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D. Das Gebet in der hellenischen Kulturreligion.'

Wie die prophetisch-israelitische Religion, so nimmt die hellenische Religion unter den Religionen der Erde eine Sonderstellung ein. Während die großen antiken Ritualreligionen nur durch die synkretistische Kompliziertheit und den äußeren Prunk des Sakralsystems sich über die primitive Religion erhoben, wuchs in Griechenland aus den primitiven Stammesund Stadtkulten spontan ohne einen gewaltsamen Bruch mit der Vergangenheit und ohne die bewußte Reformarbeit eines philosophischen oder religiösen Genius - eine reinere, freiere und tiefere Frömmigkeit heraus. Die erste Etappe dieses religiösen Fortschrittes bilden die homerischen Gesänge der Ilias und Odyssee. 2 Hier redet die kräftige, naive Religion des lebensfrohen jonischen Rittertums. Wohl steht sie noch ganz im Bannkreis des primitiven Eudämonismus; aber der Unterschied dieser freigeistigen Ritterreligion von der primitiven Volksreligion, die sich in Griechenland durch alle Jahrhunderte hindurch erhielt, ist ein ganz gewaltiger. Die Götter sind losgelöst von ihrer ursprünglichen Natur- oder Ortsgebundenheit, stark anthropomorphisierte, individuelle Gestalten mit scharf umrissenen Charakterzügen. Der olympische Zeus mit seinem Götterstaat ist das Spiegelbild eines jonischen Fürsten, um den sich seine Ritter scharen. Gebet und Opfer sind die einzigen Formen des Kults, in denen die homerischen Helden mit ihren Göttern verkehren. All die Riten der Mantik, Kathartik und Magie, die einen wesentlichen Bestandteil der Volksreligion und selbst der offiziellen Kulte bilden, treten zurück. Über die Furcht vor den unheimlichen Totengeistern, die in jeder Volksreligion lebendig ist, sind Homers Helden erhaben. Wie in Israel der Glaube an Jahwes einzige Macht, so schwächte in Jonien eine aufgeklärte Freigeistigkeit die Toten zu wirkungslosen unterirdischen Schatten ab.

Ihre Vollendung und Vertiefung erfuhr die olympische Religion der homerischen Gesänge in der hellenischen Vollkultur des 5. Jahrhunderts.3 Aschylus, Sophokles, Pindar, Xenophon und Plato sind die Wortführer der vergeistigten Religiosität, welche die gebildeten Schichten des griechischen Volks in seiner klassischen Epoche durchdrang. Hatten die Dichter der homerischen Gesänge die Volksreligion erweitert und geläutert, indem sie ein gemeinhellenisches Pantheon schufen und den Kult aus seiner Verflochtenheit mit dem Zauberwesen befreiten, so haben jene Männer sie verinnerlicht und versittlicht. Die enge Fühlung mit dem lebendigen Kultwesen des Staates bürgte dafür, daß diese Verinnerlichung der traditionellen Religion nicht auf eine Entleerung und Verflüchtigung hinauslief.

Das Gefühl vollständiger Abhängigkeit von höheren Mächten ist in

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jeder Religion lebendig; aber in keiner Religion der Erde von der israelitisch-christlichen abgesehen ist dieses religiöse Grundgefühl so universell, das ganze Denken und Leben durchherrschend wie in der hellenischen. Was ist ohne dich den Sterblichen erreichbar?" heißt es in einem Gebet der äschyleischen Schutzflehenden (823). kommt dem Menschen von Gott. Seine äußere Gestalt, seine Kraft und Schönheit, sein inneres Wesen, Verstand und Charakter: alles ist göttliche Gabe. Was das Leben wechselnd darbietet, in Schicksalen, an äußeren Gütern, dem Einzelnen und den Gemeinschaften der Menschen: der Gott hat es gegeben. . . . Der Grieche fühlte im tiefsten Herzen, wie bald er überall auf die Grenzen seines eigenen Vermögens stieß, wie eng der Kreis sei, in dem sich sein bewußter Wille und zielsetzender Verstand tätig regen könne. Alles, was jenseits dieses Kreises liegt, was dem Menschen kommt ohne sein Zutun, ja ohne sein vorhergehendes Bewußtsein, das verdankt er göttlichen Mächten. Das ist aber in der Fülle des Bleibenden und des momentan Vorübergehenden der größte Teil, fast der ganze Inhalt des Lebens" (Rohde) 4. Mit dem Universalismus des Abhängigkeitsgefühls hängt zusammen, daß die Götter nicht nur Schicksalsmächte sind, sondern ebenso Träger der Kulturideale, zuvorderst der ethischen. Die griechische Religion des 5. Jahrhunderts ist eine ausgesprochen ethische Religion, wie die prophetische Religion Israels. Während wir bei Homer kaum Ansätze zu einer Ethisierung der Frömmigkeit entdecken, sind der Gottesglaube und die Gottesverehrung der klassischen Religion durchaus von ethischen Idealen bestimmt. Zwar treten in vielen primitiven Religionen die Götter - zumal die Urväter — als sittliche Gesetzgeber und Wächter auf; aber in Hellas wurden unter dem Einfluß des fortschreitenden autonomen ethischen Wertgefühls ,,die Götter selbst versittlicht" (Rohde) 5, das sittliche Denken und Tun wird zum Gottesdienst, evoέßeia (Frömmigkeit) und owogooovn (Besonnenheit) fallen σύνη zusammen. Diese Ethisierung der Religion vollzog sich jedoch nicht auf Grund bewußter philosophischer Kritik und Reform der Volksreligion, sondern auf Grund einer spontanen Verfeinerung und Steigerung des religiös-sittlichen Wertfühlens. Aber nicht nur das Ethische wird zum religiösen Wert, zum Heiligen, nein, der ganze Umkreis kultureller Werte, alles, was zum Ideal der xalonáɣavía (,,Schönheit und Güte") gehört, empfängt eine religiöse Weihe: das soziale Gemeinschaftsleben, das künstlerische Schaffen, das wissenschaftliche Erkennen, ja selbst der frohe Lebensgenuß. Die hellenische Religion ist die Kulturreligion überhaupt, sie besaß die Kraft, sich mit allen Kulturwerten zu vermählen und so das ganze soziale und geistige Leben zu durchdringen. „Der Grieche“, sagt der Religionshistoriker Farnell,,,trachtete stets darnach, in seiner Religion für alles, wofür er begeistert war, einen Platz zu finden; eben deshalb spiegelt die griechische Religion so lebendig die Gefühle und Stimmungen des Individuums wider."? Mit dieser Vielseitigkeit vereint die hellenische Religion eine innere Abgeklärtheit und Harmonie, ein Gleichmaß der seelischen Kräfte. Sie kennt keine synkretistische Verworrenheit, keinen massigen Prunk wie die orientalischen Ritual

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religionen, keine Unterbindung des gesunden Affektlebens, keine asketische Weltverachtung wie die indischen Erlösungsreligionen, keine drängende Leidenschaft, keinen verzehrenden Eifer für Gottes heiligen Willen wie die israelitische Prophetenreligion, keine unbändige Reichgottessehnsucht wie die christliche Urgemeinde. Die echte griechische Frömmigkeit kennt auch kein mystisches Streben nach seligem Einswerden mit Gott in der Ekstase, nach Aufhebung der individuellen Schranken jenseits des Bewußtseinslebens: uέroov (Maß) und σωφροσύνη (Besonnenheit sind ihre Ideale; 8 Affektivität und Affektlosigkeit, prophetische Herbheit und mystische Gelassenheit sind ihr fremd. Sie ist im Unterschied von der prophetischen Offenbarungsreligion und von der mystischen Heilsreligion eine natürliche' Religion, freilich nicht eine aus philosophischer Kritik geborene Vernunftreligion, sondern naive, primitive Religion, nur ethisch vertieft und ästhetisch verklärt.

Die Eigenart der hellenischen Religion enthüllt sich nirgends so deutlich wie im Gebet. Das universelle Abhängigkeitsgefühl, das den Griechen der klassischen Kulturepoche beseelt, spricht sich am tiefsten darin aus, daß er bei jeder Angelegenheit die Götter unter Opfern um Hilfe und Beistand anruft.,,Der Opfer- und Gebetsdienst durchdringt alle Verhältnisse des griechischen Volkes in merkwürdiger Ausdehnung; keine religiöse Lehre steht für das öffentliche und häusliche Leben fester, als daß alles mit der Gottheit, das ist mit Gebet und Opfer begonnen werden müsse" (Nägelsbach). Xenophon legt dem Cristobul die Worte in den Mund:,,Ein treffend Wort sprichst du, o Sokrates, wie mir dünkt, aus, wenn du empfiehlst, ein jegliches Werk mit den Göttern zu beginnen; denn die Götter sind die Herren über alle friedlichen und kriegerischen Werke“. 10 Und der platonische Timäus sagt: „Fürwahr, o Sokrates, alle, die nur ein bißchen Weisheit besitzen, rufen beim Beginn eines jeden Werkes, mag es wichtig oder unwichtig sein, überall und allezeit Gott an." 11 Das Gebet bildet den Anfang aller öffentlichen Handlungen, der Volksversammlungen, Feste, Gerichtsverhandlungen, Bündnisse, Verträge und Kriege. 12 Die attischen Redner riefen bei Beginn ihrer Reden die Götter an 13, die athenischen Ratsherrn beteten beim Eintritt ins Rathaus in der dort befindlichen Kapelle des Zeus und der Athene vom Rate. 14 Bei freudigen politischen Ereignissen wie bei kriegerischen Erfolgen wurden Dankfeste (xαgiornoia) veranstaltet, die mit Opfern, Dankgebeten und Liedern verbunden waren. 15 Eine nicht minder wichtige Stelle nahm das Gebet im Privatleben ein. Jede Berufsklasse ruft beim Beginn ihrer Tätigkeit ihre Patrongötter an. 16 Die unscheinbarsten profanen Handlungen erhalten durch Gebet und Opfer eine religiöse Weihe. Ischomachus, die Hauptperson im Xenophontischen Oeconomicus, beginnt den Unterricht seiner Gattin in der Haushaltungskunde nicht eher, als nachdem er gebetet hat, daß ihm sein Lehren, ihr das Lernen zum Heil gereichen möge, 17 Die Athener beteten selbst bei der Öffnung des Weinfasses und Probe des jungen Weines, auf daß der edle Trank ihnen zum Heile gereiche. 18 Die primitive Sitte des regelmäßigen Morgen-, Abend- und

Das Gebet

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Tischgebetes ist stehender Brauch der hellenischen Frömmigkeit. Hesiod spricht von täglichen Morgen- und Abendopfern (opp. 338). Sokrates richtet im Symposion Platons (220 D) am Morgen ein Gebet an die Sonne. Plato bezeugt im 10. Buche der Gesetze (887 E), daß die Hellenen wie Nichthellenen beim Aufgang der Sonne und des Mondes wie bei ihrem Untergang anbetende Ehrfurcht bezeugen. Der Mahlzeit ging ein Gebet voraus oder folgte ihr nach; wie das Tischgebet der Naturvölker wurde es meist von einer primitiven Opferspende (σлоνзý) σπονδή) begleitet 19.

Die Lebendigkeit und Innerlichkeit der griechischen Religion schließt eine Erstarrung des Betens in der Ritualformel aus. Wohl kannte man auch in Griechenland feststehende Gebetsformulare, die im öffentlichen Kult gebraucht wurden. Aber im Unterschied von der römischen Religion ist die Erhörung des Gebets nie an die strenge Einhaltung des Wortlautes gebunden.,,Der Gedanke, daß eine bestimmte Fügung der Worte für die Erfüllung des Gebets von entscheidender Bedeutung sei, ist dem öffentlichen griechischen Gottesdienst fremd und mußte es nach dessen ganzen Charakter sein." (O. Gruppe) 20 Der persönliche Charakter der hellenischen Religion duldete nicht, daß das lebendige Gebetswort zur toten, unpersönlichen Zauberformel verkümmerte. Weil die griechische Religion im Gegensatz zu den großen orientalischen Religionen nicht zu einem komplizierten Ritualsystem sich erweiterte, bewahrte auch das kultische Gebet seinen schlichten, ursprünglichen Charakter. Während das offizielle Gebet im öffentlichen Kult eine gewisse, innerlich notwendige Gebundenheit aufweist, scheint das individuelle Privatgebet der intellektuellen Schichten über alle Formelhaftigkeit erhaben gewesen zu sein. Soweit wir aus den dürftigen literarischen Dokumenten schließen können, zeichnete sich die Gebetsfrömmigkeit der gebildeten Hellenen durch dieselbe Spontaneität und Freiheit aus, die wir im Gebetsleben der großen israelitischen und christlichen Persönlichkeiten treffen. Marc Aurels (V 7) Charakteristik des athenischen Betens als ἁπλῶς καὶ ἐλευθέρως εὔχεσθαι (schlichten und freien Betens) gilt für die hellenische Religion überhaupt. Die Gebetsworte sind der unmittelbare Ausdruck der erlebten Stimmungen, Wünsche und Wertgefühle.

Dem Reichtum seelischen Erlebens, der in der griechischen Religion sich offenbart, entspricht die Mannigfaltigkeit der Gegenstände, um die der Grieche im Gebet fleht. Alles, was er als wertvoll und ideal erlebt, spricht er im Gebet vor seinen Göttern aus. Der primitive Mensch betet nur um Glücksgüter; die Bitte um sittliche Werte ist ihm fremd. Alle antiken Religionen, die chinesische, vedische, babylonische, ägyptische und altamerikanische, die altrömische und die griechisch-homerische Religion stehen noch im Bannkreis des rein eudämonistischen Betens; das ethische Wertgefühl hat hier nur selten jene Kraft erlangt, um analog dem elementaren Lebensgefühl eine Bitte zu motivieren. In der Religion der hellenischen Vollkultur vollzog sich ähnlich wie in der israelitischen Prophetenreligion eine umfassende Ethisierung des religiösen Erlebens; hier wie dort rückt die Bitte um ethische Werte ins

Zentrum des Betens. Callimachus stellt an die Spitze seines Gebets die Bitte um sittliche Tüchtigkeit:,,Gib Tugend und Reichtum, gib Tugend und Glück.“ 21 Hesiod erblickt in der Bitte um das stete innere Festhalten am ethischen Ideal das beste Gebet. Im Wettstreit mit Homer richtet er an diesen die Frage:

,,Was ist das Beste, um das man beten soll zu den Göttern ?" Homer antwortet:

,,Wohlgesetzlich zu sein (evvoμov elvaι) in seinem Herzen auf immer".

Die religiösen und sittlichen Ideale faßt der Hellene in den Worten σωφροσύνη (Besonnenheit, Tugendhaftigkeit) und εὐσέβεια (Frömmigkeit) zusammen; beide bilden einen wichtigen Gegenstand der Bitte. In dem Totenopfer des Äschylus bittet Elektra ihren verstorbenen Vater:

,,Laß selber mich ein tugendhafter Weib

Als meine Mutter werden und viel fr ömmer" (142 f.).
Beschieden sei mir Besonnenheit,

der Götter herrlichstes Geschenk,"

betet der Chor in der Medea des Euripides (635 f.). Für den Sokrates im platonischen Phädrus wird das ethische Persönlichkeitsideal zu einem Gebetsanliegen; seine Bitte:,,O lieber Pan und alle hier weilenden Götter, laßt mich innerlich schön werden" (dointέ μoi nal yevéodau tavdodev 279 B) ist das reifste Gebet des hellenischen Geistes. Im Gebet der Spartaner kommt die ihnen eigene herbe, willensmäßige Festigkeit zum Ausdruck; sie bitten nach Plutarchs Zeugnis um die Kraft, Unrecht mit männlicher Standhaftigkeit zu ertragen (ἀδικεῖσθαι δύνασθαι). 23 Ein tiefes Gefühl der sitt lichen Ohnmacht und Sündenhaftigkeit, das die größten christlichen Genien nach Gnade und Vergebung seufzen ließ, ist dem Griechen fremd. Aber wenn er sich eines konkreten Fehltrittes oder Pflichtversäumnisses bewußt ist, oder wenn er fürchtet, die Götter durch ein unbedachtes Wort verletzt zu haben, ruft er sie um Vergebung an. Simonides betet zu Zeus:,,Wenn ich nun in kühner Rede bitte und Recht für uns heische, verzeih mir." 24 Und bei Xenophon mahnt Sokrates:,,Bist du besonnen, mein Sohn, so flehe zu den Göttern, daß sie dir verzeihen, falls du deine Mutter nicht genug geachtet hast.“ 25

Keine Religion der Welt hat die natürlichen Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens mehr geadelt und geheiligt wie die hellenische. Der soziale Sinn des Hellenen atmet sich im Fürbittegebet aus. Zu den schönsten griechischen Gebeten gehört das Fürbittegebet, mit dem die sterbende Alkestis bei Euripides ihre Kinder der häuslichen Herdgöttin Hestia übergibt:

,,O Herrin, nun steig' ich hinab in Plutons Reich,
Zum letzten Male knie' ich bittend hier vor dir,
Beschütze die verwaisten Kleinen: gib dem Sohn
Ein trautes Weib, der Tochter einen edlen Mann.
O laß sie nicht wie mich, die Mutter, sterben hin,
Hinscheiden allzu früh; in Glück und Wohlergehen

La B bringensie ihr Leben hin im Heimatland" (163ff. übs. nachBernstädt). Ein griechischer Erziehungsbeamter von Cos betet im 2. Jahrhundert auf einer Inschrift um,,Gesundheit und tugendhaftes Verhalten der

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