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§. 8.

Die Tugend an sich, ist ein Vollendetes und Absolutes, aber die Tugend der Menschen ist einer Gradbestimmung fähig; da aber die grössere oder kleinere Grösse derselben intensiv ist, so bleibt die genaue Bestimmung und Beurtheilung derselben ungewiss.

Erläuterung. „Richte deinen Nächsten nicht, wenn du nicht in seiner Stellung warst" (Aboth 2, 4). Es ist aber eine Unmöglichkeit ganz in der Stellung des Andern zu sein, oder je dahin zu kommen; und um genau den Grad der erlangten Tugendgrösse zu bestimmen, müssen in Erwägung gezogen werden: a) der Umfang der Handlung. Es heisst zwar: ,Viel

waren.

thun oder wenig thun ist Gott gleich, nur soll die Absicht eine himmlische sein" (Menachath 110, a.); damit aber ist blos gemeint, wenn der, der wenig thuet, nicht mehr thun kann, wie das Beispiel daselbst von dem Opfer des Armen zeigt. Wenn ihm aber mehr zu thun möglich ist, so kann gewiss nicht das Wenige dem Vielen gleich geachtet werden. (Siehe auch Magen Abraham zu O. Ch. 1 Scholie 6). b) Die Hindernisse die zu bekämpfen Die Tugend, die Gott selbst lobend verkündet, ist, wenn der Tugendhafte grosse Versuche und Hindernisse zu bekämpfen hat. (Siehe Pessachim 113, a. und b. c) Die Gesinnungen, d. h. die innern Motive, welche mitgewirkt haben. Ueber die Wichtigkeit der Gesinnung zur Grundbestimmung der Tugend siehe §. 3. Die Dauer des tugendhaften Verhaltens, welche die Philosophen mit als Gradbestimmung angeben, hat wenig Vertretung im Talmud: nach diesem ,,kann der Mensch sich seine Welt erkaufen in einer einzigen Stunde“ (siehe besonders Rosch Haschanah 17, b). Und welcher Mensch kann alle diese Umstände nun wissen und bemessen? Ein völlig gewisses Urtheil über den Höhegrad der menschlichen Tugend kann daher nur das allwissende Wesen fällen. „Es gibt nur Einen, der richten kann“ (Aboth 4, 8).

S. 9.

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Das Tugendgesetz hat keine Kleinigkeiten, keine s. g. Sündchen, sondern wo von Pflicht die Rede ist, ist alles von Bedeutung.

Es gibt aber wieder kein absolut grosses Laster, sondern der Besserung und der Reue widerstehet gar nichts.

Erläuterung. „Sei achtsam auf das geringfügigste Gebot, wie auf das wichtigste" (Aboth 2, 1). ,,Selbst die kleinsten Gebote, die du glaubst mit der Ferse treten zu können, sollst du beobachten" (Midrasch Jalkoth Ekeb.).

Die talmudische Tugendlehre unterscheidet sich in dieser Beziehung noch von der philosophischen, dass sie auch die irrthümlichen Handlungen, die wohl gesetzwidrig, aber nicht unsittlich sind, d. h. wo die Handlungen objectiv gegen das Gesetz geschehen, aber doch kein Mangel an Achtung gegen das Gesetz Statt gefunden hat, als Sünden erklärt, die der Vergebung benöthigen; und wenn einer und derselbe Irrthum sich mehrere Mal wiederholt, als Muthwille betrachtet (Bezah 16, b.).

Dagegen gibt es wieder kein Laster, welches nicht durch Reue und Busse gesühnt werden kann. „Wer sein ganzes Leben hindurch tugendhaft war, und zu Ende desselben lasterhaft wird, verliert sein ganzes Verdienst und heisst ein Bösewicht. Wer lasterhaft war sein ganzes Leben hindurch, und zuletzt tugendhaft wird, dessen Sünden werden nicht mehr gedacht, er heisst ein Tugendhafter" (Kiduschin 40, b). „Keine Sünde widerstehet der Reue und Busse" (Maim. H. Teschuba 3, 14 und 6, 2, aus Aboda Sara 7, b.), d. h. es ist keine Sünde so gross und so nachhaltig, dass sich der Thäter nicht mehr bessern, und die nicht durch aufrichtige Reue gesühnt werden könnte. Sehr richtig bemerkt Krug: Wenn der Lasterhafte ein Sclave der Sünde und des Lasters genannt wird, weil ihn das Böse gleichsam so beherrscht, dass es scheint, als hätte er seine Willensfreiheit gänzlich verloren: so ist dieses doch nur eine bildliche Redensart; weil die Willensfreiheit, zu den ursprünglichen Bedingungen eines vernünftigen Wesens gehörend, nie ganz aufgehoben werden kann. Die Sclaverei des Lasterhaften ist eine freiwillige; er könnte jeden Augenblick seine Ketten zerbrechen, wenn er nur ernstlich wollte." Manche Stellen der heiligen Schrift haben zwar den Schein, als ob sie besagten, es gäbe Sünder die unwiderbringlich verloren sind, aber es ist bekannt, dass die heilige Schrift eben so bildlich spricht wie Menschen sprechen. (Siehe Chulin

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90, b). Es ist daher sehr voreilig von Maimonides (H. Teschuba 6, 3) aus solchen Stellen zu schliessen, dass Gott manchen grossen Sünder verhindere sich zu bessern, damit er eben in seinen Sünden zu Grunde gehe. - Also Reue und Besserung sühnt alle Sünden, nur verhindere Gott die Besserung, das ist eine Hypothese nicht aus dem Talmud geschöpft welche dem Geiste des Judenthums ganz widerspricht.,,Wir stimmten beide darin überein, dass keine ewige Höllenstrafe zu fürchten sei, denn Gott kann keines seiner Geschöpfe unaufhörlich elend sein lassen. So kann auch kein Geschöpf durch seine Handlungen die Strafe verdienen ewig elend zu sein." ,,Was ich zu fürchten habe ist die Sünde selbst. Habe ich sie begangen, so ist die göttliche Strafe eine Wohlthat für mich und sobald sie aufhört Wohlthat für mich zu sein, so bin ich versichert, sie wird mir erlassen" (Worte Mendelsson in Jerusalem). Wenn doch der Talmud sagt:,,Wer die Gesammtheit zur Sünde anhält und verleitet d. i. wer eine falsche Secte bildet, wie Jerobeam der daselbst als Muster angeführt wird dem wird es nicht gelingen sich zu sühnen" (Aboth, 5, 18), so ist dieses einerseits eine psychologische Wahrheit, die falsche Scham hält gewöhnlich einen Sectenstifter zurück seinen Irrthum einzugestehen: anderseits ist es eine Consequenz des Frevels selbst, er lässt sich seiner Natur nach sehr schwer verbessern; denn wohl kann der Mensch selbst sich ändern und bereuen, wie will er aber alle die bessern, die er verleitet hat? Bildlich sagt der Talmud: „,der gebesserte Sectenstifter wäre dann im Garten Eden, und seine von ihm verführten Jünger im Gehinom." (Jomah 87, a. Und da eben nur hier die Rede von einem Sectenstifter ist, so fällt die Frage vom Tossephoth Jebamoth 109, b. weg). Bemerkt muss noch werden, dass es zwar in Aboth lautet: „Es wird ihm nicht gelingen sich zu bessern" während es in Joma heisst: Es wird ihm kaum gelingen u. s. w."

Uebrigens gilt hinsichtlich der Gradbestimmung des Lasters, ganz dasselbe wie bei der Gradbestimmung der Tugend (§. 8), und hinsichtlich des Kampfes mit dem bösen Triebe, ganz das Entgegengesetzte was (§. 6) von dem Tugendhaften gesagt wird, nämlich das Laster macht den Sieg der guten über die böse Begierde (das Uebergewicht der Activität im Moralischen

über die Passivität) immer mühevoller und schwieriger.,,Eine Sünde ziehet die andere nach sich" (Aboth 4, 2). „Wehe! Sie ziehen die Sünde an schwachen Fäden, aber bald wird das Laster stark und fest wie Wagenseil" (Jesaja 5, 18).

S. 10.

Unsittliche Handlungen können aus Vorsatz oder auch aus Nachlässigkeit begangen werden; es können ferner sein Begehungsoder Unterlassungssünden: der höchste Grad der Unsittlichkeit ist, sündigen aus Liebe zum Bösen. In dem Urtheile über Handlungen eines Andern soll die mildernde Ansicht genommen werden.

Erläuterung. Irrthümliche Handlungen können nicht unsittliche heissen (§. 8. Erläuter.); aber selbst beim Bewusstsein der Gesetzwidrigkeit, kann die Handlung mit kaltem Blute, oder aus Unachtsamkeit, Unbesonnenheit oder Uebereilung begangen werden. Nachlässigkeitssünde heisst im Talmud „Sodon", vorsetzliche Sünde,,Peschah." Ueber Unsittlichkeit aus Liebe zum Bösen, sagt Kant: „Die Bosheit gedacht als höchster Grad, ist eine unmittelbare Neigung, die ohne alle Lockung, am Bösen Gefallen hat und es ohne alle Rücksicht auf Gewinn, Vortheil und Genuss, blos weil es böse ist, ausübt." Jedoch sowohl Kant als auch Krug bezweifeln und wahrlich mit Recht ob irgend ein Mensch solcher Bosheit fähig sei. Der Talmud nennt einen solchen Schlechten: „Einen Abtrünnigen aus Trotz“ um zu kränken (Mummar lehachiss); als Gegensatz von einem Sünder aus Sinnlichkeit (Mummar letheübon.). -Es scheint aber, dass die Ursache zu finden ist in dem Umstande, weil der Talmud das Ceremonialgesetz mit dem Moralgesetz identificirt (siehe Einleitung), und bei jenem ist allerdings ein solcher Grad denkbar. Gibt es nicht vielleicht noch jetzt Menschen, die Ceremonialgesetze übertreten, bloss nur um die Religionsgenossenschaft dadurch zu kränken? (Siehe noch R. L. §. 46).

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Was die Beurtheilung Anderer anbelangt, so heisst es:. „Beurtheile jeden Menschen nach der mildern Seite." (Aboth 1, 6). Dieses aber ist nur ein Moral- aber kein Rechtsprincip; der Richter kann und soll oft diese Regel nicht befolgen:,,So lange

die streitenden Parteien vor dir stehen, betrachte sie als Schuldige, und wenn sie entlassen sind, wo du nun aufhörst zu sein Richter gegen Partei, sondern bist wieder Mensch gegen Mensch, betrachte sie als wäre keiner der Schuldige" (Aboth 1, 8). Siehe auch Schabbath 127, b. manche Geschichten, wie sehr der äussere Schein trügt, und wie man daher in der Beurtheilung Anderer, die mildere Seite nehmen müsse.

S. 11.

Da die sittliche Vollkommenheit einer Steigerung immer fähig ist (§. 7), so ist die menschliche Tugend stets als nicht vollkommen anzusehen, und der Mensch ist daher niemals ohne Schuld. Je ernster und aufrichtiger der Mensch nach sittlicher Vollkommenheit strebt, desto stärker und lebendiger muss er sich seiner Unvollkommenheit bewusst werden, und kann sich daher niemals seines Verdienstes überheben.

Erläuterung. „So gerecht ist kein Mensch auf Erden, dass er nur Gutes thue, ohne zu fehlen" (Prediger 7, 20). Was der Talmud von vier biblischen Personen erzählt, die nie gefehlt haben sollen (Schabbath 55, b.), ist vielleicht blos eine Mythe, jedenfalls aber eine Ausnahme von der Regel, und gehört nicht hieher.

Daraus folgt ganz natürlich, dass sich der Mensch seiner Verdienste wegen nicht überheben kann. „Ein freundlicher Blick, ein bescheidenes Gemüth und ein demüthiger Sinn, sind die Eigenschaften der Jünger Abrahams" (Aboth 5, 19). „Stets sei sehr demüthig" (Ds. 4, 4). Es lässt sich dieser §. auch umkehren: Es ist kein Mensch ohne irgend ein Verdienst. „Verachte daher gar keinen Menschen" (Ds. 4, 3). „Und halte auch dich niemals für einen Verworfenen“ (Ds. 2, 13), damit dir niemals die moralische Kraft zur Besserung erlahme (§. 9 Erläuterung). Ein vernünftiges Wesen ohne alles Verdienst, ist das Ideal des Bösen, der Teufel und nicht Mensch.

Es muss hier bemerkt werden, dass die Talmudisten von dem Glauben an Satan und Dämonen nicht frei waren; aber

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