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deshalb die letzte Bearbeitung, wie sie uns im Druck vorliegt, nicht vor Mitte 1772 anzusetzen.

Für die älteste Gestalt lässt auch Haym (S. 429) die Möglichkeit offen, dass sie vor Bückeburg verfasst sei. Ich glaube, man wird sie dennoch dem Juni 1771 zuweisen müssen. In der zweiten Redaction nämlich wird auf der fünften Seite der neuere Versuch eines Engländers über Shakespears Genie und Schriften' erwähnt, derselbe, welchen Herder als Novität für die Allgemeine Deutsche Bibliothek besprochen hat: er schickte die Recension am 7. September 1771 an Nicolai. Haym hat hieraus zuerst die Abfassungszeit der zweiten Redaction gefolgert: 'nicht vor dem Sommer 1771'. Aber sollte nicht eben dieser 'Versuch' schon in dem ersten Satze des Sendschreibens gemeint sein? wie dort bei den Vorreden' sicher an die. eine von Pope gedacht ist, mit der Wieland seine Übersetzung eingeleitet hat. An jene zweite Redaction aber ist Herder sicher nicht vor dem Herbst 1771 gekommen. Er hat das im Juni Gearbeitete liegen lassen, um zunächst 'etwas über die Lieder alter Völker zu schreiben' (den Briefwechsel über Ossian), in der nächsten Zeit aber ist er durchaus nicht zu ruhigem Arbeiten gelangt. 'Ich habe Ihnen neulich alte Lieder geschickt', schreibt er im September an Caroline: 'ich lege Ihnen wieder einige bei. Shakespeare und Plastik und Moses liegt noch und ich würde mich nur quälen'. Die seit Strassburg liegen gelassene Plastik' hat er zuvor im Briefe vom 27. August genannt 'Zur Plastik bin ich noch nicht'. mit 'Moses' ist die Älteste Urkunde gemeint, damals noch 'Archäologie des Morgenlandes' benannt. So rückt also die Neubearbeitung des 'Shakespeare' bis an das Ende des Jahres 1771, ja wohl ins nächste Jahr hinein. Wenn es im Sendschreiben heisst: 'Was die Tragödie bei Thespis gewesen, mag nur Skribbler und Klotz wissen', in der nächsten Redaction aber der Name des verhassten Gegners nicht mehr erscheint 'mögen die Skribblers wissen', heisst es da bloss so erklärt sich das am füglichsten daraus, dass mit Klotzens Tod (31. December 1771) alle Fehd' ein Ende gehabt hat. Das Fragment Zweierlei Drama' stellt sich

der letzten Redaction am nächsten, der Versuch mit den eingelegten Proben rückt zu den 'Volksliedern' hin. So gelangt man denn durch Subtraction dahin, dass für Juni 1771 nichts übrig bleibt, als die älteste Gestalt, das Sendschreiben. Wenn Herder bei seiner ungemeinen Productionskraft doch ein paar Tage' darauf verwandt hat es niederzuschreiben, so dürfen wir nicht vergessen, dass vierzehn Tage Fluss im Zahn' den Mann mürbe gemacht hatten, den wir noch kurz zuvor in dem langen Klagebriefe stöhnen hören: 'Die Zähne stechen und schmerzen höllisch! - o Gott, gib mir doch gute Nacht, ich habe in 3. Nächten nicht geschlafen!' dass es also erster Versuch, Erholungsarbeit war. Und so ist es wohl auch kein zufälliges Zusammentreffen, dass der Verfasser des Sendschreibens dem 'Sänger der Ariadne' ein Compliment macht, und dass in dem Zähnschmerz'- Briefe, auf dessen noch in Ruhe geschriebener erster Seite zu lesen steht: 'Noch habe ich letztern Sonntag damit (mit dem Zahnschmerz) gepredigt und den Geburtstag der Gräfin (16. Juni) bei Hofe celebriren helfen, wobei Ariadne auf Naxos in Musik aufgeführt wurde, die mich, mehr vielleicht dem Text und der Situation nach, als immer wegen der Musik unendlich gerührt und hier und da recht erschüttert hat. Und jedenfalls ist es nicht verwunderlich, wie er ungeduldig abbricht: 'Jetzt muss ich anders, als über Shakespear kommentiren!' Wahrscheinlich warteten die heil-ennuyanten Amtssachen' auf ihn, die ihm in letzter Zeit an manchem Reichsposttag' nicht einmal Zeit gelassen hatten, an die Braut zu schreiben.

Wie aber ist nun mit dem Ermittelten zu vereinen, dass das Stück über Shakespeare 'alt, auf Reise geschrieben' sein soll? Es erklärt sich, wenn man nicht eine besondre Absicht annehmen mag, sattsam aus einer dem Schriftsteller eigenthümlichen Prolepse, einem Idiotismus, den wir auch anderwärts und viel später noch bei ihm beobachten können. Der erste kurze Entwurf gilt ihm statt der Ausführung, er statuirt sozusagen mentale Concepte. Er war (so ungefähr sagt ja Goethe von dem Freunde) immer darauf aus, das Ende der Dinge zu erfassen. 'Diese Schrift sollte schon vor zwanzig Jahren erscheinen', ist er

im Stande als Vorredner zu erklären, während wir jetzt aus seinem Nachlass feststellen können, dass damals eben die Elemente in kurzer Fassung vorlagen. 55) In diesem Sinne war auch das Sendschreiben auf, ja vor der Reise concipirt. War es doch auch der Form nach recht ein Plan aus der Zeit der 'Fragmente', der 'Kritischen Wälder'! Schon die 'Fragmente' sollten derartige Episteln an führende Schriftsteller enthalten. In einem skizzirten Entwurf dazu ist ein Brief an den Übersetzer des Shaftesbury' (Spalding), einer an den Magum' (Hamann) aufgezeichnet. Im Jahre 1768 hat Herder ein langes Sendschreiben an Gatterer verfasst, als Beitrag für dessen 'Historische Bibliothek', die Grenzen von Geschichtsdarstellung und Lehrgebäude' betreffend. 56) Und so hätte schliesslich auch der Brief an den Verfasser des Phädon, auf der Reise 1769 geschrieben57), als publicistische Leistung gar wohl erscheinen können. Nachweislich aber sind auch wirkliche Ansätze, Rudimente der Arbeit während der Reise und vorher zu Papier gebracht worden. Beobachtungen aus, Gedanken über Shakespeares Dramen (Johannisnachtstraum, Sturm, Othello u. a.). Auf Stellen im 'Journal der Reise' und in älteren Niederschriften zu den 'Fragmenten' hat Haym verwiesen. Auch die Collectanea aus Riga und von der Reise liefern Belege. Ich kann mich zur Zeit nur auf meine alten Notizen daraus beziehen, da die Hefte und Bücher selbst nicht mehr in meiner Hand sind. Besonders merkwürdig ist in einem dieser Hefte die Anlage zu einer Sammlung aus Shakespeare unter Rubriken wie: 'Menschlicher Geist. Charakter. Temperamente. Tugenden. Laster. Liebe.' Man sieht, das zielt auf eine Psychologie, auf eine 'Philosophie der Menschheit aus Shakespeare, wie ja eine solche auch aus den Gedichten Ossians zu liefern in Herders Plan lag. 58) Von der Untersuchung der Schöpferweise' Shakespeares ver

55) Herders Werke 19, 3 mit meiner Bemerkung 20, 382 fg. und dazu 7, 469. Ferner zu vergleichen Band 15, 517, x mit 2, 188. 376. 56) Werke 3, Vorbericht S. XI.

57) Haym 1, 295.

58) Von Deutscher Art und Kunst S. 18. (Philologie' ist einer von den vielen bösartigen Druckfehlern.)

spricht er sich den reichsten Gewinn nicht bloss für 'Geschichtbau' und Drama, für die Erkenntniss der Gesetze beider Gattungen, sondern zumal auch für die Philosophie der Menschenseelen', 59)

So versetzt sich denn der Verfasser noch bei der abschliessenden Niederschrift in jene Zeit zurück, wo es sein Plan gewesen war, Gerstenbergs persönliche Bekanntschaft zu machen, mit ihm die Barden und Skalder zu singen, die Briefe über die Merkwürdigkeiten etc. mit ihm zu lesen'; 60) und sicher setzt er geflissentlich ein 'neulich' dazu, wenn er davon redet, wie der Hamburgische Dramaturgist 'gegen die lautesten Anmassungen (der Franzosen) schreckliche Zweifel erregt hat' (S. 84).61)

Was wollen indessen alle diese chronologischen Nachweise besagen? Der Briefsteller selbst hat das Gefühl und spricht es aus, dass er zuvor schon einmal mit mehr 'Geist und Leben' über diese Stoffe nachgedacht hat. In der Beziehung auf Vorangegangenes liegt der litterarhistorische Werth des veröffentlichten Stücks. Sicherlich hat Herder lebhafter, geistvoller, ausgiebiger in Strassburg über Shakespeare commentirt. Nach Geist und Inhalt fand Goethe die Strassburger Unterhaltungen in den Blättern Von Deutscher Art und Kunst wieder. Die Auffassung von Shakesparese Art und Kunst, die damals ihm, und durch seine mündliche Vermittlung sodann den nächsten Genossen der deutschen Gesellschaft' eigen ward, beruhte ganz auf den Gesprächen in der 'freundschaftlichen Krankenstube' des 'gutmüthigen Polterers' der doch, wenn er seinen guten Tag hatte, noch viel mehr war als das. Schriftliche Belehrung über diesen Gegenstand hat Goethe von Herder nicht bezogen ausser jener, die ihm der erste 'Götz' eintrug: 'dass Euch Shakespeare ganz verdorben'.

Denn

die Abhandlung, die er zum Shakespeare-Tag (14. Oktober 1771) aus Bückeburg erbeten hatte 62), hat er nicht ereinfach deswegen nicht, weil Herder mit dem

halten

59) Ebenda S. 109.

60) Journal der Reise. Werke 4, 434.

61) Vgl. oben S. 447 das 'noch neuerlich' von Gerstenbergs Briefen. 62) Goethes Werke IV 2, 3,5.

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bis dahin Niedergeschriebenen sich kein Genüge gethan hatte. So kann uns nun die erste Gestalt des Herderschen 'Shakespeare', verglichen mit Goethes sogenannter Rede Zum Schäkespears-Tag' 63) richtiger: Sendschreiben zum Vorlesen am Shakespeare - Tag als eine Art von historischer Urkunde dienen: jene, indem sie die hauptsächlichen Themata der Strassburger Gespräche aufzeichnet und wenigstens theilweis zum ersten Mal ausführt, diese, indem sie darlegt, was der Dichter der Geschichte Gottfriedens von Berlichingen aus denselben zu eignem Gebrauch entnommen, wie er sie in sich verarbeitet hat. Drei Kapitel offenbar haben sich ihm besonders eingeprägt. Erstens: nicht Drama sondern Geschichte haben wir bei Shakespeare, nicht die überlieferte Kunstform, sondern freie Darstellung eines grossen 'Geschehnisses' (événement) in seinem ganzen Verlauf. Zweitens: alles entspringt bei Shakespeare aus den Charakteren ('aus Sitte', Ethos). Wenn Lenz, indem er sich darauf beruft, seine 'Anmerkungen übers Theater' seien bereits 'zwey Jahre vor Erscheinung der deutschen Art und Kunst und des Götz' vorgelesen worden, diesen Gedanken für sich in Anspruch zu nehmen versucht hat, so ist aus dem Sendschreiben an Gerstenberg zu erweisen, dass doch Herder vor ihm die These formulirt hat. Drittens: die Tragödie schildert das Walten des Schicksals, den Kampf einer nur im Wahn des Menschen bestehenden freien Selbstbestimmung mit der Macht der Nothwendigkeit. Gerade diese Belehrung hat Goethe am tiefsten verstanden. Ergreifender noch als in der Geschichte Gottfriedens zeigt sich das im 'Egmont'. Ich habe diesen dritten Punkt, der das Wesen der Tragödie im Innersten betrifft, schon anderwärts zu erörtern versucht und mag mich hier nicht wiederholen.64) Über den ersten Punkt hat Haym in seiner gründlichen Weise volles Licht verbreitet, indem er, besonders auf Grund der vorletzten Redaction,

63) Der junge Goethe 2, 39 ff.

64) Shakespeare im Anbruch der klassischen Zeit unsrer Litteratur, Rede zum Shakespeare-Tag (23. April). Weimar 1889 S. 19 f. Die Rede, nur in 100 Abzügen gedruckt, wird in umgearbeiteter Gestalt wiederholt im Septemberheft der 'Deutschen Rundschau'.

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