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Fausts opernhafte Läuterung.

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Die Sonne geht auf. Faust erwacht, ohne Reue, ohne Buße, ohne irgend einen Gedanken oder eine That geistig erneuert, jugendfrisch. Der Elfengesang hat ihn von all seinen Verbrechen geläutert. Die ganze Gretchentragödie ist vergessen und begraben. Als neuer Adam steht er da und huldigt der Sonne, wie ein Feueranbeter aus dem Westöstlichen Divan1. Es ist das wohl einer der größten lyrischen Sprünge in der ganzen menschlichen Literatur. Da hört nicht Vieles sondern Alles auf 2. Wir können uns jetzt getrost das Widerstreitendste gefallen lassen: daß der phantastische Mädchenfänger und Mörder Faust noch eine glänzende Weltrolle spielt, die Helena citirt und heirathet, als Gouverneur einer Küstenprovinz einen holländischen Waterstaat einrichtet, ein paar arme alte Leutchen aus ihrem kleinen Besitz verjagen und zufällig auch todtschlagen läßt, Dekonomie, Industrie, Handel und Colonialpolitik treibt, eine Seerepublik gründet, und, von den Engeln selbst den Fangarmen des Me

1 „Es ist etwas Alt-Parsisches in diesem doch modernen Menschenkind," sagt Friedr. Vischer von Göthe, „reine Freude am Sein, am tüchtig und gediegen Sein. . . . Nur vorübergehend konnte ihn. Ahriman verfinstern." Göthe-Jahrbuch IV. 49.

2 Die meisten Commentatoren ziehen sich damit aus der Verlegenheit, daß sie Gretchens Liebe eine erlösende Kraft und Fausts handelndem Leben eine fühnende Wirkung beimessen. „Faust,“ sagt H. Chr. Andersen (Samlede Skrifter. XXIII. 176), „hat in seines Erdenlebens Streben gefehlt, gesündigt, aber in seinem Willen erhob sich seine Seele hin zum Schönen, Wahren und Guten bis zu großer Klarheit, deßhalb kann und mag fie, von der Liebe getra= gen, zur Gnade aufsteigen.“ Ein solcher Theaterdusel zum „Schö= nen, Wahren und Guten“ reicht indeß offenbar nicht hin, einen Menschen von schwerer Schuld, ja von den schwersten Kriminalverbrechen reinzuwaschen. „Die ethische Weltanschauung," sagt Reichlin- Meldegg (a. a. O. III. 170) sehr richtig, „verlangt durchaus, daß der Mensch wirke, um sich zu läutern, während wir bei= nahe immer nur Mephisto thätig sehen, und zuleht der Held in den Himmel hineingeliebelt wird, anstatt sich durch eigene Kraft (mit Hilfe der Gnade) zu läutern und zu verklären.“

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Faust am Kaiserhof. Weltmaskenball.

phistopheles entrissen, obwohl troßig, geizig, stolz und egoistisch bis zum letzten Augenblick, auf die Fürbitte heiliger Anachoreten, Mystiker, Lehrer, Büßerinnen und speciell Gretchens, in die Gesellschaft der Madonna und durch sie in die ewige Herrlichkeit aufgenommen wird. Man vermißt nur Marthe und Mephistopheles. Denn da Faust um kein Haar besser ist, als diese beiden, so liegt durchaus kein Grund vor, weßhalb diese nicht auch in den Himmel kommen, ja auch der Himmel auf den Blocksberg oder der Blocksberg in den Himmel versezt werden sollte.

Etwas, was einer sittlichen Umkehr, Läuterung und Genugthuung gliche, bietet Faust im Verlaufe des ganzen Stückes nicht. Von Christus, Erlösung oder Gnade ist nirgends die Rede. Faust bleibt, wie im ersten Theil, der vom Christenthum losgerissene, stolze Apostat, der weder beten noch glauben kann. Mephistopheles geleitet ihn als Freund, Rathgeber, ja als ein zweites unzertrennliches Ich bis zum Tode. Sie bilden durch das ganze Stück eine Firma, und das ganze innere und äußere Leben Fausts ruht auf dämonischen Helfersdiensten. Sie befinden sich in solcher Harmonie, daß dem Stück alle weitere Spannung fehlt und es, troß des Aufgebots aller wirklichen und mythologischen Creatur, oft herzlich langweilig wird 1.

Zuerst treffen wir sie en compagnie an einer kaiserlichen Pfalz. Mephistopheles übernimmt das eben vacant gewordene Amt eines Hofnarren und schafft dem verschuldeten Monarchen Papiergeld; Faust dagegen ist maître des plaisirs bei Hofe, inscenirt Maskenzüge mit allen erdenklichen allegorischen und nicht allegorischen Gestalten (Herold, Gärtnerinnen, Olivenzweig, Aehrenkranz, Phantasiekranz, Phantasiestrauß, Rosenknospen, Gärtner, Mutter und Tochter, Holzhauer, Pulcinelle, Trunkener, Grazien, Parzen, Furcht, Hoffnung, Klugheit, Zoilo-Thersites,

1 Alex. Schnetger (Der zweite Theil des Göthe'schen Faust. Jena 1858. S. 46. 47) gesteht, daß die Figuren fast alle Lebenswärme, fast alles Fleisch und Blut verloren hätten und uns kein herzliches Mitgefühl abzugewinnen vermöchten.

Die philologische Suche nach Helena.

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Knabe Wagenlenker, Plutus, Weibergeklatsch, der Abgemagerte, Hauptweib, Geiz, Wildgesang, Faunen, Satyr, Gnomen, Riesen, Nymphen). Er amüsirt die Hofdamen mit seiner Charlatanerie, und beschwört, nachdem er die „Mütter" - bis heute von den Commentatoren noch unenträthselte Zauberwesen - besucht, auf Wunsch des Kaisers die Helena. Unglücklicherweise verliebt er sich aber in das schöne classische Gespenst, und da er ihm vorwitzig zu nahe kömmt, stiebt unter einem ungeheuern Knall die ganze Erscheinung auseinander. Das ist der erste Act.

Im zweiten befinden wir uns zuerst in Fausts alter Behausung. Wagner treibt hier organische Chemie er versucht in der Phiole einen „Menschen" darzustellen, und Mephistopheles macht seine Wizze dazu. Ein phantastisches Lichtgespenst „Homunculus" zeigt sich dabei und ist willkommen, um als Führer für die classische Walpurgisnacht zu dienen. Faust und Mephi

stopheles fahren durch die Luft nach Griechenland und halten hier eine philologische Heerschau über allen antiken Gespensterspuk, den Göthe mit Riemer und andern Gehilfen aus den alten Classikern, Leriken und Commentatoren zusammengetragen. Sie fahren erst auf die pharsalischen Felder, dann an den obern Peneios, an den untern Peneios, wieder an den obern Peneios, an die Felsbuchten des ägäischen Meeres. Es begegnen ihnen da die thessalische Here Erichtho, schnarrende Greife, Ameisen von der kolossalen Art, Sphinxe, Sirenen, Nymphen, Schwäne,

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1 Der wunderliche Welt-Maskenball hat durch den Dichter Gio= vanni Prati auch in Dante's Sprache eine Nachahmung gefunden. Sein Gedicht Armando" (Firenze 1868) ist eine Nachdichtung des „Faust“. „Prosa e poesia, l' epico, il lirico, il drammatico, voci della terra, voci dell' aria, voci dell' acqua, voci del fuoco, voci d' insetti e di fiori, d' uomini e di spiriti, fantasmi e personaggi reali, cori di moltitudini, soliloqui di dormenti e dialoghi di desti fanno insieme un turbinio, che continua per quattrocento e quaranta pagine, senza che se ne possa cogliere neppure il proposito sostanziale dell' autore." Gaetano Zocchi, L' ideale nell' arte. Prato 1883. p. 84. 85.

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Fausts allegorische Hochzeit mit Helena.

der Kentaur Chiron, die Seherin Manto, der Gott des Erdbebens Seismos, Pygmäen, Daktylen, Imsen, die Kraniche des Jbykus, Lamien, die Empuse, die alten Naturphilosophen Thales und Anaxagoras, Oreaden und Phorkyaden, Nerëiden und Tritonen, Nereus und Proteus, die Telchinen von Rhodus, Psyllen, Marsen und Doriden, und endlich die Galatee, mit deren Triumphzug der Act schließt. Mit zärtlicher Liebe hat der alte Heide hier versucht, seine antike Mythologie neu zu beleben -die Verse sind oft wunderschön, artige Spruchverse zu mytho logischen Gemälden aber das Ganze ist und bleibt eine magnetisirte Rococo-Welt, gut für Tapeten in's alte Versailles. Es ist eine wahre Ironie des Schicksals, daß Göthe, nachdem er sich eingebildet, der Gründer und das Orakel des guten Geschmacks in Deutschland zu sein, alle bedeutenderen großen Sagen und Kunststoffe des Alterthums vergaß und dafür den ganzen Kleinkram cines Rococo-Museums um seinen Faust versammelte. Und dieser Faust ist auf der Reise nach dem höchsten altclassischen Schönheitsideal! Er sucht Helena!1

Im dritten Act befinden wir uns vor dem Palaste des Menelaos in Sparta. Helena die leibhaftige Frau des Menelaos und Geliebte des Paris - tritt auf, mit gefangenen Trojanerinnen und einem griechischen Chor. Obschon vor unserer Zeitrechnung geboren, ist sie noch so schön wie damals, eben von Troja heimgekehrt und will sich nun häuslich einrichten. Da erscheint Faust, wirbt um ihre Hand, heirathet sie und erhält noch im selben Act von ihr einen Sohn Euphorion, der auf den Felsen zu tolle Sprünge macht und noch im selben Act stirbt: eine Allegorie auf Lord Byron. Helena nimmt von Faust Abschied und entschwindet aus seinen Armen. Nach einem Trauergesang schließt der Act mit einem Bacchanal.

1 H. Heine sagt über die Hochzeit Fausts mit Helena: „Le docteur Faust, qui, en véritable érudit Allemand, avait toujours idolâtré l'ideal antique, vient d'entrevoir la plus belle héroine de ses rêves savants." Méphistophéla (Revue des Deux Mondes. 1852. I. 638).

Faust als General. Prosaisches Ende.

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Was die Maskenspiele am Kaiserhof, die Reise am Peneios, der Triumph der Galatee, die Heirath mit Helena und das darauffolgende Bacchanal mit Fausts innerer Läuterung zu thun haben sollen, ist schwer zu sagen. Classische Bildung erlangt er nicht, wenn man nicht ein Bacchanal dafür halten will. Von religiösen Ideen ist nirgends die Rede. Jm vierten Act aber erscheint Faust als kaiserlicher General auf einem Gebirge, schlägt die feindlichen Truppen mit Hilfe des Mephistopheles und der allegorischen Lumpe" Raufebold, Habebald und Eilebeute, und wird dafür vom Kaiser mit dem ganzen Strand der Meeresküste belehnt. Die Schlachten, die in diesem Act ge= schlagen werden, erinnern stark an die Heldenthaten und an den Küchenwagen bei Valmy, an den Untergang des deutschen Reiches und an den unrühmlichen Schlaf des Epimenides.

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Im fünften Act sinkt "Faust" noch mehr zur flachen Prosa herab. Die nationalökonomischen Anmuthungen und Probleme der Wanderjahre" sind hier in Versen auf Küstenbefestigung, Canalisirung, Trockenlegung von Meeresstrecken, Handel und Industrie näher angewandt. Faust ist ein alter geiziger Handelsminister geworden. Ein armes, greises Ehepaar, Philemon und Baucis, wohnen in der Nähe. Ihr Läuten in der nahestehenden Kapelle ärgert ihn. Er läßt sie durch Mephistopheles und dessen Gesellen vertreiben, ihr Haus anzünden, ihr Land confisciren, wobei sie von den drei „allegorischen Lumpen“ todtgeschlagen werden. Nun kömmt der Tod heran Göthe hat den Muth, den widerlichen Egoisten, Verführer, Mörder und Brandstifter, den Schwindler und Charlatan, den Oberhofnarren und den allegorischen Gemahl der Helena, den lächerlichen General und Handelsminister zum Schluß noch als sein eigenes Lebensideal zu glorificiren:

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1 Karl Friedr. Rinne (Speculation und Glaube. Die Faustsage nach ihrer Entstehung, Gestaltung und dichterischen Fortbildung insbesondere durch Göthe. Zeit 1859) meint, Faust wäre nach der Gretchen-Episode besser wieder zum Katheder, wohin er doch von Haus aus gehörte“, zurückgekehrt.

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