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PT 1898 Z5H27

Die Philister

Deutschland

und es gibt deren in verdrehen je nach dem Grade

ihrer Bildung sanfter oder heftiger die Augen, sobald die Rede auf Goethesche Lyrik kommt, und viele von ihnen können den Erlkönig auswendig. Für einen lebenden deutschen Dichter dagegen und es gibt auch deren jetzt in Deutschland haben sie nur je nach dem Grade ihrer Begabung schlechtere oder bessere Witze.

Mit einem ebenso wunderlichen wie kostbaren Selbstbewusstsein spielen sie ihren Goethe wie einen Trumpf aus

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gegen den modernen Poeten. Was willst du armer Teufel geben! Goethe! Ja, Goethe! Es klingt wie Flötenton von ihrem Munde.

Ich bin seit meiner frühen Jugend in dem Reichthum der Goetheschen Lyrik heimisch und wohl vertraut mit allen Reizen dieser

Verse-Welt; und so kam es, dass ich meistens seufzend still schwieg, wenn mir in solcher Weise der Meister auf den Tisch gespielt wurde. Denn ich dachte in meiner anmuthigen Bescheidenheit: dieser ältere Herr, der dich also anlässet, hat womöglich eine noch gründlichere und intimere Kenntnis von Goethes Lyrik, als du, und da kannst du es ihm nicht verdenken, wenn er so leicht nichts anderes gelten lassen mag.

Da konnte es mir nun aber passiren, dass

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ich wenn ich mir etwa doch ein Herz fasste und einen solchen Goethereifen durch Citate zu belegen suchte, wie realistisch in meinem Sinne, das heisst wie wonnig individuell dieser classische Lyriker gewesen sei dass ich da fand er kannte sie gar nicht, diese Lyrik; er kannte vor allem das Eine nicht, ihre wundervollste, ihre vornehmste Eigenschaft -er wusste nicht, wie notwendig, wie unmittelbar erlebt diese Verse waren.

Im besten Falle waren ihm eine Anzahl von isolirten »schönen << Gedichten in der Erinnerung, sei es, dass er sie auf der Schule einst zu fest gelernt hatte, sei es, dass seine Töchter sie unentwegt zum Claviere sangen - aber von dem organischen Zusammenhange dieser Dichtungen, von dem Leben in Versen, das darin aufgezeichnet steht, davon hatte er

keine Ahnung, und gerade die naiv-herrlichsten Ergüsse des jungen Dichters, Verse wie:

Denn dein Herz hat viel und gross Begehr,
Was wohl in der Welt für Freude wär,
Allen Sonnenschein und alle Bäume,
Alles Meergestad und alle Träume

In dein Herz zu fassen miteinander. . .

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Und so merkte ich denn mit der Zeit, dass der grosse Ruhm, dessen sich der Lyriker Goethe bei den gemüthvollen Deutschen zu erfreuen hat, nichts anderes ist, als eine fable convenue.

Es klingt zwar ungeheuerlich, wenn man bedenkt, in welch ungezählten Exemplaren › Goethes sämmtliche Werke« seit nun bald vier Generationen von den Familien angeschafft worden sind und noch immer angeschafft werden aber dennoch ist es buchstäblich wahr: das deutsche Publicum kennt Goethes Lyrik nicht.

Woran liegt das?

Nun, natürlich, am deutschen Publicum. Es wird eben immer das liebe « bleiben.

Gewiss.

Aber nur an ihm?

Sollte es

>> Goethes

selbst vor

nicht vielleicht auch ein wenig an sämmtlichen Werken« liegen?

Mir fiel da ein, wie oft ich

Zeiten den ersten oder zweiten Band der

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vierzigbändigen, noch vom Grossvater stammenden, »>unter des durchlauchtigsten deutschen Bundes schützenden Privilegien< gedruckten Ausgabe von 1840 aufgeschlagen, und verdriesslich wieder zugeschlagen hatte.

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Und ich erinnerte mich, dass es eigentlich doch erst der Hirzelsche »junge Goethe< mit seiner reizvollen chronologischen Anordnung gewesen war, der mir die Thüren geöffnet, der mir zuerst den intimen Genuss vermittelt und die Lust zu weiterem Eindringen geweckt hatte.

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>>Der Geist des Künstlers wiegt mehr als Idas Werk seiner Kunst. << Nicht das einzelne schöne Gedicht macht den Lyriker: was wir an ihm geniessen wollen, ist seine Persönlichkeit er selber. Seine Verse sollen sein intimstes, sein individuellstes Wesen uns enthüllen.

> Was gibt dem Freund, was gibt dem Dichter seine Weihe ? Dass ohne Rückhalt er sein ganzes Selbst verleihe!<<

Diesen eigentlichen Genuss der Lyrik kann nichts mehr erschweren, als eine Ausgabe der Gedichte, die geflissentlich alles Persönliche abstreift und die einzelnen Dichtungen ohne Rücksicht auf Zeit und Ursache ihrer Entstehung nach abstrakten Kategorien ordnet.

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Also wären »Goethes sämmtliche Werke < vielleicht nicht besonders geeignet, einem den grossen Lyriker nahe zu bringen?

Schlagen wir den ersten Band auf. Da finden wir gleich unter den >Liedern< eine aufdringliche Menge belangloser, unpersönlicher Gedichte, deren zopfige Geschmacklosigkeit die dazwischen stehenden Herrlichkeiten kaum zur Geltung kommen lässt.

Mindestens die Hälfte aller Goetheschen Gedichte sind für unser heutiges Empfinden ungeniessbar. Und zwar liegt das nicht bloss an der Veränderung des Zeitgeschmacks, sondern wie der Dichter des Faust den Bürgergeneral und die natürliche Tochter schreiben konnte, so hat er auch als Lyriker weidlich das blödeste Zeug verbrochen.

Nur wer das rücksichtslos eingesteht und in dieser Weise zu scheiden weiss, hat ein lebendiges Herz für das, was wirklich unvergänglich schön ist. Die wahre Pietät für das, was ein Jahrhundert nicht hat berühren können, kann sich nur darin zeigen, dass man das Werthlose oder Entwerthete von ihm loslöst wie ein guter Gärtner von dem mächtigen gesunden Baume alles trockene Holz sorgsam abbricht und absägt.

Als Goethe seine Gedichte zum ersten Male sammelte und als achten Band seiner

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