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hat, dem, weil es auf solchem Wege nicht weiter ging, zunächst ein völliges Verstummen der evangelischen Kirchenmusik folgte.

Ich müsste, um diesem Gedankengange weiter zu folgen, vor Allem zunächst auf die Verbindung der beiden Schwesterkünste im Liede eingehen, wenn es nicht zu weit führte. Unsere Litterarhistoriker pflegen die musikalische Entwickelung des Liedes so völlig zu übergehen, als wenn sie gar nicht zur Sache gehörte; und doch liegt hier noch ein ungehobener Schatz fruchtbarer Betrachtungen für die Lyrik. Hat sich doch ihre Wichtigkeit für ältere Perioden längst erwiesen: wer würdigt das altdeutsche Volkslied noch, ohne auch nach seinen Melodien zu fragen? wie kann ein Litterarhistoriker die eigentümliche Stellung des altdeutschen Volksliedes in seiner letzten Blüte im 16. Jahrhundert richtig bestimmen, wenn er nicht zu beobachten und zu verfolgen weifs, wie es durch seine Melodien in den wundervollen mehrstimmigen Kunstgesang der Zeit eingeht und zur ersten „Hausmusik“ wird, in Text und Melodie noch immer Volkslied, in Ausstattung Kunstlied.

Je weiter wir in der Zeit zurückgehen, um so wichtiger und tiefer eingreifend scheinen sogar die Fragen zu werden, deren Beantwortung nur auf dem Grenzgebiete der beiden Schwesterkünste, also auch nur mit Zuhülfename der Musikgeschichte zu finden ist: Fragen nach den Formen der Lyrik auf weltlichem wie kirchlichem Gebiet, nach Strophenbau, Versmessung, kurz, wichtigste Fragen der Poetik überhaupt bis wir, nach rückwärts wandernd, endlich bei den Griechen die ältesten musikalischen Rhythmen durch die Metrik kennen lernen und auf den wahren Sinn der metrischen Formeln wieder erst durch ihre musikalische Bedeutung geführt werden. Diese kurzen Andeutungen sollen nur sagen, was mit dem gemeinsamen Grenzgebiete der beiden Künste gemeint ist und sie werden zugleich genügen, um es zu rechtfertigen, wenn man sich von der Litterärgeschichte aus nach den Erscheinungen der Musikgeschichte umschaut.

Wie lange ist es denn her, dass es eigentlich nur für die neuesten Phasen der Musik eine Geschichte gab, d. h. eine Geschichte, welche auf wirklicher Anschauung beruhte? Die Anschauung reichte nur so weit zurück, als die Musik noch auf gleichem Boden mit der modernen steht, d. h. etwa bis in die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Was dahinter zurückliegt, das wusste man nur in der Form gelehrter Notizen zu fassen, denen jede lebendige Erkenntnis ihres Gegenstandes abging. Es ist anziehend, zu beobachten, wie sich die

Fortschritte auf diesem Gebiete entwickelt haben: sie gehen in Deutschland zurück auf den Anstofs und die Anregung, welche wenige einzelne Männer etwa seit 1820 gaben: Ett, Thibaut, Kiesewetter, Winterfeld und Tucher; nur der erste ein Musiker von Fach, die vier andern Juristen, deren Blicke sich der Musik des 16. Jahrhunderts zugewendet hatten. Ett brachte seit 1816 in der Münchener Michaelskirche zuerst wieder die Musiken Palestrina's, Orlando Lassos u. a. zur Ausführung, indem er nicht nur seinen Chor, sondern auch sein Publikum dafür erzog. Wie in Heidelberg Thibaut, dessen durchschlagendes Buch von der Reinheit der Tonkunst 1825 erschien, so sammelte in Wien Kiesewetter im Privatkreise eine stets wachsende Zahl von Bewunderern um die alte Musik und Kiesewetter trat zuerst mit seiner hochbedeutenden wissenschaftlichen Untersuchung über die Verdienste der Niederländer um die Tonkunst 1828 in die Öffentlichkeit. 1832 und 1834 folgten Winterfelds grofse Arbeiten über Palestrina und Gabrieli. Während die anderen genannten ausschliesslich von musikalischen Neigungen bei ihrem Vorgehen getrieben wurden, hatte wohl Winterfeld von Anfang an wenigstens zugleich einen praktischen Gesichtspunkt anderer Art im Auge: nämlich den Gemeindegesang der evangelischen Kirche. Dessen Quelle, sein ursprüngliches Wesen, seine reine Natur liefsen sich nur im 16. Jahrhundert und im Zusammenhang mit dessen allgemeinen musikalischen Zuständen erkennen. Mit der Arbeit über Luthers geistliche Lieder brach hier Winterfeld 1840 die Bahn und es erschien 1842-47 sein grofses Werk über den evangelischen Kirchengesang, dem 1848 Tuchers Schatz des evangelischen Kirchengesanges folgte. (Ein Probeheft davon ward übrigens schon 1840 gedruckt). Auch Tuchers Forschungen beschränkten sich aber keineswegs auf das hymnologische Gebiet, sondern sie umfassten im engen Zusammenhang mit den andern angeführten Strebungen und Arbeiten die Musik des 16. Jahrhunderts überhaupt. Er hat mir einmal erzählt, wie er als junger Mann in Italien reisend, alte Musiken gesammelt habe. Es war nicht lange vor Beethovens Tod, als er mit seinen Schätzen über Wien zurückkehrte. Hier hatte er einem Musikverleger (ich meine, es war Artaria) u. A. eine von ihm in Partitur gesetzte Messe Palestrinas zur Durchsicht gegeben. Als er wiederkam sie abzuholen, zeigte man ihm einen Mann, der ohne sich um seine Umgebung zu kümmern, eifrig lesend vor der Partitur safs: es war Beethoven, der dann mit Tucher voll staunender Bewunderung über die Arbeit des alten Meisters sprach.

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Die von so kleinem Kreise ausgehende Bewegung hatte sich während der dreifsiger und vierziger Jahre bereits auf weitere Kreise fortgepflanzt. Nicht nur tüchtige ältere Forscher schlossen sich an, sondern es erstand eine jüngere Generation der Musiker, in deren Bildungsgang die Sache bereits bestimmend eingegriffen hatte. Bald durfte man nun das 16. Jahrhundert, die klassische Schlussperiode der mittelalterlichen Entwickelung, als eine glücklich eroberte neue Provinz betrachten, deren Beschaffenheit sich der Erkenntnis erschlossen hatte, deren herrliche Früchte sich nicht nur dem Genufs der Kenner sondern, vor Allem auch den hohen Zwecken des katholischen Kirchengesanges wie der evangelischen Hymnologie darboten. Heinrich Bellermann gab mit seiner Schrift über die Mensuralnoten 1858 den Schlüssel zu manchem Schlofs, welches bis dahin dem Öffnen noch Widerstand geleistet hatte. Proske und sein Chorregent Mettenleiter, unter deren Leitung der Regensburger Dom eine Pflegestätte klassischen Kirchengesanges ward, wirkten durch bedeutende Publikationen älterer Werke, durch theoretische und historische Arbeiten und durch Kirchenchöre und Vereine. Proskes Musica divina begann 1853, im selben Jahre erschien Mettenleiters Enchiridion chorale; auch Commers Collectio operum musicorum Batavorum saec. XVI. XVII. begann 1854 zu erscheinen. Die ganze Richtung auf durchgreifende Reform des katholischen liturgischen wie überhaupt kirchlichen Gesanges fand im Cäcilienverein sein Organ, Zugleich erstand aber auch der weltliche Liedergesang des 16. Jahrhunderts wieder aus dem Grabe. Mit den Regensburger kirchlichen Bestrebungen ging der dortige Madrigalverein Hand in Hand. Unter Wüllners Leitung bildete sich auf der Münchener Musikschule eine gewisse Virtuosität im Vortrag der schwierigen vierstimmigen Lieder des 16. Jahrhunderts, der englischen Madrigale u. s. w. aus. Übrigens gebührt m. W. Brahms das Verdienst, zuerst in einem öffentlichen Konzert eines jener Lieder, nämlich Heinrich Isaacs „Innsbruck, ich mufs dich lassen," wieder zu Gehör gebracht zu haben.

Auf evangelischer Seite wäre namentlich der hymnologischen und der Volksliederforschung zu gedenken. Doch ist hier nicht der Ort, darauf weiter einzugehen. Ich wollte nur zeigen, in welcher Art die Musikgeschichte sich in Deutschland des 16. Jahrhunderts bemeistert hat. Sie setzte nun ihre Entdeckungsreisen von da aus in das frühere Mittelalter und ins klassische Altertum fort; als das erste grofse Werk, welches die geschichtlichen Errungenschaften dieser ganzen Periode

zusammenfasst und selbst in bedeutendem Masse erweitert, ist Ambros Geschichte der Musik zu nennen, deren erster Band 1862 erschien.

Es ist begreiflich, dafs für das griechische Altertum die Philologen eingreifen mufsten; dies geschah mit erfreulichstem Erfolg. Den Anfang machte 1847 der ältere Bellermann mit seiner Arbeit über die Tonleitern und Musiknoten der Griechen; es folgten nach Ambros Darstellung der griechischen Musik 1864 Westphals Geschichte der alten und mittelalterlichen Musik und 1880 seine „Musik des griechischen Altertums“. Zur Seite aber gingen, auch für die Musik von entscheidender Wichtigkeit, die Forschungen von Westphal, Rossbach, Cäsar und Heinrich Schmidt über die antike Metrik und Rhythmik. Da hätten nun freilich die Musiker den Faden wieder anknüpfen können, um in den Zeiten des Ambrosius die Brücke zum Mittelalter zu finden. Denn zwischen hier und dem nun endlich im hellen Lichte der Erkenntnis erscheinenden 16. Jahrhundert blieb noch eine lange Strecke Weges im Dunkel liegen. Hier hatte man zwar nicht die Hoffnung auf grofse Entdeckungen für praktische Verwendung, wie im Zeitalter Palästrinas; desto gröfser aber ist das theoretisch geschichtliche Interesse dieser Jahrhunderte. Handelt es sich doch um das merkwürdige Schauspiel einer aus dem Keime neu hervorbrechenden Kunst, um die Geburt einer neuen Kunst, denn als solche muss man der antiken Musik gegenüber die zur Polyphonie erblühende moderne Musik bezeichnen. Dem Verständnis dieser Zeiten stehen aber ganz besondere Schwierigkeiten entgegen. Hinter dem 16. Jahrhundert liegt zunächst die Periode der älteren französisch-niederländischen Meister, bisher in ihren Schätzen noch zu wenig erforscht, um auch nur über wichtigste Tatsachen ein sicheres oder abschliefsendes Urteil zu gestatten. Ist doch erst eben durch Haberls wichtige Arbeit über Du Fay (Bausteine für Musikgeschichte I. Breitkopf und Härtel 1885. Sonderabdruck aus der Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft Jahrgang I.) ein ganz neues Licht in die Chronologie und die Folge der Meister in dieser ersten Periode des polyphonen Stiles gefallen, indem zugleich für Du Fay, den man bis dahin nur aus wenig Arbeiten kannte, eine erstaunliche Menge erhaltener Kompositionen nachgewiesen werden. Reichte, was man bisher von ihm kannte, nicht einmal zu einem Urteil über den fertigen Meister und seine wahre Stellung in der Kunstgeschichte aus, so wird die Musikgeschichte durch die jetzt entdeckten Schätze sogar in den Stand gesetzt werden, Du Fay in seiner Entwickelung und damit zugleich einen höchst wichtigen Abschnitt der Bildung

des polyphonen Stiles überhaupt zu verfolgen. Hier werden dadurch eine Reihe von irrigen Anschauungen, welche sich bisher von Buch zu Buch fortzogen, berichtigt werden. Je weiter aber die Forschung nun rückwärts schreitet, genötigt, sich jeden Fufs breit festen Bodens Schritt bei Schritt erst zu erobern, je mehr wird sie von der lebendigen Anschauung der Musik in erhaltenen Kompositionen im Stiche gelassen, je mehr sieht sie sich auf die Worte der Theoretiker beschränkt. Diese sind zwar zahlreich genug, auch z. T. ja schon seit lange durch Gerberts Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum (1784) zugänglich, an die sich dann jetzt Coussemakers ausgezeichnete Arbeiten, insbesondere seine Scriptorum. . . nova series. (1864) anschliefsen. Aber ihr Verständnis bietet ganz aufserordentliche Schwierigkeiten. Ohne die Vereinigung von philologischen und paläographischen mit musikalischen Kenntnissen ist es überhaupt unmöglich in diese Litteratur einzudringen und vor Allem wird ihr Verständnis dadurch erschwert, dafs die Schreiber dieser Werke bei ihren Lesern eine Grundanschauung der musikalischen Theorie und Praxis voraussetzten, welche wir uns aus ihren Werken erst künstlich rekonstruieren müssen.

Durch die Periode des ältesten Kontrapunktes mit den Keimformen des Discantus oder Contrapunctus a mente und der Faux bourdons gelangen wir rückwärts weiter an die Zeiten blos einstimmiger Tonreihen, an deren Ausgangstür wir auch den weltlichen Gesang der ritterlich höfischen Dichter treffen. Hier aber fliesst der Erkenntnis glücklicher Weise eine neue Quelle zu: der gregorianische Choral, und wiederum kommt der Wissenschaft hier ein praktisches Bedürfnis der katholischen Kirche in wesentlichster Weise zu Hülfe. Giebt es doch unter den Cäcilianern eine äufserste Rechte, welche den ganzen Kirchengesang wieder auf diese seine ursprünglichste altkirchliche Form zurückführen möchte. Es ist vor Allem das klassische Werk des Dom Joseph Pothier, Les mélodies Grégoriennes (1881), welches auf diesem Gebiete und damit zugleich für die Kenntnis der Lehre von den Neumen, als der ältesten Notenschrift, einen festen Boden gelegt hat. Von da aus wieder muss dann also endlich der Anschluss an die antike Musik erreicht werden.

Man sieht aus dieser Skizze der augenblicklichen Lage, wie sehr die Forschung noch überall in den Anfängen steht. Es wird einer Menge von Einzelforschungen bedürfen, ehe die zusammenfassende Arbeit der allgemeinen Musikgeschichte wesentliche Fortschritte wird auf

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