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moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischer Weise Verzicht. Er kann es in seiner äussersten Verworfenheit allenfalls dahin bringen, sich daran gar nicht zu kehren, aber dessen Stimme zu hören, kann er doch nicht vermeiden. Wenn man daher sagt, dieser Mensch hat kein Gewissen, so meint man damit, er kehrt sich nicht an den Ausspruch desselben (Rel. innerh. d. Gr. d. bl. V. p. 39, 235, 285 K.).

§ 11.

Methode der Untersuchung.

Zugegeben, wird man denken, dass sich Kant und die übrigen Philosophen hierin geirrt haben; dass die sittlichen Urtheile, welche sie allen Menschen zuschrieben, blos einem Theil derselben eigenthümlich sind. Ist dieser Irrthum wichtig? Scheint es nicht, als hätten wir Mühe auf einen Punkt verwandt, welcher der Mühe nicht werth ist? Was liegt daran, ob unsere Moralgesetze mit der Menschheit zugleich geboren worden sind oder etwas später? Alles.

Wenn nämlich das Gewissen der Menschen von jeher dieselben Handlungen befohlen und verboten hätte, etwa Handlungen der Wohlthätigkeit einerseits, der Grausamkeit andererseits, so würde die Erklärung eines so allgemein auftretenden kapriciösen innern Gesetzes kaum möglich sein, oder, was dasselbe bedeutet, sie würde übernatürlich ausfallen. Denn, fragt man, wie kommt nur das Herz aller Menschen zu diesem nämlichen seltsamen Bewohner; wer hat ihn da einquartirt? So wird man auf Gott oder eine andere übersinnliche Entität geführt. Wenn dagegen in verschiedenen Zeitaltern verschiedene Gewissen herrschen; wenn man, zurückgehend in der Geschichte der Menschheit, auf eine Kulturstufe trifft, von

welcher Wohlthätigkeit nicht gelobt, Grausamkeit nicht verurtheilt wird, dann muss das Studium des Grenzgebietes zwischen den beiden Kulturstufen lehren, welche Ursachen die Schätzung der Wohlthätigkeit und den Tadel der Grausamkeit hervorgebracht haben.

Wir bedienen uns somit der Methode des Vergleichs und der genetischen Entwickelung. Der Vergleich verschiedener Kulturstufen zeigt, dass auf ihnen verschiedene Gewissen herrschen. Die genetische Betrachtungsweise enthüllt die Ursachen, vermöge deren das Gewissen der einen Kulturstufe sich aus dem der andern entwickelt hat.

Ethik ist also wesentlich eine historische Wissenschaft. Die Geschichte des Gewissens ist seine Erklärung. Wer keine fremde Moral kennt, kennt seine eigene nicht, — gleichwie, wer keine fremde Sprache, keine fremde Religion kennt, seine eigene Sprache und Religion nicht kennt.

§ 12.

Gang der Untersuchung.

Forschend nach den natürlichen Ursachen unserer Schätzung des Wohlwollens, unsers Tadels der Grausamkeit, nehmen wir eine Kulturstufe zum Ausgangspunkt, auf welcher dieser Tadel und jene Schätzung noch nicht existiren. Indessen ganz vorn werden wir nicht anfangen. Das Zeitalter, mit welchem die vorliegende Untersuchung beginnt, kennt vielmehr nach Grote's Ausdruck: als helle Flecken in einem dunklen Zeitalter schon Ansätze der zu erklärenden moralischen Urtheile. Einzelne Kategorien von Menschen, besonders die Mitglieder der eigenen Sippe, mussten, nach den Forderungen der Moral in jenem Zeitalter, schon respektirt, durften sitt

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licherweise nicht beraubt, ermordet werden. Von dieser Kulturstufe, welche auf einzelnen Punkten schon unser Gewissen in Wirksamkeit zeigt, werden wir uns schrittweise dem Zeitalter nähern, in welchem die Schädigung eines jeden Menschen vom Gewissen verdammt wird. Das aus dieser Forschung resultirende Erklärungsprinzip wird sich alsdann auch zur Erklärung jener Ansätze tauglich erweisen.

Erst untersuchen wir, wie das Häuflein Gewissen zum Haufen geworden ist; dann, wie sich das Häuflein gebildet hat.

II. Buch.

Die Entstehung der Elemente des Gewissens

in der Gattung.

1. Abschnitt.

Die Entstehung der Strafe.

§ 13.

Die Rache und ihre Historiker.

Das Zeitalter, von dem wir ausgehen, kennt, wie gesagt, auf einzelnen Punkten schon unsere Moral. Während es dort im Allgemeinen nicht für unsittlich gilt, Jemanden zu berauben oder zu ermorden, darf man doch die Mitglieder seiner eigenen Sippe (und etwa noch Freunde, Gastfreunde), sittlich betrachtet, nicht verletzen. Von dieser Kulturstufe aufwärts beschreibt das Gewissen, wie wir sehen werden, immer grössere Kreise. Anfangs eben nur die Mitglieder desselben Geschlechts respektirend zieht es seinen Kreis alsbald um alle Mitglieder desselben Gemeinwesens und schliesslich um die ganze Menschheit. Sippe (Geschlecht, Familie) Staat Menschheit: diese drei Punkte können durch historische Linien verbunden werden.

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Die Entstehungsgeschichte des Geschlechts dagegen und der sittlichen Urtheile, welche jedem die Mitglieder seines

Geschlechts als unantastbar bezeichnen, ist schwer Schritt für Schritt verfolgbar. Deshalb eben gehen wir von dem Zustand aus, in welchem sich die Geschlechter bereits konstituirt haben und erforschen zunächst, wie aus den Geschlechtern der Staat wurde, aus dem Familiengewissen ein Gemeindegewissen. Zuletzt erst wenden wir uns der Entstehung des Familiengewissens, dem historisch dunkelsten Theile unsers Gegenstandes, zu.

Es giebt also eine Entwicklungsphase, in welcher die Gemeinde so gut wie gar nicht und folglich auch ein Gemeindegewissen noch nicht existirt, sondern blos die Familie. Fast souverain steht das eine Geschlecht dem andern gegenüber. Die Familie, sagt Munzinger von den Bogos, ist der Staat, der Souverain, der Gesetzgeber (Bog. p. 26).2 Wenn er ausserdem hervorhebt, dass dort der Räuber geachtet sei, so meint er Räubereien, welche von einer Familie gegen die andere verübt werden.

Räubereien und Mordthaten also, welche zwischen den Geschlechtern vorfallen, gelten nicht für Unrecht und werden

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2 Einen ähnlichen Zustand schildern die isländischen Sagas. Siehe auch Justus Möser, Osnabrücksche Geschichte I, § 8: Solche einzelne Wohner waren Priester und Könige in ihren Häusern und Hofmarken. Sie richteten über das Leben ihrer Familien und Knechte, ohne einander Rechenschaft zu geben. Jeder Hof war gleichsam ein unabhängiger Staat. Keine Obrigkeit und vielleicht nicht einmal eine gemeinsame Gottheit erstreckte sich in eines Mannes Were. — Zöpfl, Deutsche Staatsund Rechtsgeschichte I, p. 14: Der politisch rechtliche Charakter der ersten Periodo spricht sich aus in der Idee der gänzlichen Unabhängigkeit des einzelnen Mannes von jeder Herrschergewalt.

3 Wenn man, sagt Grote vom homerischen Zeitalter, zu Räubereien und Gewaltthätigkeiten geneigt war, so existirten moralische Abhaltungsgründe blos in Bezug auf wenige Personen (besonders eben in Bezug auf Mitglieder desselben Geschlechts). Weitergehende Rücksichten

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