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HUNDERTJAHRFEIER FÜR VOLTAIRE

Rede von Victor Hugo gehalten den 30. Mai 1878 Heute vor hundert Jahren starb ein Mann. Er starb unsterblich. Er ging dahin, beladen von Jahren, beladen von Werken, beladen mit der erhabensten und schrecklichsten der Verantwortlichkeiten, der Verantwortlichkeit vor dem gewarnten und geläuterten menschlichen Gewissen. Er ging fort verflucht und gesegnet, verflucht von der Vergangenheit, gesegnet von der Zukunft, und dies sind, meine Herren, die zwei erhabenen Formen des Ruhms. Er hatte auf seinem Totenbett einerseits die Zustimmung der Zeitgenossen und der Nachwelt, andererseits diesen Triumph von Hohngelächter und Haß, die die unversöhnliche Vergangenheit denen schenkt, die sie bekämpft haben. Er war mehr als ein Mensch, er war ein Jahrhundert. Er hatte ein Amt ausgeübt und eine Mission erfüllt. Er war offenbar zu dem Werk, das er verrichtete, von einem höheren Willen auserkoren, der sich ebenso sichtlich in den Gesetzen des Schicksals wie in den Naturgesetzen offenbart. Die 84 Jahre, die dieser Mann gelebt hat, nehmen den Zwischenraum ein, der die Monarchie auf ihrem Gipfelpunkt von der Morgenröte der Revolution trennt. Als er geboren wurde, regierte Ludwig XIV. noch, als er starb, regierte Ludwig XVI. schon, so daß seine Wiege noch die letzten Strahlen des großen Thrones und seine Bahre den ersten Schein des großen Abgrundes sehen konnte. (Beifall.)

Bevor wir weitergehen, verständigen wir uns, meine Herren, über das Wort Abgrund; es gibt gute Abgründe: das sind die Abgründe, in denen das Böse zerschmettert. (Bravo!)

Meine Herren, da ich mich unterbrochen habe, gestatten Sie, daß ich meinen Gedanken vervollständige. Kein unkluges oder ungesundes Wort wird hier ausgesprochen werden. Wir sind hier versammelt, um einen Akt der Zivilisation zu begehen. Wir sind hier, um den Fortschritt zu bestätigen, um den Wohltaten der Philosophie bei den Philosophen Aufnahme zu verschaffen, um dem 18. Jahrhundert das Zeugnis des 19. zu bringen, um die großmütigen Kämpfer und die guten Diener zu ehren, um die edle Bemühung der Völker zu beglückwünschen, die Industrie, die Wissenschaft, den tapferen Vormarsch, die Arbeit zur Befestigung der menschlichen Eintracht, in einem Wort, um den Frieden zu verherrlichen, diesen erhabenen Willen des Universums. Der Frieden ist die Tugend der Zivilisation, der Krieg ist ihr Verbrechen. (Beifall.) Wir sind hier, in diesem großen Augenblick, in dieser feierlichen Stunde, um uns ehrfürchtig vor dem moralischen Gesetz zu verneigen und um der ganzen Welt, die auf Frankreich hört, dieses zu sagen: „Es gibt nur eine Macht, das Gewissen im Dienst der Gerechtigkeit, und es gibt nur einen Ruhm, das Genie im Dienst der Wahrheit." (Bewegung.), Nachdem das ausgesprochen ist, fahre ich fort.

Vor der Revolution, meine Herren, war der gesellschaftliche Aufbau derart:

Unten das Volk.

Über dem Volk die Religion, verkörpert von der Geistlichkeit.

Neben der Religion die Justiz, verkörpert von dem Richterstand.

Und was war in diesem Augenblick der menschlichen Gesellschaft das Volk? Es war die Unwissenheit. Was war die Religion? Es war die Intoleranz. Und was war die Justiz? Es war die Ungerechtigkeit.

Gehe ich zu weit in meinen Worten? Beurteilen Sie es.

Ich beschränke mich darauf, zwei Tatsachen anzuführen, die allerdings entscheidend sind.

In Toulouse findet man am 13. Oktober 1761 im unteren Raum eines Hauses einen jungen Mann aufgehängt. Die Menge regt sich auf, die Geistlichkeit schleudert ihr Verdammungsurteil, die Richter leiten die Untersuchung ein. Es ist ein Selbstmord, man macht einen Mord daraus. In wessen Interesse? Im Interesse der Religion. Und wen klagt man an? Den Vater. Er ist Hugenot und hat seinen Sohn verhindern wollen, katholisch zu werden. Es ist eine moralische Ungeheuerlichkeit und materielle Unmöglichkeit; es macht nichts! Dieser Vater hat seinen Sohn umgebracht! Dieser Greis hat den jungen Menschen aufgehängt. Die Justiz arbeitet und hier ist das Ergebnis: Am 9. März 1762 wird

ein Mann mit weißen Haaren, Jean Calas, auf einen öffentlichen Platz geführt, man zieht ihn nackt aus, legt ihn über ein Rad, die Gliedmaßen gebunden ohne Stütze mit herunterhängendem Kopf. Drei Menschen sind dabei auf dem Blutgerüst, ein Ratsherr namens David, der damit beauftragt ist, für die Vollziehung der Strafe Sorge zu tragen, ein Priester, der ein Kruzifix hält, und der Henker mit einer Eisenstange in der Hand. Der arme Sünder, starr und gräßlich, sieht den Priester nicht an, sondern sieht auf den Henker. Der Henker hebt die Eisenstange und zerbricht ihm einen Arm. Der arme Sünder schreit und wird ohnmächtig. Der Ratsherr bemüht sich, man läßt den Verurteilten an Salz riechen, er kommt wieder zu sich; dann ein neuer Schlag mit der Stange, neues Aufheulen; Calas verliert das Bewußtsein; man bringt ihn wieder zu sich, und der Henker beginnt von vorn; und da jedes Glied an zwei Stellen gebrochen werden soll und zwei Schläge erhält, macht das acht Todesqualen. Nach der achten Ohnmacht bietet ihm der Priester das Kruzifix zum Küssen dar. Calas wendet den Kopf ab, und der Henker gibt ihm den Gnadenstoß, das heißt er zerschmettert ihm die Brust mit dem dicken Ende der Eisenstange. So staro Jean Calas. Das dauerte zwei Stunden. Nach seinem Tode wurde es offenbar, daß ein Selbstmord vorlag. Doch ein Mord war begangen worden. Von wem? Von den Richtern. (Lebhafte Erregung. Beifall.)

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