern über der Berliner Architektur. So vieles von monumentalen Bauten ist entworfen und geplant und kann das Licht des Tages nicht erblicken, oder wenn es zur Ausführung kommt, bietet es dem kritischen Geschmack Blößen in Menge. Was seit Schinkels und Rauchs Tagen die Architektur und Plastik in Berlin zur Verschönerung des Aeußern der Stadt beigetragen, ist nicht der Rede werth.

Um uns von diesem kunsthistorischen Excurs zu den Saisonbegebenheiten unserer Residenz und insonderheit zu den Theatervorgängen zu wenden, so ist noch immer das Gastspiel des Herrn Siegwart Friedmann im „Stadttheater“ das meistbesprochene Ereigniß. Sein „Richard III.“ ist, von einer bisweilen hervortretenden Effecthascherei und Uebertreibung abgesehen, eine meisterhafte Leistung, die sich eines allgemeinen und enthusiastischen Beifalls erfreut. Das neueste Product des österreichischen Volks- und Naturdichters Anzengruber, „Hand und Herz“, welches Friedmann uns vorführte, hätte allerdings ohne Schaden für Bildung und Geschmack uns noch länger unbekannt bleiben können. Hören Sie nur, aus welchem Stoff man heutzutage Trauerspiele schmiedet! Da ist ein Bauer, der sein Weib durch seine Liederlichkeit ins Unglück und sich selbst ins Zuchthaus gebracht hat. Das Weib verdingt sich bei einem andern Bauer als Magd, gewinnt dessen Herz und Hand, getraut sich aber nicht, dem zweiten Gatten von ihrer Vergangenheit und ihrer noch bestehenden Ehe zu erzählen. So leben sie glücklich und tugendhaft und das Weib hat beinahe die Bigamie vergessen. Da erscheint der besagte Lump aus dem Zuchthaus wieder auf der Fläche und fordert sein Gemahl zurück. Daraus entsteht begreiflicher Weise ein peinlicher Conflict, welchen der „Dichter“ mit größtmöglicher Plumpheit und Rohheit löst. Der zweite Mann erschlägt den ersten, das Weib stürzt in einen haushohen Abgrund u. dergl.; dazwischen wird ein gänzlich unmotivirter Mönch zu den banalsten Phrasen verwerthet. Daß ein Wiener Vorstadtpublikum an solchen häßlichen Dingen sich erbauen. kann, wollen wir glauben; warum aber ein begabter Schauspieler einen se widerwärtigen Stoff gebildeten Kreisen vorführt und seine ganze reiche Mimenfunst daran verschwendet, ist uns unbegreiflich. Die Rolle dieses wüsten und verkommenen Menschen hat ja sicherlich bei solchem Spiel des Ergreifenden und Erschütternden genug, allein die Vorführung derartiger Rohheiten ist und bleibt ein Mißbrauch der Dicht wie der Schauspielkunst.

Seit einigen Tagen ist uns auch wieder der Genuß einer italienischen Oper vergönnt. Frau Artot und Herr Padilla mit ihrer kleinen Gesellschaft haben ihr aus früheren Jahren wohlbekanntes und wohlbeliebtes Gastspiel wieder aufgenommen, ohne es freilich bis jetzt zu einem großen Erfolg ge

bracht zu haben. Die beiden genannten Gäste, deren Vorzüge ja allbekannt sind, haben den Höhepunkt ihrer Kunst und Leistungsfähigkeit um eine Kleinigkeit bereits überschritten, und die andern Kräfte würden kaum einer Provinzialbühne genügen. Die Flotow'sche „L'Ombra“ mit ihrem langweiligen Text und ihrer monotonen matten Musik, eine Oper, in der wir den graziösen Componisten von „Martha“ kaum wiedererkennen, ist auch wenig genug angethan, Begeisterung zu erwecken. Zu einer italienischen Oper im großen Stil dürfte Berlin in der jetzigen Zeit allerdings kaum die socialen Vorbedingungen besißen. D.

Literatur.

Siegelringe. Eine ausgewählte Sammlung politischer und kirchlicher Feuilletons. Bon Ferd. Kürnberger. (Hamburg bei Otto Meißner.) — Während der Belagerung von Paris wurden unsere Schanzgräber in nächtlicher Weise häufig durch einen blendend hellen Schein belästigt, welcher aus einem der forts détachés auf sie gerichtet wurde und ihre geheime Thätigkeit plötzlich dem Feinde preisgab. Diesen elektrischen Lichtern ist Vieles in dem obigen Buche zu vergleichen; nicht am wenigsten die Plößlichkeit, die Ungewöhnlichkeit, ja das zu Grelle, das die Kraft des Auges schmerzlich Ueberanstrengende ; mehr freilich noch die Ueberlegenheit, die Schärfe, die bloßstellende Wirkung. Um die Vorzüge und ebenso die scheinbaren Mängel der Vortragsweise des Verfassers gerecht zu würdigen, muß man sich gegenwärtig halten, daß die Hörer, denen seine Feuerpredigten galten, gleichzeitig ihre Ohren offen hatten für Redner ganz entgegengesetter Meinung. Schade daß uns nicht zum Verständnisse der jedesmaligen Situation Proben beigebracht werden aus der undeutschen Strömung, welche die österreichische Presse, wie die österreichische öffentliche Meinung in der Zeit von 1866, von 1870 durchfluthete. Jetzt hören wir immer blos die von Spott, von Wig, von Groll, von Zorn, von patriotischer Leidenschaft bunt und schier verwirrend erfüllten Rufe und Ergüsse des einen Theils und wenn unser Herz dadurch auch freudig bewegt wird und die Energie der Ueberzeugung uns nicht minder fesselt, als die gedrungene Kraft des Ausdrucks, so empfinden wir den minder in die Verhältnisse Eingeweihten doch nach, daß sie nicht immer im Stande sind, sich klar zu machen, wie die Gegenpartei so harte Züchtigungen über sich heraufbeschwor. Züchtigungen sind sie aber zumeist. Kürnberger, voll von unvergleichen Einfällen, wie man ihn längst kennt, bedient jene anonymen Scribler, die ihn als im Solde Preußens stehend verkeßern, in einem dieser Feuilletons sogar

geradezu mit einer „Ohrfeige". Freilich nicht nach Art Derer von und zu Caffagnac. O nein, das würde schon sein Widerwillen gegen alles Französische nicht zulassen. Das Pfaffenthum muß ihm die Formel borgen. Und so lasen die erstaunten Wiener denn eines Tags, als sich eben alle Welt von einem neuen hundertjährigen vollkommenen Ablasse unterhielt, einen Artikel, überschrieben:

„Eine hundertjährige vollkommene Ohrfeige".

Man kann solchen Nothhülfen nicht hold sein, auch nicht im activen Sinne, und wird doch nicht ohne das Gefühl sie haben's verdient" den Commentar zu dieser Execution lesen.

Eine der unnachahmlichsten Abstrafungen ist der Brief an Victor Hugo mit dem sachgemäßen Titel: „Ein Tollhäusler mehr". Wer das in allen Zeitungen abgedruckte Sendschreiben damals Anno 1870 -- las, als es mit den Siegesbulletins unserer Heere von einer Hand in die andere ging, hat auch für die meisten übrigen Blätter dieses hochinteressanten Buches den Maßstab. Die Spannung der Atmosphäre hat sie zu verantworten. Aus ihr erklären sie sich, ihr entlichen sie die zündende Wirkung, ihrer muß man sich zu erinnern wissen, wenn man sich ganzem und vollständigem Genusse bei der Lectüre hingeben will; kann man das nicht, so ermesse man wenigstens mit erkenntlichem Gemüthe, was wir Männern, wie Kürnberger, zu danken haben, nicht nur insofern sie nach dem 1866er Kriege sich der galligen schwarzgelben Strömung beherzt und erfolgreich entgegenstemmten, mehr noch, indem sie zur Zeit, als Anno 1870 die Franzosen gemeinsam mit Dester reich uns zu Paaren zu treiben hofften und als Minister v. Beust in seiner Depesche vom 20. Juli die Worte schrieb: „Wir denken an Napoleon ebenso viel, wie an uns", die Fahne des Deutschthums in Wien hoch und immer höher hielten, bis Napoleons Untergang den österreichischen Staatsmännern ohnehin die Lust zum Marschirenlassen benahm. R. Wr.

Meyers Conversations-Lexikon. 3. Auflage. (Leipzig, Biblio graphisches Institut.) — Bereits die erste Hälfte des 4. Bandes liegt uns von dem vortrefflichen Werke vor. Sie umfaßt die Artikel Buren bis Chouans und ist wie ihre Vorgänger mit Karten und Abbildungen reichlich geziert. Man braucht nur den Artikel,,China", der für sich fast eine anständige Brochüre bilden würde, zu vergleichen, um dem großartigen Unternehmen wegen seiner Reichhaltigkeit, seines Strebens präcis das Richtige überall zu geben, die verdiente Anerkennung zu zollen und ihm einen gedeihlichen Fortgang zu wünschen.

Berantwortlicher Redacteur: Konrad Reichard in Leipzig.
Ausgegeben: 5. März 1875. Berlag von S. Hirzel in Leipzig.

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