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Denken, Wollen und Fühlen war von der Liebe zum himmlischen Herrn und Heiland so sehr durchdrungen, daß er bekannte:,,Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir" (Gal. 222); sein ganzes Sehnen und Verlangen richtete sich darauf,,aufgelöst zu werden und mit Christus zu sein“ (Phil. 13). Diese enthusiastische Christusliebe und Christusergriffenheit mußte sich notwendig in der persönlichen Gebetsgemeinschaft mit Christus ausströmen; Paulus stand mit dem erhöhten Kyrios Christos in ständigem, trautem Gebetsumgang (2 Kor. 12, ff.). Doch ist dieser Gebetsverkehr ausschließlich ein religiöses Privatverhältnis des Apostels zum Herrn 11. Die feierlichen Gebete, die von der Gemeinde bei der Eucharistiefeier gesprochen wurden, richteten sich von den formelhaften Responsorien des Maranatha oder Kyrie eleison abgesehen in der Urkirche wie im alten Christentum nicht unmittelbar an Christus, sondern durch ihn und in seinem Namen an Gott den Vater 112. Wenn Origenes das Gebet,im Namen Jesu' fordert und die direkte Gebetsanrede an Jesus ablehnt 113, wenn Augustinus nur ein Gebet an Gott durch Christus, nicht an Christus selbst kennt 114, so sind sie hierin von der uralten liturgischen Tradition bestimmt. Die christliche Volksfrömmigkeit hingegen übte die unmittelbare Gebetsanrufung Christi seit den ältesten Zeiten; diese populäre Gewohnheit drang zuerst in die gottesdienstlichen Responsorien und in die Hymnendichtung ein, viel später auch in das eigentliche liturgische Gebet. In der persönlichen Frömmigkeit des Abendlandes erlangt der Gebetsverkehr mit Christus erst vom Frühmittelalter an eine beherrschende Stelle. Es war zweifellos eine Berührung mit dem paulinischen Geiste, die Anselm und vor allem Bernhard von Clairvaux in trauten Gebetsumgang mit dem Herrn Jesus führte. Paulus ist somit der Schöpfer der Christusmystik 115, d. h. des persönlichen Gebetsverhältnisses zum himmlischen Christus als dem Herrn und Heiland der Einzelseele. Obgleich dieser Einfluß des Völkerapostels auf das christliche Gebetsleben erst nach Jahrhunderten sich geltend machte, so ist diese Bedeutung für die Geschichte des individuellen christlichen Gebets keine geringe. Durch Bernhard hat Paulus die Gebetsweise der ganzen mittelalterlichen und neueren Mystik wirksam beeinflußt.

Sein

Fast noch tiefer als Paulus hat Augustinus das christliche Beten bestimmt. Nach Jesus und Paulus hat keine Persönlichkeit eine so nachhaltige Wirkung auf die christliche Frömmigkeit ausgeübt wie dieser größte aller Kirchenväter. Sein religiöses Erleben und Denken stellt die grandioseste Verbindung von hellenistischer Unendlichkeitsmystik und biblisch-prophetischer Offenbarungsreligion dar. Beten vereint die tiefste Beschaulichkeit mit der lebendigsten Willenskraft, die Gewalt und Leidenschaft der biblischen Psalmen mit der Reinheit und Tiefe neuplatonischer Versenkung, den aus der Tiefe des Schuldgefühls sich emporringenden Gnaden- und Vergebungsglauben des Apostels Paulus mit dem himmelwärts eilenden mystischen Eros Platos und Plotins, die starke und unzerstörbare Zuversicht auf den wirksamen und lebendigen Gotteswillen der Bibel mit der wonne

Das Gebet

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vollen Kontemplation des ruhenden summum bonum der Neuplatoniker, es ist beides: Aussprache der tiefen Herzensnot und Herzensseligkeit wie Erhebung des Geistes zum höchsten Gut, demütiges Flehen zu Gott,aus der Tiefe' und Erleben der Wesenseinheit mit Gott im eigenen Innern 116. In dieser eigenartigen Verschmelzung der beiden gegensätzlichen Frömmigkeitstypen hat jedoch die neuplatonische Mystik den Vorrang; denn das Endziel alles Betens ist für Augustinus die Rückkehr zum unendlichen Einen, die Wesenseinigung mit dem höchsten Gut'.,,Den spezifisch christlichen Ideen ist weder im Denken noch Empfinden Augustins der erste Platz zugewiesen." ,,Der genuine Augustin ist der Neuplatoniker Augustin" (Scheel) 117. Dieser mystische Gebetsgeist des Bischofs von Hippo lebt fort durch die kommenden christlichen Jahrhunderte. Wie die grübelnde Dogmatik so zehrt die schlichte Herzensfrömmigkeit des ganzen Mittelalters von dem Geisteserbe Augustins. Anselm von Canterbury und Thomas von Aquin, Franz von Assisi und Gertrud von Helftä, Bonaventura und Thomas von Kempen sind ihrer kontemplativen Gebetsfrömmigkeit ganz von der augustinischen Mystik abhängig. Aber sein Einfluß reicht weit über die Grenzen der katholischen Kirche hinaus, bis tief in die evangelische Frömmigkeit hinein.,,Die religiöse Sprache, die wir sprechen, die uns vertraut ist aus den Liedern, Gebeten und Erbauungsbüchern, trägt den Stempel seines Geistes. Wir reden, ohne es zu wissen, noch mit seinen Worten, und die tiefsten Empfindungen auszusprechen, der Dialektik des Herzens Worte zu verleihen, hat er zuerst gelehrt" (Adolf Harnack) 118.

Die mittelalterliche Gebetsfrömmigkeit ist augustinisch; aber ihre beiden Komponenten: die biblisch-paulinische Vergebungsbitte und der mystisch-neuplatonische Flug zum höchsten Licht, verteilen sich auf die beiden Hauptperioden der mittelalterlichen Religiosität. In der ersten Hälfte des Mittelalters beherrscht eine schwere, herbe Bußstimmung das ganze religiöse Leben, das Schuldbewußtsein zerwühlt die Tiefen der Seele; der sündige Mensch erschauert vor der furchtbaren Macht des großen Gottes, er erzittert vor der Majestät des ewigen Richters, er bebt und bangt vor der Stunde des Todes. In seiner Angst und Furcht fleht er um Gnade und Erbarmen, um Vergebung und Nachlaß der Sünden, um Schutz und Hilfe wider die Anfechtungen Satans und um eine selige Sterbestunde. Jesu Sühnetat am Kreuz und die Verdienste der Heiligen sind die Stütze seiner Zuversicht 119. Das schauervoll-pompöse Dies irae des Thomas von Celano ist der beredteste Ausdruck dieser das Frühmittelalter durchzitternden Gebetsstimmung. In der zweiten Hälfte des Mittelalters lebt ein anderer Gebetsgeist: der Geist des neuplatonischen Augustinus. Das ernste Thema: Schuld - Gnade, Sünde Vergebung verklingt zwar nie; aber es wird übertönt von der mystischen Sehnsucht nach seligem Einswerden mit dem unendlichen Gott.,,Die vollendete Liebe treibt die Furcht aus" (1 Jo 4 18). Die ersten Spuren dieser mystischen Gottesliebe und Gottesschau finden sich in den Gebeten des Anselm von Canterbury; aber den Wendepunkt vom Bußernst zur Liebesinnigkeit bildet Bernhard von Clairvaux,

bei dem die paulinische Christusmystik sich mit der neuplatonischen augustinisch-areopagitischen Unendlichkeitsmystik vermählt. Er ist der Vater der christlichen Passions- und Brautmystik. In der Frömmigkeit vor ihm finden sich nur Ansätze des mystischen Passions- und Brautmotivs. Bei Bernhard wird das paulinische Nachahmen des Leidens und Sterbens Christi zur wehmutstiefen und mitleidsschweren Versenkung in das Schmerzensbild des Gekreuzigten. Der paulinische Gebetsverkehr mit dem erhöhten Herrn wird zum zärtlich schwelgenden Liebesverkehr mit dem himmlischen Bräutigam, der dem ,Hohen Lied' seine phantasievollen Bilder und anschaulichen Symbole entlehnt. Das mystische Leben in der Verborgenheit der katholischen Klöster nährt sich von der bernhardinischen Heilandsmystik ebenso wie die schwärmerische Jesusliebe des evangelischen Pietismus.

Neben Bernhard von Clairvaux haben zwei einsame Nonnen des dreizehnten Jahrhunderts das mystische Gebetsleben der Folgezeit wirksam beeinflußt. Die Begine Mechthild von Magdeburg hat der bräutlichen Liebe zum Heiland-Christus noch innigeren und kraftvolleren Ausdruck gegeben als der große Cisterzienserabt. Von ihren tiefen Gedanken ist die Äbtissin Gertrud von Helftä bestimmt. Ihre Gebetssprache bleibt zwar an religiöser Frische und künstlerischer Originalität hinter der Dichtersprache der Mechthild zurück, aber sie wurde zur Normalsprache der betenden Mystiker in den kommenden Jahrhunderten.

Eine nachhaltige Wirkung auf das mittelalterliche Beten ging von dem liebenswürdigsten aller katholischen Heiligen aus, von Franzis kus. Im Poverello' von Assisi, dessen ganzes Streben darauf gerichtet war, das arme und demütige Leben seines Herrn und Meisters nachzuahmen, erwacht etwas von der kindlich-frohen Zuversicht, die im Beten Jesu lebte; aber im tiefsten Grunde ist sein reines und inniges Gebetsleben nicht evangelisch, sondern mystisch. Freilich ist diese Mystik des heiligen Franz nicht reflektierende Mystik wie die neuplatonische, sie entbehrt aller herben Weltfeindlichkeit, die der Frömmigkeit der meisten abendländischen und morgenländischen Mystiker anhaftet. Seine Mystik ist vielmehr kindliche Begeisterung, naiver Enthusiasmus, der sich beim Anblick einer jeden Kreatur neu entzündet und der sich entlädt in einem steten entzückten Anbeten, jubelnden Lobpreisen und frohen Danksagen.,,Er hörte nicht auf", sagt sein Biograph,,,in allen Elementen und Geschöpfen den Schöpfer und Lenker des Alls zu loben und zu preisen." 120 Der Sonnengesang ist der unvergängliche Ausdruck dieses enthusiastischen Gebetsgeistes. Mit dieser Naturfreude und Gottbegeisterung verbindet aber Franz eine glühende mystisch-ekstatische Jesusliebe, welche der bernhardinischen Jesusmystik und der Christusminne der heiligen Nonnen an Innigkeit und Kraft nicht nachsteht. Die wunderbare Stigmatisation in der Grotte des Alvernergebirges ist nur die körperliche Ausstrahlung der mystischen Einigung mit Christus, in der sein Gebetsumgang mit dem Heiland gipfelt. Durch seine große Ordensfamilie

wurde seine gebetsfrohe Gottes- und Jesusliebe zum Gemeinbesitz von vielen.

Im Gegensatz zu diesem gefühlswarmen mystischen Gebetsideal eines Bernhard und Franz verkünden Meister Eckhart und Tauler das Ideal des schweigenden mystischen Herzensgebetes, dem alle religiöse Leidenschaft und Sehnsuchtsglut fremd ist. In Seuses Beten hingegen lebt die kindlich-liebesinnige Freudigkeit des Armen von Assisi wie der bräutliche Liebesdrang des Bernhard von Clairvaux auf. In der Frömmigkeit des Thomas von Kempen, des Verfassers der einzigartigen,Imitatio Christi vereinen sich die verschiedenen Gebetsklänge der großen mittelalterlichen Frommen zu wundervoller Harmonie. Dieses unscheinbare Erbauungsbüchlein hat den augustinisch-bernhardinisch-franziskanischen Gebetsgeist in den weitesten Kreisen, selbst außerhalb des Katholizismus eingebürgert. Eine einzigartige Bedeutung für die nachreformatorische Mystik in der katholischen Kirche kommt der spanischen Karmeliterin Teresa di Jesu zu. Sie ist wohl die größte Mystikerin der Religionsgeschichte. Keine mittelalterliche Heilige und Mystikerin kommt ihr an Seelentiefe gleich; denn bei ihr war nach einem Worte Edvard Lehmanns ,,das Mystische nicht nur treibende Kraft, sondern persönliche Genialität. Und eben in dieser inneren Schöpferkraft beruht Teresas Größe. Sie begnügt sich nicht, wie die deutschen Nonnen, fühlend zu verwirklichen, was Männer ihrer Zeit denkend geschaffen. Nein, die von Männern gedachten Gedanken erhalten erst, indem sie dieses weibliche Gehirn passieren, Perspektive und lebendigen Ausdruck. Sie redet viel von Gartenbewässern: sie selbst hat den Garten der Mystik reich bewässert, alles, was in den Systemen der Männer trocken und hölzern war, grünt und blüht unter ihrem Einfluß." 121 Das Ideal des,inneren Gebets', des,Gebets des Herzens', das sie pries, beherrscht das ganze katholische Frömmigkeitsleben des 17. Jahrhunderts. Sie ist auch die Schöpferin jener psychologisierenden Richtung der Mystik, welche die Beobachtung, Beschreibung und Analyse der mystischen Erlebnisse und Zustände bis zur Virtuosität ausbildete. Sie hat jene einzigartige Stufenleiter des mystischen Gebets geschaffen, die von der ernsten Betrachtung der großen Heilswahrheiten emporführt bis zur wonnigen Gottberauschtheit der Ekstase. Das mystische Beten wird in Teresa zur hohen Gebetskunst. Darin aber liegt ihre geniale Größe, daß bei ihr durch die kunstgerechte Gebetsübung und die eindringende religiöse Seelenforschung die Lebendigkeit und Ursprünglichkeit des mystischen Gebetslebens nicht geschwächt oder getrübt wird. Alle die großen mystischen Beter und Gebetslehrer des 16. und 17. Jahrhunderts, Johann vom Kreuz und Franz von Sales, Fénelon und Tersteegen, Madame Chantal und Madame de la Mothe Guyon haben von dieser spanischen Ordensfrau gelernt.

Den Gegenpol zur mystischen Gebetskunst Teresas bildet Luthers kraftvoll-gesunde und freudig-herzliche Gebetsfrömmigkeit; sie bedeutet den tiefsten Einschnitt in der gesamten Geschichte des christlichen Gebets. Nach Jeremia, Jesus und Paulus ist wohl der deutsche

Reformator der gewaltigste unter den überragenden Gebetsgenien. Die Loslösung von der dem Neuplatonismus entstammenden mittelalterlichen Mystik und die ausschließliche Orientierung an der biblischen Religion bedingte eine schöpferische Erneuerung des prophetischurchristlichen Gebetstyps. Luthers Beten ist nicht kontemplative Versenkung in Gott als das unendliche Eine und höchste Gut', sondern affektive Aussprache der tiefen Herzens- und Gewissensnot, die in der frohen Aussprache der Zuversicht und Ergebung ausklingt. Die zentrale urchristliche Bitte um das Kommen des Gottesreiches ertönt aus Luthers Mund in ihrem mächtigen Urklang. Der naive realistische Glaube an die gottbezwingende Macht des anhaltenden Bittgebets wird von keinem der großen christlichen Frommen so lebendig und kraftvoll verkündet wie von Luther im Anschluß an Jesu Gleichnisse. Luthers Gebetsleben wurzelt ganz im Beten der biblischen Persönlichkeiten; er ist nicht wie Augustin und Bernhard Schöpfer einer originalen Gebetsweise; sein Beten ist der Widerhall jener Gebete, die von den Lippen Jeremias und der Psalmsänger, Jesu und Pauli kamen, sein Gebetsideal ist das Abbild des biblischen Urbildes. Luther hat mit einer Sicherheit und Kühnheit, wie sie nur einem einzigartigen religiösen Genius möglich ist, das neuplatonische Element, welches in das christliche Gebetsleben eingedrungen war, entfernt und so den prophetischen Gebetstyp in seiner religiösen Reinheit wiederhergestellt. Und doch war diese Wiederherstellung keine mechanische Repristination und bloße Nachahmung, sondern eine schöpferische und originale Erneuerung. Das ist das Wunderbare in Luthers Frömmigkeit, daß er, der durch die Schule der mittelalterlichen Mystik gegangen war 122, ihr Kostbarstes und Wertvollstes: den grandiosen Individualismus wie die herzliche Gottinnigkeit und die zarte Christusminne, in sein Gebetsleben aufnahm, daß er die schlichte und kraftvolle prophetischbiblische Gebetsfrömmigkeit mit einem mystischen Element bereicherte, ohne ihre Reinheit dadurch zu trüben oder zu entstellen. Luthers Gebet ist echtes prophetisches Gebet, aber zeigt einen deutlichen mystischen Einschlag, der in seiner reformatorischen Frühzeit (bis 1525) stärker ist als später, der aber nie ganz verschwindet 123

Luthers Gebetsideal übte auf das Gebetsleben seiner Zeit eine ganz erstaunliche Wirkung aus. Nicht nur die Gebetsanweisungen der geistesverwandten Reformatoren, eines Melanchthon, Zwingli und Calvin, sondern vor allem auch die Gebets- und Erbauungsbücher der ersten Jahrzehnte des Reformationsjahrhunderts sind von der biblischen Normierung des Gebets, wie sie durch Luther erfolgt war, bestimmt. Ein tiefer Einfluß auf die Gebetsfrömmigkeit der reformierten Kirchen ging von Calvins Persönlichkeit aus. Seine Gemeindegebete zeigen zwar durchgehend eine Abhängigkeit von Luther, seine Gebetsanweisung in der Institutio Religionis Christianae stimmt mit der Lutherschen bis in die Formulierung überein. Und doch hebt sich Calvins Gebetsgeist in seiner schöpferischen, individuellen Eigenart deutlich von Luthers Gebetsgeist ab. Aus Luthers Beten redet kindliche Einfalt und Herzlichkeit, in Calvins Beten offenbart sich männlicher Ernst

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