kenntnis ein neues Zeitalter der christlichen Religiosität heraufzuführen vermochte, hatte in der Struktur des damals modernen Bewußtseins seinen Grund. Nimmer jedoch darf gesagt werden, seine Frömmigkeit und sein religiöses Erkennen habe,,über Paulus hinausgeragt". Mit ihm befand er sich auf derselben Linie, wie er denn selbst in ganz richtiger Würdigung seiner eigenen Motive nichts weiter beansprucht hat. Luther sagt, was Paulus gesagt hat, und er faßt das Motiv auf, das sich, dem evangelischen Freiheitsgedanken verwandt und aus diesem letzten Grundes hervorgegangen, zur Gestaltung einer lebendigen Volksreligiosität als wirkungsvoll bereits anbot und mit leiser Um- und Rückbiegung im echt christlichen Sinne verwerten ließ. Wir finden ja bei Luther nicht den libertinen Renaissancegedanken wieder. Nicht in dem Sinn fordert er Autonomie der Persönlichkeit, als habe etwa die individuelle Vernunft über den Glauben zu entscheiden; vielmehr entscheidet nach ihm die im Glauben ergriffene Offenbarung über die Vernunft des Individuums. Luthers Individualismus ist nicht subjektivistisch, sondern objektivistisch. Daher ist es als ein sehr richtiger und unsere historische Einsicht fördernder Gedanke von Ernst Troeltsch zu bezeichnen, daß er den Altprotestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts und den Neuprotestantismus, der im Bunde mit der modernen Kultur steht, in der das subjektive Moment vorschlägt, streng von einander scheidet. Troeltsch hat sich, bei seiner Beantwortung der Frage nach der Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, durch die Einsicht leiten lassen, daß der genuine Protestantismus in Wirklichkeit von dem modernen, nämlich subjektiven, Individualismus nichts weiß. Deshalb leugnet er mit gutem Grund, daß aus der kirchlichen Kultur des Altprotestantismus ein direkter Weg in die kirchenfreie moderne Kultur führe. Freilich ist das Vorhandensein eines indirekten Weges damit nicht in Abrede gestellt. Troeltsch fügt hinzu:,,Seine (des Altprotestantismus) im allgemeinen offenkundige Bedeutung hierfür muß vielfach eine indirekte oder gar eine ungewollte sein.") Man kann auch insofern mit Troeltsch dem Neuprotestantismus den Vorzug vor dem alten geben, als er denselben aufgezeigten gemeinsamen Grundzug der beiden Modernen, welcher von der auf die Ursprungsperiode folgenden Theologie nicht gewürdigt und nicht verstanden wurde, zu religiös ethischen Lebenskräften erhoben hat. Wir sind doch, namentlich in der Theologie, in entscheidenden Grundlinien immer mehr,,Lutherisch" geworden. Nur verdient diesen Vorzug nicht derjenige Neuprotestantismus, der sich nach dem Windhauch der modernen Ansichten einrichtet und dabei die objektive Offenbarung unter den Füßen verliert. Aber das andere muß ebenso bestimmt ausgesprochen werden, daß bereits an der Wiege des Protestantismus ein Teil derjenigen. Geistesmächte stand, die heute gebieterisch ihre Berücksichtigung fordern, nachdem sie selbst erstarkt sind. Wenn und soweit die moderne Theologie zu dieser Forderung eine freundliche Stellung einnimmt, so zeigt sie damit ihren guten Willen, dem Protestantismus aus der Wiege zu helfen und ihn in seiner idealen Entwicklung zu leiten. Aber freilich muß dann scharf und hart geschieden werden zwischen der Stellung, die bei diesem Vornehmen der objektiven Religion zukommt, und derjenigen, welche die subjektive Religion und die 1) Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. Vortrag. München und Berlin 1906. S. 18. Theologie einnehmen müssen. Die Offenbarung, die für Luther der feste Grund war, kann ja nimmermehr durch moderne Strömungen gebessert werden, wie denn überhaupt Menschenhände und Menschenweisheit die göttliche Offenbarung nicht bessern, nicht entwickeln, ihr nichts hinzutun können. Um die subjektive Seite der Religion allein, um Erfassung und Aneignung der objektiven Religion kann es sich füglich handeln und um die Prägung, die die Theologie der Offenbarungswahrheit verleiht wobei aber das Problem nicht schwindet, das an seinem Teil diese Arbeit nicht zu einem Abschluß kommen läßt: wie und wo das Subjektive und das Objektive gegen einander abzugrenzen sind. Hingegen für die offenbarungsfreie und kirchenfreie Moderne, die, wie ich oben (S. 76ff.) angemerkt, dem jungen Protestantismus in Fülle zur Seite ging, hat der Protestantismus schon in seinen Anfängen nichts übrig, sondern er verweist alle derartigen Regungen als haltlose Schwärmerei aus seinem Bannkreise. Auch der Neuprotestantismus darf sich mit solchen Richtungen nicht verquicken, wenn er nicht aufhören. will, protestantisches Christentum zu pflegen. Der Protestantismus wird also überall dort mit Recht gefunden, wo religiöser, an Christus gebundener Individualismus mit voller Kraft einsetzt und wo die in Christus freie, autonome Persönlichkeit ihr stolzes Herrenrecht geltend macht. Wo man so empfindet und denkt und in diesem Sinne Theologie treibt, da wird Luther fortgesetzt, und zwar reiner als in dem Altprotestantismus, der auf Luther folgte. Hingegen der subjektive Individualismus, der göttliche Offenbarung und himmlische Autorität in der Praxis nicht anerkennt und der nie ganz ohne die Idee des in sich selbst freien und erhabenen Übermenschentums existierte, der in völliger Emanzipation des Geistes von der Autorität sein Ideal sieht, hat im Protestantismus seine Wurzel nicht und berührt sich mit dem Geist des Protestantismus nur in Gegensätzen. Auch dies hat Troeltsch, wennschon mit einer zugrunde liegenden anderen Beurteilung des Neuprotestantismus, hervorgehoben, und es ist wertvoll, daß er von neuem auf diejenige Linie der Entwicklung der in sich selbst freien Persönlichkeit hingewiesen hat, die auch schon Dilthey in seinen oben erwähnten Abhandlungen zum 14. bis 17. Jahrhundert aufgezeigt hat. Das ist der spiritualistische Individualismus bei den Wiedertäufern der Reformationszeit und bei allen späteren täuferischen Gemeinden und Richtungen. Während nämlich dem jungen Protestantismus von Luther her eine patriarchalische Auffassung der Gesellschaft eigen ist, wohingegen die individuelle Erziehung und Selbständigkeit der Frau fehlen: hat bei den Wiedertäufern der individuell sich zeigende Geist ein hohes Selbstrecht und die Frau zunächst in religiösen Dingen (als Inspirierte) Wort und Wert erlangt. Die mittelalterlichen Täufer sind die Träger einer Richtung, die vor allem in religiöser Hinsicht mit der heutigen Moderne sich auffallend berührt. Ihnen ist nicht Christus die über das Bibelwort entscheidende Autorität, sondern der im Individuum sich äußernde ,,Geist", die dem Individuum in freier Wahl zuteil werdende Inspiration, woraus denn bald die volle Verblendetheit eines standpunktlosen Subjektivismus wurde. Troeltsch hat anzudeuten versucht, wie diese Richtlinien, vom Protestantismus vertrieben, hernach auf das europäische Festland zurückgekehrt sein dürften, um da in breiten Kreisen ihren Spiritualismus heimisch zu machen.') In 1) Troeltsch, a. a. O., S. 31. 39ff. der Tat ist es ja diesem täuferischen Wesen sehr ähnlich, wenn heute in weiten Kreisen das Geheimnis der freien Persönlichkeit über das Geheimnis des Bibelworts und der christlichen Religion entscheidet, und wenn von theologischer Seite mit ganz besonderer Vorliebe heute betont wird, daß in diesen beiden Größen viel Geheimnisvolles steckt und zu uns redet. Mit Recht hat Troeltsch in dem herangezogenen Vortrage vor der Überschätzung des Einflusses des Protestantismus auf die Entstehung der modernen Kultur gewarnt. Manche Übereilung in diesem Punkte hat er abgeschnitten, hat sich aber selbst von entgegengesetzten Übereilungen nicht ganz frei gehalten. Er wird auf wenig Zustimmung rechnen dürfen, wenn er den Protestantismus von der Bedeutung entlastet, die schulmäßige Volksbildung inauguriert zu haben. Zwar will Troeltsch die Schulen gründende Tätigkeit des jungen Protestantismus nicht leugnen, meint aber, solche sei ,,im wesentlichen doch nur den gelehrten Berufsständen zugute" gekommen, und die ganze so hervorgerufene Bildung hätte,,wesentlich nur die religiöse Instruktion und formale Literaturfähigkeit zum Zweck" gehabt.") So urteilen, das heißt doch, die nächste, der empirischen Geschichtsbetrachtung zuerst sich zeigende Wirkung der pädagogischen Idee Luthers, das was das wirkliche und erste deutlich erkennbare Ergebnis seiner Idee war, allein ins Auge fassen und den Blick von dem abwenden, was folgerecht daraus werden sollte und mußte, nachdem die weiteren Bedingungen frei geworden waren. Das heißt auch, die Idee Luthers selbst verkürzen, die doch ihre direkte Beziehung auf die breiten Volksmassen unverhüllt dartut und die auch eine umfassendere und 1) Troeltsch, a. a. O., S. 48f. |