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Sprechen wir von leitenden Ideen einer Zeit oder vom Zeitgeist, so meinen wir in der That nicht von ferne luftige Märchenwesen, die mit unsichtbaren Händen in das Betriebe der socialen Entwicklung eingreifen; die der Menschheit zwar den Wahn beließen, sie lebe die Geschichte, sie schaffe die Cultur, während es doch die Ideen wären, die alles und alle am Schnürchen hätten, um das große Theaterstück aufzuführen, das man Geschichte nennt. Ideen sind ja ursprünglich und eigentlich nie etwas anderes als Verstandeserzeugnisse, noch je irgendwo anders als in den Köpfen einzelner Menschen. Auch die „Volksseele“ besteht lediglich in der gleichartigen, psychophysischen Anlage der einzelnen Volksgenossen. Man spricht von „objektivem Geist“ und meint damit die papierene Existenz von Ideen in Schriftwerken jeglicher Art. Aber auch diese ist nur ein llebergangsstadium zwischen dem Verfasser und den Lesern. Es geschieht nun, daß eine Idee gleichzeitig in vielen Köpfen um sich greift und von da durch Wort, Schrift und Bild weiter verbreitet wird, Aufnahme findet; im Widerspruch sich behauptet und in Anfeindungen erstarkt; in alle Gespräche eindringt und in alle Literatur; sogar Geseze gestaltet oder verhindert; sich im Unterricht cinnistet und als herrschende Meinung in den Grundlagen der Jugendbildung festsetzt. So wird, im Grunde durch Addition, das Individualpsychische Soc alpsychisches. Wir nennen dann eine solche geistige Colleftivkraft Leitidee oder Zeitgeist.

Obgleich nun derlei „massenpsychische“ Erscheinungen nichts als eine Summe von Individualpsychischem sind, so haben sie, als Summe, doch etwas Eigenes. Sie erlangen eine eigenthümliche Kraftsteigerung, üben eine wahre Herrschaft aus, weil ihre Verbreitung sich durch eine Art moralischen Zwanges vollzieht, durch den socialpsychischen Druck, der den Bezwungenen gar nicht zum Bewußtsein zu kommen pflegt. Bieten solche Leitideen zugleich irgend einen socialen Vortheil, so sind Massenüberzeugungen vor

handen, ehe man sich dessen versieht. Oft genug verbreiten sie sich lediglich wie die Moden, durch den Nachahmungstrieb derer, welche es nach etwas gelüftet, was von der Menge abhebt. Tritt dann allgemach Massenverbreitung ein, so ist es mit dem distinguirten Charakter vorbei und aus. In den höheren Kreisen gelten sie dann als banal, als „ranzige Majoritätswahrheiten“, womit der Boden für eine Gründung in neuen Leitideen vorbereitet ist. Nicht minder oft schaden ihnen die Uebertreibungen ihrer Anhänger. Jede leitende Idee unterliegt einer logischen Entwicklung, welche die lezten Consequenzen heraustreibt. Schon diese sind zuweilen eine wahre Teufelsbrut, die man nicht schnell genug verläugnen kann, sie heftet sich trotzdem an die Fersen ihrer Eltern. Die Uebertreibungen. vollends fordern den latenten Widerspruchsgeist heraus. Zieht eine Sache, so finden sich nicht bloß Zustimmungen sondern auch Uebertreibungen von selbst und ungebeten ein. Ist nun der Widerspruchsgeist rege geworden, erst in einzelnen, bald in mehreren, endlich in vielen, so frägt sich nur, wer der Kaße die Schelle anhängt. Findet sich ein Berufener, so kann er einen Windumschlag im Zeitgeist vorbereiten oder veranlassen und erlebt viele Auflagen.

Sonach wären wechselnde Windrichtungen in der öffentlichen Meinung etwas wohl Begreifliches, normale Erscheinungen, unter Umständen nüßliche Vorgänge, welche Uebertreibungen bei Zeiten rückgängig zu machen, den Fortschritt in der richtigen Mitte zu halten vermögen, naturgemäße Regulatoren. Aber sie müssen nicht geradezu in Cyclonen oder Teifune ausarten.

Betrifft eine Leitidee Lebensfragen der Menschheit und ist zugleich stark wie ein Orfan, der Bäume umwirft und Häuser abdeckt, erhebt sich dann ein ebenso starker, aber in anderer, etwa entgegengesetter Richtung, so wird sich daraus ein Wirbelwind ergeben, der nicht bloß Regenschirme umstülpt und Hüte wegträgt, sondern allgemeinen Nothstand

herbeiführt. Derlei Lufiphänomene haben sich in der Geistesgeschichte des XIX. Jahrhunderts mehrfach zugetragen, und socialpsychischer Nothstand ist nicht ausgeblieben.

Von Niedergang

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Dekadenz ist der officielle Ausdruck von Niedergang und Entartung zu sprechen, ist gemeine Rede geworden. Einer der feinsten Kenner des zeitgenössischen Geisteslebens1) hat zur Jahrhundertwende als deren „Signatur“ „das Begriffschaos“, „die Gedankenanarchie“ und „die Gefühlsanarchie" bezeichnet. Zu Nießsches Erfolgen trug es nicht wenig bei, daß er mit seiner Dekadenzdiagnose bei Unzähligen einen wunden Punkt traf; im Nießschecult tönte wie ein tausendstimmiger Aufschrei mit: Ja, troß aller unserer Culturherrlichkeit sind und bleiben wir Dekadenten. Woher inmitten des Reichthums das Gefühl des Ungenügens, inmitten der Fortschritte die Erschöpfung, inmitten der Erfolge das Enttäuschtsein? Woher die böse Rede von Rassenentartung, die sich auf die verzweifelte Statistik der Psychosen stüßt, in der Aetiologie einer schreckhaft zunehmenden Form der Geisteskrankheiten eine Schande ohne Gleichen aufdeckt und einen Ausblick in die Zukunft eröffnet, der grauenhaft ist? Denn dieser Blick in die Zukunft verwandelt. nicht etwa, wie der des Gorgonenhauptes, was er trifft, in Stein, sondern er projicirt erbliche Fäulniß in die Generationen der Zukunft. Das ist socialpsychischer und socialphysischer Nothstand genug. Und dazu das hülflose Ringen nach Weltanschauung, das man immerfort und überall beobachten kann. Weite Kreise der Bildungsmenschheit wissen nichts so gut, als daß sie gar keine Weltanschauung haben; sind zu der Einsicht gekommen, daß es eine herrschende Weltanschauung geben müsse; es dämmert ihnen immer. deutlicher, daß alle Neugründungen von Weltanschauungen Fiasko machen: alles in allem verbreitet sich die socialpsychische Ueberzeugung, daß der Ruin der Weltanschauung

1) L. Stein, An der Wende des Jahrhunderts. 1899. 287 ff.

eine so völlig unheilbare Krankheit des Geistes jein mag, wie die Paralysis.

Es wird einer der Ruhmestitel des XIX. Jahrhunderts bleiben, daß in seinem ganzen Verlauf die sociale und culturelle Entwickelung weit stärker von Leitideen beeinflußt erscheint, als dieses in einem der vorhergehenden Jahrhunderte der Fall war. Auch kann nicht geleugnet werden, daß unter diesen Leitideen des leztverflossenen Jahrhunderts gerade die machtvollsten, Freiheit und Fortschritt, von hoher Idealität und siegreicher Kraft getragen gewesen sind. Sie haben bewirkt, daß auf dem Gebiet des wirthschaftlichen und dem des socialpolitischen Lebens der Abstand zwischen der Culturlage um 1800 und der Culturlage um 1900 größer ist, als der zwischen 800 und 1800. Die Volkswirthschaft ist in ihrem ganzen Umfang umgestaltet, ja neu geschaffen; die Erzeugung, der Umsaß, die Vertheilung der Güter, nichts blieb wie es war, alles ward von Grund aus anders. Die Weltwirthschaft kam auf, die Sache, der Begriff, das Wort. Die Mittel und Wege des Weltverkehrs befördern nicht nur Menschen und Waaren in die weitesten Fernen auf Tag und Stunde, sondern auch von Minute zu Minute Nachrichten aus aller in alle Welt. Das sind in der That Neuschöpfungen, wie sie seit Adam's Zeiten nicht vorgekommen sind.

Auf socialpolitischem Gebiet hebt sich das XIX. Jahrhundert von dem Zeitalter fürstlicher Selbstherrlichkeit glänzend genug ab. Es ist, als ob der Zweck des socialen Lebens und der Grundbegriff der Sociologie von den Todten auferstanden wäre, das Gemeinwohl, das der Absolutismus zur raison d'état mumificirt hatte. Die Zauberformeln, die wie Weltmächte herrschten, die Leitideen, welche über dem Wogenschwall der Zeitereignisse schwebten, sind Freiheit und Fortschritt gewesen. Auf allen Gebieten waren sie führende Obermächte. Aus der etwas nebelhaft allgemeinen Freiheitsidee

lösten sich concretere Gebilde aus: Freiheit auf wirthschaftlichem, auf socialpolitischem, auf geistigem Gebiet; Freiheit der Völker von stammfremder Herrschaft, politische Vereinigung der Nationen, freie Pflege des Volksthums in Sprache und Schrift, bürgerliche Freiheit und gleiches Recht für Alle; politische Freiheit d. i. Mitregierung, Selbstbestimmung der Völker u. i. f. Cit genug und in folgenschwerer Weise sind die magischen Worte mißbraucht worden. Aeußerste Zügellosigkeit nannte sich Freiheit und Fortschritt. Freiheit riefen die Jakobiner beim Abichlagen der Köpfe, und Fortichritt die Communards beim Anzünden der Stadt. Brutale Ausnüßung des Rechtes des Stärkeren, Habsucht und Herrschsucht schmücken sich mit den beiden edlen Namen, wie wenn das Ausbeutungsgelüfte für Freiheit des Arbeitsvertrages und des Wettbewerbes schwärmte; wenn im Namen des Nationalismus kleine Völker von großen zertreten werden; wenn Männer, die sich zu politischem Freijinn bekennen, dasjenige, was sie für die größte politische Errungenschaft des Jahrhunderts halten müssen, das constitutionelle Verfassungsleben, in Grund und Boden ruiniren, wie das durch jede gewaltthätige Obstruktion geschieht.

Uebertreibungen, Mißbräuche, Maßlosigkeiten gehören aber nicht zum Wesen der Freiheit. Weder die im Namen der Freiheit begangenen Frevel, noch die im Namen der Ordnung folgenden Reaktionen, weder Tobsuchtsanfälle, noch Zwangsjacken vermochten den stillen und stetigen Fortichritt der Freiheit zu hindern. Nachträglich ist es freilich leicht zu sagen, daß, da man ihn weder hemmen durite noch konnte, man ihn hätte regeln müssen. Nachträglich aber, nun, aus der historischen Ferne ist es auch leicht einzusehen, daß die hyper, theilweise picudoconservative Politik der Metternich'schen Aera sich ausnimmt, wie wenn man drohenden Eisgang dadurch zu verhindern gemeint hätte, daß alle „correft Gefinnten", alle Gutdenkenden" sich so nachdrücklich als möglich auf das Eis sehen, um es in statu quo zu erhalten.

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