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In dem Talmud sprechen Stimmen zu uns aus der Zeit Jesu, Stimmen maßgebender Schriftgelehrten, unter deren Augen Jesus lebte und wirkte, und diese sollten nicht ein Sterbenswörtchen über ihn und sein Evangelium zu berichten gewußt haben? Das scheint doch ganz unglaublich! So dachten und denken noch heute nicht blos christliche, sondern auch jüdische Theologen, und diesen letzteren hauptsächlich ist die merkwürdige Entdeckung zu verdanken, daß der Talmud die urchristliche Gemeinde nicht nur kennt, sondern auch bekämpft. Sie fanden nämlich in den Minim des Talmud, die hier, weil sie die Thora und Auferstehung leugneten, hart befehdet wurden, die Anhänger Jesu, die Judenchristen wieder.

Wie ungereimt diese Entdeckung auch sein mochte, sie hat doch ungeteilten Beifall hüben und drüben gefunden, und so ist es denn zum Dogma geworden, daß unter den Minim im Talmud Judenchristen zu verstehen seien.

Der Kampf nun, den ich in den letzten Jahren gegen diese verkehrte Hypothese führte, die soviel Trübung in die Erforschung der Geschichte des nachmakkabäischen Judentums und der Entstehung des Christentums gebracht, und die Beweise, die ich für meine Behauptug, daß die Minim in den ältesten talmudischen Quellen philosophierende Juden gewesen, erbrachte, haben vielseitige Zustimmung, aber auch manchen Widerspruch erfahren; und noch in letzter Stunde ist mir ein Widersacher erstanden, der gegen meine These mit großer Heftigkeit anrennt, so daß ich mich auch in diesem Buche bestimmt sehe, gegen die neuerlichen Einwendungen zu reagieren; vielleicht daß es mir diesmal gelingt, die Minimfrage endgiltig zu erledigen.

Bei der Leidenschaftlichkeit, mit der zumal heute nach Jesus und dem entstehenden Christentum im Talmud gefahndet wird, ist es wahrlich kein Wunder, daß sich talmudunkundige Gelehrte für die Hypothese, daß die Minim Christen gewesen seien, leicht kaptivieren ließen. Das ganze Interesse, das die christlichen Theologen an dem Talmud nehmen, konzentriert sich in der Frage: was er über Jesus und sein Evangelium zu berichten wisse? ob Gutes oder Schlimmes, gleichviel. Die Tatsache an und für sich, daß zeitgenössische talmudische Berichterstatter von den ersten Anfängen des Christentums sprechen, gewinnt Bedeutung, wo sonstige geschichtliche Quellen völlig versagen. Leider muß ich

diese Illusion, die auch ich in jungen Jahren, unter dem Banne der jüdischen Seminartheologie stehend, teilte, gründlich zerstören und konstatieren: daß die talmudischen Quellen des ersten christlichen Jahrhunderts noch keinerlei authentische Nachrichten von Jesus und seiner Botschaft haben. Woher diese befremdliche Tatsache, das wird im Verlaufe unserer Untersuchungen klar werden. Aber ist es denn nicht befremdlich genug, daß auch sonst und selbst in den Evangelien Jesus und seine unmittelbaren Apostel nicht direkt zu uns sprechen, sondern lediglich Überlieferungen durch den Mund späterer, mehr oder weniger eingeweihter und kongenialer Referenten? Und selbst aus den paulinischen Briefen, den ältesten Dokumenten urchristlicher Geschichte, spricht kein Augenzeuge des Lebens Jesu zu uns, sondern ein Apostel des auferstandenen Jesus, der von dem Erdenwallen des Meisters nur vom Hörensagen unterrichtet ist und seine Botschaft erst aus dem Munde des erhöhten, nicht aber des lebenden Jesus empfangen hat.

Und dennoch ist die Kenntnis des Talmud für die Erforschung der Geschichte des Urchristentums unerläßlich. Und derjenige wird niemals in das Dunkel desselben völlig eindringen, dem dieses Schrifttum ein Buch mit sieben Siegeln; nicht etwa weil es den Schlüssel zur Lösung des Problems des Christentums hat - wir sagten ja eben, daß es von Jesu und dem Christentum nichts weiß-, wohl aber weil es uns den Geist enthüllt, der das offizielle Judentum jener Zeit beherrschte und uns unwiderleglich zeigt, daß aus diesem die Weltreligion nie und nimmer hätte hervorgehen können, daß es also vergebliche Mühe, hier die treibenden Kräfte finden. zu wollen, die zur Bildung einer Weltkirche führten. Das allein schon ist ein Gewinn von nicht zu unterschätzendem Werte. Wir werden also von hier unsern Blick ab- und ihn ungetrübt einem andern Boden zuwenden, auf welchem Männer von prophetischer Fernsicht erstanden, Männer, die einen andern Geist hatten, und die, wie später Jesus, „gewaltig predigten, aber nicht wie die Schriftgelehrten". In diesen Männern lebte der freie weitausschauende Geist des jüdischen Hellenismus, der frühzeitig in den Synagogen der griechischen Diaspora bis herab in die Ära des Christentums von griechischen Juden, wie Apollos, die noch keine Kenntnis von dem erschienenen Messias hatten, gepredigt wurde.

Zum andern vermag die Kenntnis der talmudischen Literatur unser Verständnis für die Zeit, in der das Christentum entstanden,

ungemein zu fördern, da ja in derselben auch Stimmen aus jener
Zeit zu uns dringen, die auf die in ihr zur Geltung gelangenden
religiösen Bewegungen reagieren und uns, wofern wir unbefangen
hinhorchen, einen tiefen Einblick in die von uns sonst nur geahnten
religiösen Strömungen und Kämpfe gewähren.

Dabei muß unumwunden zugegeben werden, daß die Traditionen,
denen das Judentum der griechischen Diaspora folgte, die ursprüng-
lichen, seit den Propheten fortgepflanzten und im vormakkabäischen
Judentum allgemein verbreiteten gewesen; während jene des.
Pharisäismus die jüngern, zugunsten eines engen erst jüngst zur
zur Herrschaft gelangten Nationalismus aufgehäuften und künstlich
in das Gesetz hineingedeuteten waren.

Und hiermit bin ich bei dem Vorwurf angelangt, der mir von.
jüdischer oder vielmehr neupharisäischer Seite gemacht wurde, daß
ich mit meiner Geschichtsauffassung den Faden der „Überlieferung"
durchschneide.

Darauf erwidere ich: Nicht ich, sondern der Pharisäismus hat,
begünstigt durch den mit den Makkabäersiegen eingetretenen Um-
schwung in den politischen Verhältnissen, die natürliche Entwick-
lung des Judentums gewaltsam unterbrochen, seinen Lebensnerv
unterbunden, es seiner ureigenen Mission entfremdet und seinen
Geist in andere, von den Propheten nie geahnte Bahnen gelenkt,
auf denen es die schiefe Ebene des Partikularismus hinunterglitt,
so daß es in der Folge zur Mitwirkung an dem Aufbau der Welt-
religion untauglich wurde. Ich hingegen knüpfe dort wieder an,
wo der Pharisäismus zum großen Unheil des auf den engsten
Nationalismus hingedrängten Israel der Religion der Propheten den
Lebensnerv durchschnitt. Oder, ist der Geist der pharisäischen
Schriftgelehrten in Wirklichkeit der stärkere, göttlichere, der der
Propheten aber der schwächere, getrübtere? Ist der letzteren Auf-
fassung des Mosaismus: die Voranstellung der Sittenlehre und
Rückstellung des Gesetzesdienstes, die scharfe Betonung des welt-
erlösenden Messianismus, das unentwegte Bestreben, Israel zum
„Licht der Völker" zu machen, nur von vorübergehender, der
pharisäische Ausbau des Gesetzes aber, der zur völligen Isolierung
des Volkes führte, von ewiger Bedeutung?

Und eine andere Frage: Ist es dem Pharisäismus tatsächlich
gelungen, den von den großen Propheten gepredigten Universalismus
auch nur im Heimatslande zu ersticken? In jenem engen, vom

Nationalismus berauschten Teil des Volkes, den er unter seine
Fahne zu scharen verstand, allerdings. Nicht aber in den seiner
Machtsphäre entrückten, in der Kulturwelt lebenden Massen des
jüdischen Volkes, die an Zahl und Intelligenz ihren Volksgenossen
in Palästina weit überlegen waren. Und auch daheim widerstanden
ihm nach oben die Sadduzäer, die Adelspartei, nach unten das
„Landvolk", das sich nimmer beugte dem Joche, das er ihm an
den Hals legen wollte, das seine Väter und Vorväter nicht kannten,
da es erst mit dem Sieg des Partikularismus über den Univer-
salismus geschmiedet wurde, um das Volk von jedem intimern
Verkehr mit der Kulturwelt abzuschneiden, jede Beeinflussung
durch die letztere zu verhindern, wodurch selbstverständlich eine
Einwirkung des jüdisch-religiösen Geistes auf die Außenwelt un-
möglich gemacht wurde. Hier erst ward der Pharisäismus geboren,
hier jener blinde Eifer für das Gesetz, der der Nation in der Folge
so verhängnisvoll wurde.

Der Pharisäismus erweist sich sonach als ein ungestümer Ein-
dringling in das bislang von dem Geist der Propheten und der
Weisheitsliteratur souverän beherrschte Judentum. Er durchbrach
dessen bisherige religiöse Entwicklung und dämmte es in enge,
künstlich aufgeführte Gesetzesschranken ein.

Ähnliches hatten schon Esra und Nehemia, den günstigen
Zeitpunkt wahrnehmend, wo ein Teil der Exilierten aus Babylon
in die Heimat zurückgebracht wurde, versucht; doch war ihre
Mühe damals nur von vorübergehendem Erfolg gekrönt. Aber ihre
Schatten wollten seither nicht mehr ganz verschwinden.

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Der unverfälschte Mosaismus pflanzte sich also mitnichten
fort auf dem von dem Pharisäismus ihm vorgezeichneten Wege:
von Moses auf Josua, von Josua auf die Alten, von diesen auf die
Propheten und von den Propheten auf die Männer der großen
Versammlung", will sagen, auf die Schöpfer der pharisäischen
Traditionslehre; sondern er ging von den Propheten auf die Weis-
heitslehrer und von diesen unmittelbar, und mit völliger Umgehung
des von dem Weltjudentum sich abzweigenden, von den „Männern
der großen Versammlung" in ein enges nationales Bett geleiteten
Israel, auf die führenden Geister des Judentums der griechischen
Diaspora über, von wo er in die Weltreligion ausmündete.

Dies ist die richtige Traditionskette, dies der Weg, den die
jüdische Religionsgeschichte bis auf die Erfüllung der Zeit ge-

nommen.

-

Die Propheten haben einen weitausblickenden, von
Gesetzesbürden noch ganz freien, den äußerlichen Zeremonialdienst
als unwesentlich in den Hintergrund schiebenden Mosaismus ge-
predigt. Desgleichen die ihnen auf dem Fuße folgenden, von dem
griechischen Geiste bereits berührten Weisheitslehrer. Noch weniger
als bei den Propheten begegnen wir bei ihnen einer schärferen
Betonung des Zeremonialgesetzes; Gotteserkenntnis und Sittengesetz
bilden das Um und Auf ihrer Lehre. Und selbst die Frommen in
den Psalmen, die das Feuer nationaler Begeisterung in ihrem
Schoße hüteten und den Aufstand gegen die ethnisierenden jüdischen
Hellenisten vorbereiteten, sie verinnerlichen die Religion, vertiefen
die Frömmigkeit im Gemüte, predigen einen ergreifenden Einfalts-
glauben; aber von einem Gesetzesdienst, wie ihn der Pharisäismus erst
in der hasmonäischen Periode schuf und zur üppigsten Blüte brachte,
haben sie auch nicht die leiseste Ahnung noch. Sogar das tadellos
fromme, bibelgläubige, kurz vor dem Ausbruch des Makkabäer-
krieges entstandene Sirachbuch weiß noch nichts von einer zweiten,
„mündlich überlieferten Thora", noch nichts von dem Joch
pharisäischer Satzungen. Und nun gar erst in der Weisheitsliteratur
der griechischen Diaspora, die direkt an die kanonische anknüpft
und sie weiterbildet, um in den jüdischen Hellenismus, wie er uns
schließlich bei Philo, seinem letzten, beredtesten und begeistertsten
Vertreter, entgegentritt, einzumünden, da ist nirgends eine Spur
pharisäischer Gesetzesknechtschaft zu entdecken. Hier überall steht
der Geist hoch über dem Buchstaben des Gesetzes, und gelangt der
letztere nur insoweit zu seinem Rechte, als es die Pietät erheischt,
da er ja doch der Leib, der den mit aller Sorgfalt und mit heiliger
Scheu zu erforschenden göttlichen Geist berge. Auf dem ganzen
langen Weg, den der universalistisch gerichtete Mosaismus von den
Propheten bis zum Paulinismus genommen, ist für nationale Be-
schränktheit, für einen engherzigen Partikularismus, für einen
Menschen und Völker von einander trennenden Gesetzeskultus, wie
ihn der Pharisäismus geschaffen, kein Raum. Nur auf einem
Seitenwege, abseits von der Reichsstraße des weltgeschichtlichen
Geschehens, konnte der Geist Esras zu seinem Ziele gelangen.
Dieser Weg aber führte in eine Sackgasse, aus der das durch Ent-
faltung der nationalen Fahne seiner Weltmission entfremdete
pharisäische Judentum den Ausblick ins Freie und Weite nicht
wieder finden konnte.

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