ÀҾ˹éÒ˹ѧÊ×Í
PDF
ePub

der Dichter dem literarisch gleichfalls fixierten Stoffe die künstlerische Idee erst einhauchen mußte. Unzweifelhaft aber und bekannt ist, daß beide Dichtungen literarisch angelehnt sind.

Denken wir uns nun alle Fäden literarhistorischer Überlieferung über Lessings Emilia und Goethes Götz völlig abgerissen in derselben Weise, wie es hinsichtlich der homerischen Epen der Fall ist: würde es möglich sein, die Tatsache der literarischen Anlehnung beider Werke aus ihnen selbst zu erkennen? Ohne Zweifel: weist doch Lessing selbst auf das Virginiamotiv als seine Quelle hin (Akt V. Sz. 7), wo er Emilia zu ihrem Vater sagen läßt: Ehedem gab es einen Vater, der. seine Tochter vor der Schande zu retten, ihr den ersten, den besten Stahl in das Herz senkte . . .“. Auf Grund dieser Stelle müßte ein Kritiker, für den das Virginiamotiv samt seiner Herkunft verschollen wäre, wenigstens zu dem Schlusse gelangen, daß der Dichter in der Stoffindung sich angelehnt habe an eine ihm bekannte Erzählung von einem Mädchen, das unter ähnlichen Umständen von ihrem Vater getötet wurde.

Auch in bezug auf Goethes Götz würde im analogen Falle eine überlegende Kritik nicht viel ungünstiger gestellt sein. Denn auch Goethe zitiert ja seine Quelle, Götzens Autobiographie, direkt, so direkt wenigstens, wie das in einem Dichtwerk, zumal einem Drama, nur möglich ist. Er zeigt seinen Helden in seiner erzwungenen Muße bei der Abfassung seiner Lebensbeschreibung. Das könnte jemand zunächst für eine sehr naheliegende und sehr passende Erfindung des Dichters ansehen wollen; die Überlegung jedoch, daß dem Drama eine Menge historischen Details in der Form von Referaten eingesprengt ist, würde die Vermutung nahe legen, daß der Dichter eine Biographie seines Helden als Vorlage benutzte. Auf Grund der oben zitierten Szene würde er dann zu dem Schluß gelangen, daß diese Biographie eine Autobiographie war.

Ich berufe mich auf diese beiden modernen Dichtungen natürlich nicht deshalb, um zu zeigen, daß Dichter sich überhaupt literarisch anlehnen. sondern daß sie sehr häufig ihre literarischen Quellen durch gelegentliche Erwähnung, man möchte sagen, fast unwillkürlich verraten. In Fällen wie den obigen, wo wir über die Tatsache und die Art der literarischen Anlehnung durch die Tradition hinreichend informiert sind, fällt solche gelegentliche Quellenerwähnung innerhalb der Dichtung selbst nicht auf; wir nehmen sie als etwas Selbstverständliches hin. Aber auch verborgene literarische Beziehungen lassen sich durch Beobachtung ähnlicher poetischer Quellenzitate nicht selten aufweisen: ich nenne nur ein bezeichnendes Beispiel. Sollte man nicht meinen, daß Schiller im Überschwang seiner jugendlichen Phantasie die Schilderungen des Räuberlebens in seinem Erstlingswerke rein aus sich selbst geschöpft habe? Und doch benutzt er nicht bloß eine literarische Quelle, er nennt sie auch. Im 1. Akt. 2. Sz. sagt Spiegelberg:

„den Josephus mußt du lesen", und wieder: „lies den Josephus, ich bitte dich darum", und weist damit auf des Josephus jüdischen Krieg als seine literarische Hauptquelle für die Schilderung des Räuberlebens hin1).

Diese besondere Art des poetischen Quellenzitierens, deren wesentlichstes Merkmal die durch den Charakter eines Dichtwerkes bedingte Beiläufigkeit ist, läßt sich auch in der Ilias und Odyssee beobachten. Wenn z. B. der Dichter der ersteren den großen Zweikampf zwischen Hektor und Aias komponiert, so lehnt er sich dabei vor allem an eine Quelle an, worin ein Kampf gegen den Riesen Ereuthalion geschildert war; der Dichter verrät auch diese seine Quelle durch den mitten in die Handlung eingeschobenen Bericht des Nestor von diesem Geschehnis 2). Die Leichenspiele um Patroklos haben ihr Vorbild im Leichenbegängnis des Amarynkeus; wer derartige Beobachtungen zu machen gewohnt ist, wird das aus 630 schließen. Die Fälle lassen sich häufen 3), aber hier soll von Herodot die Rede sein.

Wie grundsätzlich verschieden solche dichterischen Quellenanzeigen sind von den Zitaten moderner Geschichtsschreibung, durch welche sie den Leser die Authentizität oder wenigstens den Wahrheitswert des Dargestellten nachzuprüfen befähigt, liegt auf der Hand. Aber wie steht es nun hinsichtlich der Quellenzitate mit der Historiographie des Herodot?

Daß die ionische Logographie sich aus dem Epos entwickelt hat, ist notorisch. In welchem Momente und wodurch fing die Poesie an Geschichte zu werden? Ist Choirilos von Samos, wenn er die Perserkriege oder die Stadtgeschichte von Samos episch behandelt1), ausschließlich Dichter oder auch Historiker? Wenn Herodot Teile dieser beiden Epen in prosaische Erzählung auflöst, sie variiert, korrigiert, erweitert, rationalisiert usw., ist er damit Historiker? Wenn Herodot seine Personen Reden halten läßt, die sie nie gehalten haben können, wenn er demokratische politische Dogmen von einem Perser vortragen läßt, angelesene ionische philosophische Spekulation gleichfalls einem solchen unter Anwendung `auf einen bestimmten (historischen) Fall in den Mund legt, wenn er poetische Erfindungen als Berichte von Geschehenem gibt, Novellen und poetische Motive, z. B. den oй2oz öregos der Ilias, (VII, 12 ff.) auf historische Persönlichkeiten überträgt: worin unterscheidet sich sein Schaffen da von dem eines Dichters? Ganz abgesehen von der durch persönliche Beziehungen oder Bedürfnisse bedingten Tendenz was will Herodot? Unterhalten oder

[ocr errors]

1) Vgl. auch den Hinweis auf Plutarch a. a. O. 2) Vgl. Berl. Philol. Wochenschr. 1907 Sp. 1409 ff. i. Q. S. 35 ff.

Mülder, Die Ilias u.

3) Vgl. auch Klio VII, 39 und Anm. 4. Die Ilias u. i. Q. überall.
4) Klio VII S. 42ff.

die Wahrheit erforschen 1)? Mag man ihn immerhin als Vater der Geschichte betrachten, die Eierschalen der Poesie hat seine Darstellung noch nicht abgestreift. Wenn man das verkennt, wenn man ihn überall als pflichtbewußten Forscher nach Wahrheit hinstellt, tut man dem Künstler in ihm, tut man auch seiner Intelligenz unrecht. Von dem Streit über seine Moral schweige ich mit Absicht.

Künstlerisch, d. h. poetisch und nicht historisch, ist auch die Art seines Quellenzitierens. Die Zitate erscheinen beiläufig, wie verloren, ohne Angabe ihrer Bedeutung, ihres Bereiches usw., kurz sie sind so unwissenschaftlich wie nur möglich. Aber darum hören sie doch nicht auf, wirkliche Quellenzitate zu sein, selbst wenn die Quellen derartige sein sollten, daß der Glaube an die Exaktheit der herodoteischen Geschichtsforschung dadurch nicht gerade gewönne.

Zu diesen Quellen des Herodot gehört, wie vor Jahren von Trautwein nachgewiesen ist2), eine Schrift des Dikaios, des Theokydes Sohn, den Herodot als seinen Gewährsmann mit der oben notierten Beiläufigkeit (VIII, 65) nennt. Nur hat Trautwein an diese seine richtige und wichtige Beobachtung eine Reihe von Schlüssen und Vermutungen geknüpft, die auf Anklang unmöglich rechnen konnten, was dazu geführt hat, daß von der Nachprüfung bisher auch der Weizen mit der Spreu verworfen worden ist3). Trotzdem bleibt es sein Verdienst, erkannt zu haben, daß hinter den bei Herodot so gewöhnlichen Hinweisen auf Gewährsmänner, auf Überlieferung, auf verschiedene Versionen durchweg literarische Abhängigkeit des Schriftstellers steckt). Diese seine allgemeine Beobachtung stimmt ganz mit dem überein, was ich, mit Trautweins Aufsatz damals leider noch unbekannt, für den speziellen Fall der literarischen Abhängigkeit Herodots von Choirilos von Samos in dieser Zeitschrift ausführte). Die vorstehenden allgemeinen Ausführungen über Quellenzitate dürften prinzipielle Zweifel an der Richtigkeit vollends zu beseitigen geeignet sein; ich denke auch, daß das Bild, welches ich von der Schriftstellerei des Dikaios im folgenden entwerfen werde, den Gedanken an literarische Abhängigkeit Herodots von einer derartigen Quelle ansprechend machen wird.

Die von ihm erschlossene Schrift des Dikaios bezeichnet Trautwein als ein Memoirenwerk. Er denkt sich als dessen Inhalt Aufzeichnungen des Dikaios über den Zug des Xerxes gegen Griechenland, den er ja im

1) Die Gegenüberstellung bei Thukydides (I, 20-22) geht der Sache auf den Grund: er selbst will die Wahrheit erforschen und (den Staatsmann) belehren, der Logograph das Publikum unterhalten (um des Beifalls und Gewinnes willen). 2) Hermes XXV, S. 527 ff.

3) Busolt, Griech. Gesch. S. 618 bes. Anm. 4. E. Meyer, Gesch. d. A. II bes. 143 nebst Anm. Pöhlmann, Grundriß S. 97.

[blocks in formation]

Gefolge des Großkönigs wie so viele andere griechische Exulanten mitmachte. Dieser Ansatz entspringt wohl unbewußt der Tendenz, dem Herodot als dem Nacherzähler der Berichte eines Augenzeugen Glaubwürdigkeit zu sichern. Bei der Unfaßbarkeit der herodoteischen Überlieferung der Perserkriege läßt sich ein solches Bestreben, gewisse Teile des Berichts, der uns, wohl oder übel, doch nun einmal mindestens das Gerippe für die Versuche einer Darstellung dieses Zeitabschnitts liefern muß, nach Möglichkeit auf eine zuverlässige Quelle zu gründen, wohl verstehen.

Ferner scheint die Qualifizierung jener Schrift als Memoiren vollzogen zu sein durch den Gedanken, daß eine Schrift eines Augenzeugen des Xerxeszuges, die von dem Historiker des Perserkrieges als Quelle herangezogen wurde, notwendig eine historische Schrift gewesen sein müsse. So kommt schließlich der Zirkel zustande, daß Herodot eben die Memoiren des Dikaios ihres aktenmäßigen Inhalts wegen bevorzugt haben und daß andererseits durch diese Beschaffenheit der Quelle die Glaubwürdigkeit des Herodot in hervorragender Weise verbürgt werden soll. Ein Teilnehmer des Kriegszuges gegen Griechenland, der von diesem Kriegszuge schreibt, verfaßt, so schließt man, Memoiren; derartige Aufzeichnungen mußten natürlich für den Geschichtsschreiber von unschätzbarem Wert sein" sagt Trautwein a. a. O. S. 533. Nicht bloß das, sondern durch Benutzung derartiger primärer Quellen würde auch der Erzähler, der 20yoлotós, (der doch durch seinen Namen seine Zugehörigkeit zu den лontaí verrät) zu einem wirklichen Historiker, einem Erforscher der Wirklichkeit und Wahrheit aus den besten Quellen und nach besten Kräften!

So sucht denn Trautwein gemäß dieser seiner Vorstellung von dem Charakter der Schrift des Dikaios allerlei tatsächliche oder als tatsächlich erscheinende Angaben in der Erzählung Herodots auf diese Quelle zurückzuführen, beispielsweise die detaillierte Übergangsschilderung VII, 60 ff. Daß hier Choirilos als Quelle gedient hat, ebenso für die weitere Schilderung bis zum Kampfe bei Artemision hin, habe ich zu zeigen versucht1). Mit diesem, vor mir bereits von Niebuhr ausgesprochenen Gedanken konnte Trautwein allerdings nicht gut rechnen, weil es seit Naeke als ausgemacht gilt, daß Choirilos nicht ein älterer, sondern ein jüngerer Zeitgenosse des Herodot gewesen ist, so daß das Verhältnis beider höchstens als ein umgekehrtes gedacht werden kann“. In dem „höchstens" scheint bei Trautwein sogar ein grundsätzlicher Zweifel an dem Vorhandensein von Beziehungen zwischen beiden zum Ausdruck zu kommen. Daran hat aber nicht einmal Naeke gezweifelt, der Begründer jener als ausgemacht geltenden Ansicht; illustriert er doch geradezu seine Choirilosfragmente durch die Parallelberichte bei Herodot. Im übrigen ist Trautweins irrige Vor

1) Klio VII, S. 29 f.

aussetzung durchaus entschuldigt durch das unbestrittene Ansehen, in welchem Naekes Buch nun einmal steht.

Wenn also Choirilos als Quelle des Völkerkataloges von vornherein ausscheiden, eine schriftliche Quelle jedoch durchaus angenommen werden zu müssen schien, eine Schrift des Dikaios wieder nachweislich von Herodot benutzt wurde, was lag näher, als diese Schrift auch für die gesuchte schriftliche Quelle des Völkerkatalogs auszugeben? Und ferner, wenn für diesen Völkerkatalog aktenmäßiger Charakter vorausgesetzt wird, muß dann nicht wieder diese Quellenschrift eine Beschaffenheit gehabt haben, mit welcher der aktenmäßige Gehalt wenigstens einiger Partien vereinbar war?

Diese Argumentation Trautweins, die ich aus der stillschweigenden Voraussetzung seiner Darlegungen zu rekonstruieren versucht habe, wird, so selbstverständlich sie zu sein scheint, hinfällig schon dadurch, daß in der Tat Choirilos Herodots Hauptquelle für das erste Stadium des Feldzuges ist. Daß Dikaios auch nicht einmal als Nebenquelle für diese Partien angesprochen werden darf, wird die Prüfung der auf ihn mit Sicherheit zurückführbaren Abschnitte des herodoteischen Werkes zeigen.

In diesen Stücken nun spielt Demaratos, der exilierte Spartanerkönig, eine über seine tatsächliche Bedeutung für den Verlauf der Geschehnisse weit hinausgehende Rolle. Herodots Gewährsmann Dikaios nennt ihn nicht etwa als Zeugen gewisser von ihm berichteter Begebenheiten, vielmehr handelt es sich jedesmal um Reden, Erklärungen, Ansichten und Gesinnungsäußerungen dieses Mannes1), dazu kommt dann die mit allerlei Raisonnement angefüllte Geschichte seiner Verbannung aus der Heimat, die irgendwelche Bedeutung für den Gang der Haupterzählung gleichfalls nicht hat.

[ocr errors]

Herodot berichtet (nach Dikaios) von einem Gespräch des Demaratos mit dem Großkönig vor dem Brückenübergang (VII, 101 ff.) Zwar meint Trautwein, dieses Gespräch könne wohl historisch sein (S. 538), aber dieses Atom von Möglichkeit verflüchtigt sich vor der Eigenschaft, die dieses Demaratosstück mit allen anderen teilt, der unverkennbaren Tendenz. Auch der (VIII, 65 berichteten) Wundererscheinung in der thriasischen Ebene, die auf Dikaios zurückgeht, schreibt Trautwein eine ziemlich bedeutende Realität zu: „derartige Geschichten greift man nicht rein aus der Luft, etwas Tatsächliches ist immer vorhanden" (S. 560). Wenn diese allgemeine Behauptung auch so wahr wäre, wie sie es (zumal bei Griechen) nicht ist, worin könnte in diesem Falle das Tatsächliche bestanden haben? Das möglicherweise Tatsächliche die Wahrnehmung einer Staubwolke und eines Getöses ist etwas sehr Gleichgültiges; die Bedeutung der Partie liegt in der Auffassung dieser an und für sich unbedeutenden ,,Tatsache" 1) Den unhistorischen Charakter der Demaratosstücke betont auch Niese bei Pauly-Wissowa, Demaratos.

« ¡è͹˹éÒ´Óà¹Ô¹¡ÒõèÍ
 »