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Schriften, Bd. 2, S. 301), »Gedanken laut werden zu lassen, die man einst kaum gewagt hatte, sich selbst zu gestehen, Gesinnungen zu äußern, die man sich selbst nicht hatte gestehen dürfen; bald ward es etwas Schönes, dieses Alles zur Schau zu tragen. Ich war siebzehn Jahre alt, als Werther erschien. Vier Wochen lang habe ich mich in Thrånen gebadet; nicht über die Liebe und das Schicksal des armen Werther, sondern in der Zerknirschung des Herzens und im demüthigenden Bewußtsein, daß ich nicht so dachte, nicht so sein könne, als dieser da. Ich war von der Idee befallen, wer fåhig sei, die Welt zu erkennen, wie sie wirklich ist, müsse so denken, müsse so sein«.

Und diese unterwühlende Wirkung erstreckte sich nicht blos auf Deutschland, sondern über ganz Europa, über die ganze gebildete Welt.

Während der Dichter sich durch seine Dichtung von seinen Leiden und Verstimmungen befreit hatte, mußte er es erleben, daß seine Dichtung die kranke siechende Zeitstimmung beförderte, ja erst zum vollen Ausbruch brachte. Man kleidete sich nicht blos in die Tracht Werther's, man wallfahrtete nicht blos zu seinem Grabe; es fehlte auch nicht an Solchen, die gleich ihm in eitler Weltverachtung den Tod suchten. Werther hat mehr Selbstmorde verursacht als die schönste Frau, sagt spottend Madame Stael.

Niemand erschrak über diese furchtbare Erregung der Geister mehr als der Dichter selbst. Es hat sich das Bruchstück einer Vorrede erhalten, (vgl. Schöll. Briefe und Aufsätze, S. 146), welche wahrscheinlich für die im Uebrigen unveränderte zweite Auflage aus dem Jahr 1775 bestimmt war. Dieses Bruchstück legt dem Leser ans Herz, er solle aus dem Büchlein nicht den Hang zu unthåtigem Mißmuth in sich vermehren, sondern es vielmehr als einen tröstenden warnenden Freund betrachten, wenn er aus Geschick oder eigener Schuld keinen nåheren finden könne. Der richtige dichterische Sinn hat Goethe vor der Aufnahme dieser

166 Goethe's Erwin u. Elmire u. Claudine v. Villabella.

moralisirenden Vorrede bewahrt. Goethe begnügte sich, auf das Titelblatt des zweiten Theils den Vers zu sehen: »Sieh, Dir winkt sein Geist aus seiner Höhle; sei ein Mann und folge mir nicht nach!« Aber auch dieser Zusatz wurde spåter wieder beseitigt.

Es galt das Phantastische abzuwerfen, und den wahren, nicht mit der Welt grollenden, sondern versöhnten Idealismus zu finden. Hier liegen die Keime des Tasso und des Wilhelm Meister.

Erwin und Elmire. Claudine von Villabella.

Stella.

Im Sommer 1773 meldet Goethe an Kestner (S. 185), daß bald ein Lustspiel mit Gesången fertig sei, ohne großen Aufwand von Geist und Gefühl auf den Horizont der Acteurs und der Bühne gearbeitet. Es ist das Singspiel »Erwin und Elmire« gemeint. Und im Mai 1775, als Erwin und Elmire bereits in der Fris erschienen und Claudine von Villabella in der Handschrift vollendet war, schrieb Goethe an Herder (Aus Herder's Nachlaß Bd. 1, S. 54), er werde sich årgern, in diesen Frescomalereien gutgefühlte Natur neben scheußlichen Gemeinplåßen zu sehen.

Es sind Nachahmungen der französischen Operetten und der beliebten kleinen deutschen Singspiele; flüchtig skizzirte Einfälle, ansprechend durch zarten lyrischen Hauch, aber ohne tiefere Bedeutung. Und selbst als Goethe während seines Aufenthalts in Rom behufs der neuen Gesammtausgabe seiner Werke diese Singspiele durch Verfeinerung der Motive und durch Umbildung der Prosa in Verse zu höherem künstlerischen Werth zu erheben und, wie er (Bd. 24, S. 147) sich ausdrückt, aus ihnen die alte Spreu hinauszuschwingen versuchte, blieben seine Bemühungen ohne durchgreifenden Erfolg; zumal Kayser, dem er die Komposition anvertraute, nur ein sehr untergeordneter Musiker war.

Stella dagegen, im Februar und März 1775 gedichtet, wurzelt wieder ganz und gar in der Wertherstimmung.

Freilich in der unerfreulichsten Weise. Die erste ursprüngliche Gestalt der Stella, die den seltsamen Titel »Ein Schauspiel für Liebende« führte, ist mit vollem Recht ein verzerrter Werther genannt worden. Während Werther ein tragisches Ende nimmt, weil in der gegebenen Situation keine andere Wahl blieb, als daß entweder Werther oder Albert weichen mußte, wird hier versucht, dieselbe Situation heiter und versöhnend zu lösen. Zwei Frauen gewinnen es über sich, dem gemeinsam Geliebten gemeinsam Gattin zu sein.

Der Name »Stella« deutet auf Swift's Verhältniß zu Stella und Vanessa. Urlichs hat auf Grund der von ihm herausgegebenen Briefe Goethe's an Johanna Fahlmer (1875) die Ver= muthung aufgestellt, daß diesem Stück die heimliche Liebe Johanna's zu Fritz Jacobi zu Grunde liege. Die Eingeweihten verstanden die persönliche Beziehung. Johanna freute sich der Dichtung, Jacobi fühlte sich aufs tiefste verleht.

Wie sich der Dichter die Stimmung dachte, welche er hervorbringen wollte, spricht der schöne Vers aus, mit welchem er 1776 das Stück an Lili schickte: »Empfinde hier, wie mit allmåcht'gem Triebe, ein Herz das andere zieht, und daß vergebens Liebe vor Liebe flieht.« Unstreitig aber ist Stella das Krankhafteste, was Goethe geschaffen hat. Der Abschluß, daß Fernando als ein moderner Graf von Gleichen mit beiden Frauen lebt, ist und bleibt eine Vertheidigung der Doppelehe, eine Vertheidigung der ungezügelten sophistischen Selbstsucht des Herzens- und Sinnentaumels. Merck (Briefe. Erste Sammlung, S. 59 ff.) sprach diesen Vorwurf sogleich offen gegen den Dichter selbst aus.

Es wåre unbegreiflich, wie Goethe dieses Stück schreiben und wie dieses Stück selbst bei einigen der Besten unter den Zeitgenossen Bewunderung finden konnte, wenn die Sturmund Drangperiode mit ihrem rücksichtslosen Pochen auf die unveräußerlichen Rechte des Herzens nicht allgemein die leichtfertigsten Ansichten über Wesen und Ausschließlichkeit der Ehe

gehegt håtte. Was Stella als Dichtung schildert, in Bürger's Liebe zu Molly war es geschichtliche Thatsache. Schlimmer als Stella ist das Lustspiel von Jacob Lenz: »Die Freunde machen den Philosophen«. Man denke an Schiller's Freigeisterei der Leidenschaft! Man denke selbst an Jacobi's Woldemar! Die Liederlichkeiten der sogenannten Romantiker zeigen sich auch hier nur als Fortsehungen der Sturm- und Drangperiode.

Goethe's Stella ist ein schlagender Beweis, daß das Unsittliche auch immer unkünstlerisch ist. Das Stück wirkt von An= fang bis zu Ende verlegend und peinigend. Wie können wir Theilnahme gewinnen für eine Handlung, in welcher der Held ein verbrecherischer Lump und die liebenden Frauen liebekranke Thörinnen sind? Wo ist Wahrheit, wo Ueberzeugungskraft?

Noch 1786 wurde von Goethe das Stück unverändert in die Gesammtausgabe seiner Werke aufgenommen. Auch Schiller, welcher nach Goethe's Bericht (Bd. 35, S. 356) eine Bühnenbearbeitung unternahm, scheint an der bedenklichen Moral keinen Anstoß genommen zu haben. Erst nach den wiederholten Aufführungen, welche im Anfang des Jahres 1806 in Weimar erfolgten, drångte sich dem Dichter die unabweisliche Einsicht auf, daß vor unseren Sitten, die recht eigentlich auf Monogamie gegründet seien, eine Beschönigung der Doppelehe nicht bestehen könne. Er suchte dem Uebel abzuhelfen, indem er der Verwicklung einen tragischen Ausgang gab. In der Ausgabe von 1815 erschien das »Schauspiel für Liebende« zum ersten Mal als Tragödie.

Kann eine veränderte Dachkrönung einem von Grund aus verfehlten Bau aufhelfen? Nur Wenige werden einstimmen, wenn Goethe in einem 1815 geschriebenen Aufsatz (Bd. 35, S. 357) sich rühmt, das Stück habe durch diese tragische Wendung eine Gestalt gewonnen, die das Gefühl befriedige und die Rührung erhöhe.

Die satirischen Possen und Fastnachtsspiele.

Im Göt hatte Goethe das Faustrecht verherrlicht; in den satirischen Possen und Fastnachtsspielen übte er selbst das Faustrecht.

Sie sind meist aus zufälligen und ganz persönlichen Anlåssen entstanden, muntere Nachklånge genial leidenschaftlicher Gespräche mit gleichgesinnten Genossen; in jedem Wort liegt die tolle Lust und Verwegenheit des Improvisirten. »Durch ein geistreiches Zusammensein an den heitersten Tagen aufgeregt«, sagt Goethe im dreizehnten Buch von Wahrheit und Dichtung (Bd. 22, S. 179), »gewöhnte man sich, in augenblicklichen kurzen Darstellungen Dasjenige zu zersplittern, was man sonst zusammengehalten hatte, um größere Kompositionen daraus zu erbauen; ein einzelner einfacher Vorfall, ein glücklich naives, ja ein albernes Wort, ein Mißverstand, eine Paradorie, eine geistreiche Bemerkung, persönliche Eigenheiten oder Angewohnheiten, ja eine bedeutende Miene, und was nur immer in einem bunten rauschenden Leben vorkommen mag, Alles ward in Form des Dialogs, der Katechisation, einer bewegten Handlung, eines Schauspiels dargestellt, manchmal in Prosa, öfter in Versen. Man könnte diese Productionen belebte Sinngedichte nennen, die ohne Schärfe und Spihen mit treffenden und entscheidenden Zügen reichlich ausgestattet waren; unter allen auftretenden Masken sind wirkliche, in jener Societåt lebende Glieder oder ihr wenigstens verbundene und einigermaßen bekannte Personen gemeint; aber der Sinn des Räthsels blieb den Meisten verborgen, Alle lachten, und Wenige wußten, daß ihnen ihre eigensten Eigenheiten zum Scherze dienten.«< Dennoch ragt die Bedeutung dieser satirischen Possen und Neckereien über das blos Zufållige und Persönliche weit hinaus. Mochten immer

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