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Göthe's Mangel an historischem Sinn.

Bewegung nicht zu entziehen vermocht, welche Deutschland vom Beginn des Jahrhunderts an aus den chimärischen Träumereien der Revolution auf die ehrwürdigen geschichtlichen Ueberliefe rungen seiner Vergangenheit zurückdrängte. Je mehr das Maß der Erniedrigung sich erfüllte, desto lebendiger erwachte in allen wahrhaft edlen Geistern das Bewußtsein von Deutschlands einstiger Größe, Macht und Herrlichkeit. Stolberg und Friedrich Schlegel, Männer, die sich an Geist und Wissen, wenn auch nicht an poetischem Genius, mit Göthe messen konnten, traten in den Schooß der katholischen Kirche zurück, aus welcher Deutschlands einstige Größe hervorgegangen. Novalis wies auf diese Rückkehr als das einzige Heil der Zukunft hin. Görres wandte sich aus dem Taumel der Revolution jener Freiheit zu, welche Europa zumeist der Kirche dankt und welche mit der kirchlichen Freiheit steht und fällt. Der große Minister von Stein, sowie die Führer und Sänger der Freiheitskriege vollzogen jene Rückkehr wenigstens theilweise, indem sie die christlichen Ideen als das heiligste Erbgut Deutschlands auf ihr Banner schrieben und keine Freiheit und keine Rettung erwarteten, als durch sie. Der Kampf gegen Napoleon war kein bloßer Nationenkampf, kein bloßer Freiheitskampf, sondern ein heiliger Krieg, die gewaltsame Schilderhebung aller geschichtlichen, rechtlichen, erhaltenden Kräfte gegen die Alles zersetzende, Alles niedertretende Revolution, an deren Spite sich ein gekrönter Usurpator gestellt hatte.

Göthe hatte keinen Sinn für Geschichte. Er hat das öfters selbst gestanden, und sein Leben bezeugt es deutlich genug. Ihn fesselte nur das Schöne. Mensch, Natur, Welt - Alles sollte Kunstwerk sein und sich zum Universalkunstwerk vereinen. Der Dichter ist ihm das Wichtigste in der Welt, Alles nur um seinetwillen da. Er floh vor der Geschichte anfänglich gar nicht, aber sie sollte schön sein sie sollte sich ebenfalls zum harmonischen Kunstwerk gestalten. Aber das wollte sie nicht und konnte sie

1 Göthe's Werke [Hempel]. XXVII. 296. Göthe's Briefe an Frau von Stein. II. 246.

Schöll (Fieliz),

Die mißglückte Geschichte des Herzogs Bernhard.

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nicht, da dem Betrachter das Einzige abhanden gekommen war, was den Zauber des Schönen auch über die Geschichte ergießt, die Leitung der ewigen Weisheit und Liebe in den Geschicken der Völker. Offenbarung und Kirche wies er von sich, nun blieb die Weltgeschichte freilich nichts Anderes, als ein jammervolles Gewirre menschlicher Leidenschaft, in welchem die Dämonen des Kriegs, der List und der Unterdrückung um die Weltherrschaft streiten 1.

In allem Ernst wollte Göthe einmal als Historiker auftreten. Weimar sollte durch einen seiner Helden, den Herzog Bernhard, verherrlicht werden. Schon durch diese Tendenz war eine rein objective Geschichtschreibung ausgeschlossen. Der Versuch scheiterte vollends daran, daß das historische Material zu ungünstig war, dem beabsichtigten Zwecke zu dienen. Göthe gestand das dem Historiker Luden ganz naiv ein 2:

„Ich bin fast in derselben Weise, wie Sie, zu dem Versuche einer Biographie des Herzogs bewogen worden; auch habe ich in der That den Willen gehabt, das Buch zu schreiben, und die Hoffnung, es werde sich etwas Erfreuliches und Heiteres machen lassen. Aber ich erkannte bald, daß es schwer, wenn nicht unmöglich sein würde, dem Helden eine bestimmte, anständige Physiognomie zu geben. Zwar bin ich auf das Kirchliche und Politische nicht eingegangen. Das Kirchliche gehört der Zeit an. Es war der Firniß, mit welchem man Leidenschaften und Bestrebungen überstrich, um Andere und sich selbst zu täuschen. Auf jener Seite wie auf dieser hat es Glaubenshelden gegeben; auf jener Seite wie auf dieser hat man sich selbst eingebildet, und sich von Andern vorsagen lassen, Kämpfer des Herrn zu sein. Das Politische aber habe ich zur Seite geschoben. Es gab keine andere Politik, als die Lust zu rauben, zu plündern, zu erobern. Das Reich war dahin und bestand nur noch in einer verblaßten, über

1 „Das Uebel," sagte er, „macht eine Geschichte, und das Gute feine." Riemer, Mittheilungen. II. 714.

2 Heinrich Luden, Rückblicke in mein Leben. Jena 1827. S. 111 ff.

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Kleinere historische Skizzen.

lieferten Vorstellung. Welcher Fürst bekümmerte sich um den Kaiser und das Reich anders, als in soweit er seinem Vortheil nachlief? Die Gedanken: Vaterland und Nationalität, waren dem Zeitalter fremd und sind den späteren Zeiten fremd geblieben, wie sie denn wohl auch früher selten wirksam gewesen sein mögen. Darum ist Niemanden zum Vorwurfe zu machen, daß er nicht vaterländisch oder national handelte; es ist Niemanden zu verdenken, daß er sich nach allen Seiten wandte, um die Stellung zu erhalten, in welcher er größeren Einfluß gewinnen konnte, und kein Geschenk zurückwies, das er zu besigen wünschte, gleichviel ob es ihm vom Norden her geboten ward oder vom Süden....... Und wenn auch der Dichter noch wohl einen Ausweg fände, so kommt Ihr Historiker mit dem, was Ihr Wahrheit nennt, und treibt des Dichters Werk auseinander. Und so habe ich mich denn zurückgezogen und die Sache aufgegeben, wie Sie."

Verzweifelnd an Geschichte, Recht, Nationalität und Patriotismus, wie an der positiven Religion, womit jene Volksgüter stets organisch verbunden sind, wandte sich Göthe der Dichtung und der Natur zu: hier konnte er das Schöne in zahllosen Harmonien verkörpert genießen, dort konnte er es frei gestalten, obwohl er sich durch Mangel an geschichtlichem Sinn einen weiten Kreis der lebensvollsten Poesie, besonders der dramatischen, für immer abschnitt. Die Anmerkungen zu Cellini, zu Rameau's Neffen, zur Farbenlehre wird wohl Niemand im Ernst als „Geschichte“ bezeichnen wollen. Es sind biographische Details, ohne historische Durcharbeitung, nach Bedürfniß und Laune zusammengeframt, ganz in der Art, wie die Encyklopädisten die Geschichte betrieben. Was er über Winckelmann und Hackert geschrieben, sind schönrednerische, geistvolle Skizzen, aber keine Biographien in ernst historischem Sinne 1. Seine Lobreden auf Anna Amalia und

1 Nichtsdestoweniger hat auch Göthe's „Geschichtsforschung" ihren Ritter gefunden: Fr. Xav. Wegele, Göthe als Historiker. 1876. Vgl. über dessen Objectivität Histor.-polit. Blätter. 1886. XCVII.

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301-307.

Veranlassung einer poetischen Selbstbiographie.

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Wieland aber wird ein besonnener Historiker höchstens allenfalls zum Schmuck seiner Darstellung, aber nie als Grundlage seiner Forschung verwenden können. Nachdem er sich mit solchen Skizzen, die durch stete Unterbrechung nicht viel litten, die Zeit der napoleonischen Feldzüge, des Consulats und der ersten Kaiserjahre gekürzt, verfiel er nunmehr während der deutschen Freiheitsbewegung auf den Gedanken, sein eigenes Leben zu schreiben.

Die nächste Veranlassung war, nach seiner eigenen Angabe, die 1808 vollendete Herausgabe seiner sämmtlichen Werke in zwölf Bänden. Es war eine so bunte Sammlung, vielfach bruchstückartig, unzusammenhängend, schon durch die Anordnung so durcheinander gewürfelt, daß sich der Leser schwer eine Vorstellung von der Entwicklung des Dichters und von seinen sonderbaren. Sprüngen machen konnte. In der reichen Lyrit des ersten Bandes waren Erzeugnisse der verschiedensten Zeit abermals bunt durcheinander gemischt. Bei dem gelegenheitlichen und fragmentarischen Charakter so vieler Werke reichte ein bloß chronologisches Verzeichniß nicht aus. Eine Biographie allein konnte die Aufgabe lösen, die so verschiedenartigen Elemente lebendig zu verbinden. und zu erklären, wie sie sich selbst im Leben des Dichters gestaltet hatten. Schiller, Shakespeare, Calderon fühlten einen solchen Bekenntnißdrang nicht. Ihre Werke tragen ihre volle Erklärung in sich. Man braucht keinen Biographen. Das Kunstwerk hat sich vom Geiste des Künstlers selbständig abgelöst, wie die Frucht vom Baume. Auch Göthe hat solche Werke geschrieben, wie Iphigenie und Tasso, die für sich leben und nur verlieren, wenn man ihre Entstehungsgeschichte herbeizieht. Aber ein ansehnlicher Theil seiner Poesie bleibt dunkel, unbefriedigend, räthselhaft, wenn nicht eine biographische Erklärung hinzutritt. Den Hauptinhalt seines Lebens hatte er zudem nie in äußere Gegenstände gelegt, sondern in sich selbst. Seine Lieder und Balladen waren der eigenste Ausdruck eigener Freuden und Leiden. Griechenland und Rom, Altes und Neues zog er an sich und machte es zum Träger seiner Ideen. Werther und Göt, Orest und Tasso, Wilhelm Meister und Hermann, Clavigo und der Eduard der Stella,

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Göthe's Leben

der bunteste Roman.

der Römische Elegiker und der Venetianische Epigrammatist, das ist er selbst, nur in verschiedenem Costüm. Wie kaum ein anderer Dichter hat er seine Poesie selbst gelebt und der schaffenden Phantasie, der eigentlichen Fiction nur wenig überlassen. Liebschaft mußte auf Liebschaft, Genuß auf Genuß folgen, um stets neu von Liebe und Genuß fingen zu können. Das Leben mußte selbst zum Roman werden, um Romane zu schreiben.

Als er sechzig Jahre alt war und auf sein Leben zurückblickte, lag denn auch ein Roman vor ihm, wie ihn unter Tausenden kaum Einer erlebt. Die Namen Gretchen, Friederike, Lotte, Lili, Charlotte von Stein, Corona Schröter, Christiane Vulpius, Minna Herzlieb bezeichnen nur die hauptsächlichsten Phasen. Für manchen lebhafteren und leidenschaftlicheren Charakter hätte eines dieser Verhältnisse hingereicht, in Leben und Dichtung für immer Schiffbruch zu leiden. Dem elastischen Diplomaten war es aber nicht nur gelungen, einen dieser Romane an den andern zu knüpfen, sondern dabei vom einfachen Advokaten zum Freund und Minister eines Herzogs emporzusteigen, den Ruhm des ersten deutschen Dichters zu erwerben und mit nahezu allen berühmten Persönlichkeiten seiner Zeit in Berührung zu treten. Der Liebhaber des Frankfurter Schenkmädchens und der Pfarrerstochter von Sessenheim stand vor Napoleon als einer der großen Männer der Zeit, und anstatt Lili's goldenen Herzchens trug er jezt das Kreuz der Ehrenlegion. Der Rückblick auf Kindheit und Jugend hatte für den glücklichen Parvenu den vollen Reiz, den ein Wanderer empfindet, der auf den verschlungensten Pfaden zu ungeahnter Höhe emporgelangt. Mit wahrer Wollust blickte er auf den zurückgelegten Weg zurück. Es war der wunderlichste Roman, viel interessanter als „Wilhelm Meister“. Er fühlte, daß er jedem Mädchen, mit dem er einst getändelt, jest europäische Berühmtheit verschaffen könnte. Ein Vorbild war auch schon da. Rousseau's Bekenntnisse waren in der ganzen Welt herumgekommen, und Freund Moritz hatte als Anton Reiser wenigstens in Deutschland andächtige Leser in Menge gewonnen. So begann Göthe 1810 seine Selbstbiographie. Alles ließ

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