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Um Schlusse des neunzehnten Jahrhunderts, vor dem wir heute stehen, bietet sich dem denkenden Beobachter eines der merkwürdigsten Schauspiele. Alle Gebildeten find darüber einig, daß dasselbe in vieler Beziehung alle seine Vorgänger unendlich überflügelt und Aufgaben gelöst hat, welche in seinem Anfange unlösbar erschienen. Nicht nur die überraschenden theoretischen Fortschritte in der wirklichen Natur - Erkenntniß, sondern auch deren erstaunlich fruchtbare praktische Verwerthung in Technik, Industrie, Verkehr u. s. w. haben unserem ganzen modernen Kulturleben ein völlig neues Gepräge gegeben. Auf der anderen Seite haben wir aber auf wichtigen Gebieten des geistigen Lebens und der Gesellschafts-Beziehungen wenige oder gar keine Fortschritte gegen frühere Jahrhunderte aufzuweisen, oft sogar leider bedenkliche Rückschritte. Aus diesem offenkundigen Konflikte entspringt nicht nur ein unbehagliches Gefühl innerer Zerrissenheit und Unwahrheit, sondern auch die Gefahr schwerer Katastrophen auf politischem und socialem Gebiete. Es erscheint daher nicht nur als das gute Recht, sondern auch als die heilige Pflicht jedes ehrlichen und von Menschenliebe beseelten Forschers, nach bestem Gewissen zur Lösung jenes Konfliktes und zur Vermeidung der daraus entspringenden Gefahren beizutragen. Dies kann aber nach unserer Ueberzeugung nur durch muthiges

Streben nach Erkenntniß der Wahrheit geschehen und durch Gewinnung einer klaren, fest darauf gegründeten, naturgemäßen Weltanschauung.

Fortschritte der Natur-Erkenntniß. Wenn wir uns den unvollkommenen Zustand der Natur-Erkenntniß im Anfang des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden Höhe an dessen Schlusse vergleichen, so muß jedem Sachkundigen der Fortschritt innerhalb desselben erstaunlich groß erscheinen. Jeder einzelne Zweig der Naturwissenschaft darf sich rühmen, daß er innerhalb unsers Jahrhunderts — und besonders in dessen zweiter Hälfte extensive und intensive Gewinne von größter Tragweite erzielt habe. In der mikroskopischen Kenntniß des Kleinsten, wie in der teleskopischen Erforschung des Größten haben wir jeßt unschäßbare Einsichten gewonnen, die vor hundert Jahren undenkbar erschienen. Die verbesserten Methoden der mikroskopischen und biologischen Untersuchungen haben uns nicht nur überall im Reiche der einzelligen Protisten eine „unsichtbare Lebenswelt" voll unendlichen Formen-Reichthums offenbart, sondern auch in der winzigen kleinen Zelle den gemeinsamen „Elementar-Organismus“ kennen gelehrt, aus dessen socialen Zellverbänden, den Geweben, der Körper aller vielzelligen Pflanzen und Thiere ebenso wie der des Menschen zusammengeseßt ist. Diese anatomischen Kenntnisse sind von größter Tragweite; sie werden ergänzt durch den embryologischen Nachweis, daß jeder höhere vielzellige Organismus sich aus einer einzigen einfachen Zelle entwickelt, der befruchteten Eizelle". Die bedeutungsvolle, hierauf gegründete Zellentheorie hat uns erst das wahre Verständniß für die physikalischen und chemischen ebenso wie für die psychologischen Processe des Lebens eröffnet, jene geheimnißvollen Erscheinungen, für deren Erklärung man früher eine übernatürliche Lebenskraft" oder ein unsterbliches Seelenwesen" annahm. Auch das eigentliche Wesen der Krankheit ist durch

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Einheit der Naturkräfte.

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die damit verknüpfte Cellular - Pathologie dem Arzte erst klar und verständlich geworden.

Nicht minder gewaltig sind aber die Entdeckungen des 19. Jahrhunderts im Bereiche der anorganischen Natur. Die Physik hat in allen Theilen ihres Gebiets, in der Optik und Akustik, in der Lehre vom Magnetismus und der Elektricität, in der Mechanik und Wärmelehre die erstaunlichsten Fortschritte gemacht; und, was wichtiger ist, sie hat die Einheit der Naturkräfte im ganzen Universum nachgewiesen. Die mechanische WärmeTheorie hat gezeigt, wie eng dieselben zusammenhängen, und wie jede unter bestimmten Bedingungen sich direkt in die andere verwandeln kann. Die Spektral-Analyse hat uns gelehrt, daß dieselben Stoffe, welche unseren Erdkörper und seine lebendigen Bewohner zusammenseßen, auch die Masse der übrigen Planeten, der Sonne und der entferntesten Firsterne zusammensezen. Die Astrophysik hat unsere Weltanschauung im großartigsten Maßstabe erweitert, indem sie uns im unendlichen Weltraum Millionen von kreisenden Weltkörpern nachgewiesen hat, größer als unsere Erde, und gleich dieser in beständiger Umbildung begriffen, in einem ewigen Wechsel von „Werden und Vergehen". Die Chemie hat uns mit einer Masse von neuen, früher unbekannten Stoffen bekannt gemacht, die alle aus Verbindungen von wenigen unzerlegbaren Elementen (ungefähr siebzig) bestehen, und die zum Theil die größte praktische Bedeutung in allen Lebensgebieten gewonnen haben. Sie hat gezeigt, daß eines von diesen Elementen, der Kohlenstoff, der wunderbare Körper ist, welcher die Bildung der unendlich mannichfaltigen organischen Verbindungen bewirkt und somit die „chemische Basis des Lebens" darstellt. Alle einzelnen Fortschritte der Physik und Chemie stehen aber an theoretischer Bedeutung der Erkenntniß des gewaltigen Gesezes nach, welches alle in einem gemeinsamen Brennpunkt vereinigt, des Substanz - Geseßes.

Indem dieses „kosmologische Grundgefeß“ die ewige Erhaltung der Kraft und des Stoffes, die allgemeine Konstanz der Energie und der Materie im ganzen Weltall nachweist, ist es der sichere Leitstern geworden, der unsere monistische Philosophie durch das gewaltige Labyrinth der Welträthsel zu deren Lösung führt.

Da es unsere Aufgabe sein wird, in den folgenden Kapiteln eine allgemeine Uebersicht über den jeßigen Stand unserer NaturErkenntniß und über ihre Fortschritte in unserem Jahrhundert zu gewinnen, wollen wir hier nicht weiter auf eine Musterung der einzelnen Gebiete eingehen. Nur einen größten Fortschritt wollen wir noch hervorheben, welcher dem Substanz-Gesez ebenbürtig ist und welcher dasselbe ergänzt, die Begründung der Entwickelungslehre. Zwar haben einzelne denkende Forscher schon seit Jahrtausenden von „Entwickelung“ der Dinge gesprochen; daß aber dieser Begriff das Universum beherrscht, und daß die Welt selbst weiter nichts ist, als eine ewige „Entwickelung der Substanz“, dieser gewaltige Gedanke ist ein find unseres 19. Jahrhunderts. Erst in der zweiten Hälfte desselben gelangte er zu voller Klarheit und zu allgemeiner Anwendung. Das unsterbliche Verdienst, diesen höchsten philosophischen Begriff empirisch begründet und zu umfassender Geltung gebracht zu haben, gebührt dem großen englischen Naturforscher Charles Darwin; er lieferte uns 1859 den festen Grund für jene Abstammungslehre, welche der geniale französische Naturphilosoph Jean Lamarck schon 1809 in ihren Hauptzügen erkannt, und deren Grundgedanken unser größter deutscher Dichter und Denker, Wolfgang Goethe, schon 1799 prophetisch erfaßt hatte. Damit wurde uns zugleich der Schlüssel zur Frage aller Fragen" geschenkt, zu dem großen Welträthjel von der „Stellung des Menschen in der Natur“ und von seiner natürlichen Entstehung. Wenn wir heute, 1899, im Stande

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Praktische Fortschritte der Kultur.

find, die Herrschaft des Entwickelungs-Geseßes

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und

zwar der monistischen Genesis!" — im Gesammtgebiete der Natur klar zu erkennen und sie in Verbindung mit dem Substanz-Geseße zur einheitlichen Erklärung aller Naturerscheinungen zu benußen, so verdanken wir dies in erster Linie jenen drei genialen Naturphilosophen; sie leuchten uns deßhalb als drei Sterne erster Größe unter allen anderen großen Männern unseres Jahrhunderts *).

Diesen erstaunlichen Fortschritten unserer theoretischen Natur- Erkenntniß entspricht deren mannichfaltige praktische Anwendung auf allen Gebieten des menschlichen Kulturlebens. Wenn wir heute im Zeitalter des Verkehrs" stehen, wenn der internationale Handel und das Reisen eine früher nicht geahnte Bedeutung erlangt haben, wenn wir mittelst Telegraph und Telephon die Schranken von Raum und Zeit überwunden haben, so verdanken wir das in erster Linie den technischen Fortschritten der Physik, besonders in der Anwendung der Dampfkraft und der Elektricität. Wenn wir durch die Photographie mit größter Leichtigkeit das Sonnenlicht zwingen, uns in einem Augenblick naturgetreue Bilder von jedem beliebigen Gegenstande zu verschaffen, wenn wir in der Landwirthschaft und in den verschiedensten Gewerben erstaunliche praktische Fortschritte gemacht haben, wenn wir in der Medicin durch Chloroform und Morphium, durch antiseptische und Serum-Therapie die Leiden der Menschheit unendlich gemildert haben, so verdanken wir dies der angewandten Chemie. Wie sehr wir durch diese und andere Erfindungen der Technik alle früheren Jahrhunderte weit überflügelt haben, ist so allbekannt, daß wir es hier nicht weiter auszuführen brauchen.

*) Vergl. E. Haeckel, Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck. (Vortrag in Eisenach.) Jena 1882.

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