mir, finden, daß hier historische Überlieferungen ersten Ranges vorliegen. Denn Ehrfurcht vor der Überlieferung zeichnet das Judentum aller Schattierungen bis in die nachapostolische Zeit aus, bis in die Zeit, wo griechische Schriftstellerei auf dem Boden des Christentums heimisch zu werden anfängt. Tiefe Ehrfurcht vor der Überlieferung hegt die pharisäische Schule. Sie deutet und deutelt an ihr, aber sie zu unterdrücken oder zu verfälschen erkühnt sie sich niemals. Selbst da, wo die Überlieferung ihrer Rechtgläubigkeit straks entgegen ist und sie aufzuheben droht, wo an die pharisäischen Schriftgelehrten die Versuchung herantritt, sie aus der Welt zu schaffen, siegt schließlich die heilige Scheu vor der Überlieferung über den Trieb der Selbsterhaltung. Sie erkennen die Gefahr, die Koheleth und andere hagiographische Schriften für ihre Glaubenslehre und Lebensanschauung bergen, und schon sind sie daran, dieselben der Vernichtung preiszugeben; im entscheidenden Moment jedoch gewinnt die Ehrfurcht vor der Überlieferung die Oberhand- und diese Schriften bleiben uns erhalten, wenn sie auch im pharisäischen Geiste umgedeutet werden. Scheu vor der Überlieferung bekundet selbst der Sadduzäismus, der sich von ihr kein Jota rauben lassen will; bekunden im hohen Maße die Essener, die Apokalyptiker und die jüdischen Hellenisten. Ja selbst der in allen diplomatischen Künsten versierte Geschichtsschreiber Josephus verrät eine unüberwindliche Scheu vor der Überlieferung, und sie bleibt ihm heilig und unantastbar selbst da, wo sie seinem Interesse entgegen ist. Tiefste Ehrfurcht vor der Überlieferung endlich legt das ganze neutestamentliche Schrifttum an den Tag. Und die Widersprüche, die es aufweist, sind, wie ich zeigen werde, nicht zuletzt auf diese Scheu, die jede Kritik verstummen macht, zurückzuführen. Es ist somit nicht nur ein schweres Unrecht, sondern auch eine Versündigung gegen den heiligen Geist der Geschichte, diesen Überlieferungen zähes Mißtrauen entgegenzubringen. Man mag immerhin an dem Auffassungsvermögen mancher Tradenten zweifeln, aber die Überlieferungen selbst in Bausch und Bogen verwerfen, weil sie sich da und dort widersprechen, das darf man nicht. Ich würde mich im Gewissen bedrückt fühlen, wenn ich nicht diesem Buche das Bekenntnis vorausschickte, daß ich ungemein viel Anregungen, die, wie ich hoffe, in ihm Früchte getragen haben, meinem Sohne Oscar verdankte. Diese vermittelten mir sowohl seine Schriften,') als auch der unmittelbare und rege Gedankenaustausch, den ich mit ihm durch eine Reihe von Jahren über meine eigenen und eine Menge angrenzender Probleme unterhielt. Er ist nicht in den pharisäischen Traditionen, durch die mein eigenes Denken von Jugend an in seiner Entfaltung gehemmt war, aufgewachsen, die inneren Kämpfe, die ich bei meiner verkehrten religiösen Erziehung durchzukämpfen hatte, sind ihm erspart geblieben, und er konnte auch auf religiösem Gebiete von Anfang an auf einem freien, durch keinerlei bindende Traditionen eingeschränkten Standort Fuß fassen. Ihm, dem sich bereits in sehr jugendlichem Alter - wie seine Schriften dies bezeugen weitere religionsphilosophische Aspekte erschlossen, danke ich zum Teil meine Überwindung des Pharisäismus und eine höhere Würdigung messianischer Ideale. Auch an dem, was in diesem Buche an fruchtbaren Motiven enthalten ist, hat er seinen Anteil; und deswegen fühle ich mich gedrängt, dies an dieser Stelle ausdrücklich zu betonen. 1) Insbesondere seine Schriften: „Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen", Berlin 1903, und „Romantik und Gegenwart", Berlin 1904, die er unter dem Pseudonym Oscar Ewald veröffentlichte. Wien, Ende September 1905. Moriz Friedländer. I. Die apokalyptische Bewegung. Apokalyptiker und Pharisäer. Der Individualismus in der Apokalypse. Der Fromme als Welterlöser in der Apo Heidenbekehrung durch Israel. - Die apokalyptischen Messiasvorstellungen in Palästina landläufig. Der Messias in den Psalmen Salomos. der Esraapokalypse. -In den Testamenten der zwölf Patriarchen In der Sibylle. Messias und Antimessias. Der Antimessias Beliar der Sibylle in den Apokalypsen und im Neuen Testament. Der Messias der jüdisch-hellenistischen Schule. Die messianische Bewegung im Zeitalter Jesu. Das Stillschweigen der Mischna über die Messiasbewegungen. Messianismus antipharisäisch. · Der Messias und das Gesetz. Pharisäer und Sadduzäer repräsentieren nicht das gesamte Volk. Die Radikalen der apokalyptischen Gemeinde. Kampf gegen dieselben. Die Vergeltungslehre in der Apokalypse. Der Unsterblichkeitsglaube in der Apokalypse. Bei Pseudosalomo. Gegner des Unsterblichkeits Der Unsterblichkeitsgedanke dem Alten Testament Die Apokalyptiker verpflanzten die Unsterblichkeitslehre auf II. Die religiösen Bewegungen im „Landvolk".. scher Pöbel". Der Am-haarez im Talmud. - Die Am-haarez Mosis. und dem Evangelium. Der Täufer und der Pharisäismus. Die Johanneische Tauf bewegung. Jesus und der Pharisäismus. haarez über die Befreiung vom Joch des Gesetzes. III. Die essenische Bewegung Irrtümliche Vorstellungen von dem Essenismus. - Essenische Waschungen und Scheu vor Verunreinigungen. Levitische Reinheit und essenische Absonderung haben nichts miteinander zu schaffen. Die Waschungen sind kein hervorstechendes Merkmal des Essenismus. - Der wahre Grund der essenischen Weltflucht: sich ungestört zu Gott erheben zu können. Hellenische Auffassung der Einsamkeit. Die Echtheit der überlieferten Essenerberichte. Stillschweigen des Talmud und der Evangelien über die Essener. Vertrauenswürdigkeit der Berichte des Philo, des Josephus und des Plinius. Der Bericht des Josephus. Enthaltsamkeit, die Kardinaltugend des Essenismus. Seine Seine Mißachtung des Besitzes. Essenische Freiheit und Verabscheuung des Krieges. Mahle allenthalben bewundert. Ihre weite Verbreitung. Essenisches in der Sibylle. Essenische Verwerfung des Opferkultus. Essenische Unsterblichkeitslehre jüdisch-hellenistischer Provenienz. Synagogengottesdienst der Essener ähnlich dem der griechischen Diaspora. Angeblicher Sonnenkultus der Essener. Essenismus und Christentum. IV. Der Minäismus. Die Minim jüdische Häretiker. Das Wesen des Minäismus. Der Minäismus stammt aus vorchristlicher Zeit. Seite. 78-113 114-168 169-234 Strenge Maßregeln der pharisäischen Schriftgelehrten gegen die Minäer. gelehrten. Stande an. Die Minäer gehörten dem wissenschaftlichen Der vorchristliche Minäismus und sein Inhalt. — Minäische und apokalyptische Geheimlehre. — Frühes Eindringen dieser Geheimlehre in den Pharisäismus. Schädlichkeit dieser Geheimlehre. Die Zweigottheit im Minäismus. Der Minäismus polytheistisch gerichtet. Die Geheimlehre im Schoße der pharisäischen Gesetzeslehrer. Das Berückende im Minäismus. Irrtümliche Identifizierung von Minäismus und Christentum. Der Minäismus in der Apokalypse und im jüdischen Hellenismus. Der Minäismus im Urchristentum. — Der jüngste Versuch, die Minäer zu Judenchristen zu machen. Pharisäismus und Christentum entschiedene Gegner des MinäisDie Giljonim im Talmud sind nicht die Evangelien. Warum man die Minäer zu Christen machte. mus. seine Talmudauslegung. Herford und mus. Seite. I. Der jüdische Hellenismus. Seine Lehre 235-264 |