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Katholische Draperie der modernen Götter.

wir nicht auf die Poesie zu verzichten oder mit der Vergangenheit zu brechen. Wir bleiben auf unseren Knieen vor den Altären, vor welchen die Menschen dreitausend (1) Jahre gebetet haben; wir reißen keine einzige Rose aus den Gewinden, mit welchen sie ihre göttlichen Madonnen umkränzten; wir blasen keine einzige Kerze aus, welche sie in dichter Menge an ihren Altarstufen aufgestellt; wir betrachten mit Künstlerfreude die kostbaren Altäre, wo sie, zwischen feingearbeiteten Leuchtern, Diamantensonnen, herrlichen Prachtgewändern, die reinsten Schäße ihres Genies und ihres Herzens ausgeschüttet haben. Aber unsere Gedanken dringen weiter als unsere Augen. Für uns wanken in gewissen Augenblicken diese Draperien, dieser Marmor, all dieser Pomp; es ist kein Etwas mehr, sondern bloß schöne Phantome; es entschwindet im Rauche, und wir entdecken durch denselben und dahinter das ungreifbare Ideal, das diese Pfeiler aufgethürmt, diese Gewölbe mit Glanz erfüllt und Jahrhunderte lang über der knieenden Menge geschwebt hat."

In Göthe's Faust kehrt der Geist des achtzehnten Jahrhunderts, der Geist Voltaire's und der Encyklopädisten, nach langer, unbefriedigender Weltfahrt, zweifelsmüde in die verlassenen Kathedralen des Mittelalters zurück, aber nicht um zu beten, nicht um zu glauben, sondern bloß um die dürren Gespenster des Rationalismus loszuwerden und für die Ideale natürlicher Ordnung wieder herzerfreuende Bilder und Gestalten, Töne und Melodien, Poesie und Kunst zu finden 1.

Ein Weltgedicht in wahrem und vollem Sinn ist der „Faust“ eben deßhalb nicht geworden. In seinem Himmel fehlt das Allerwichtigste: ein gerechter, heiliger, allweiser Gott, und der Mittler zwischen Gott und den Menschen, das menschgewordene Wort, Jesus Christus; es fehlen die Apostel, die Märtyrer, die Jungfrauen; es fehlt das erhabene Lied derjenigen, die hienieden

1 Daumer. Vgl. Meine Conversion S. 118. W. Bey= schlag, Göthe's Faust in seinem Verhältniß zum Christenthum. Berlin 1877. S. 37.

Faust kein wahrhaftes Weltgedicht.

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Leib und Seele makellos jungfräulich bewahrten 1; es fehlt die demüthige Unterwerfung des geschaffenen Menschengeistes unter Gottes unendliche Majestät; es fehlt der Triumph Gottes über die Hölle, die Strafe des Bösen, die Belohnung der Tugend, die ewige Vergeltung. In die Hölle führt die Dichtung gar nicht, weil der Dichter selbst an keine Hölle glaubt. Seine Walpurgisnacht und seine classische Walpurgisnacht sind weiter nichts, als ein mit faunischem Behagen gezeichnetes Satyrspiel, durch dessen nordische Scenen der vom Protestantismus großgezogene Herenaberglaube gespenstisch umhergeistert, während es am obern und untern Peneios schon erträglich hell ist, wie in einem altgriechischen Museum. Der Dichter gesteht am Schluffe ganz offen, daß uns die Aussicht in's Jenseits verrannt sei. Es bleibt also bloß das sichtbare Universum, und auch hier entwickelt sich die Dichtung nicht zum Weltgedicht. Die ganze Weltgeschichte bleibt außerhalb ihres Rahmens. Wie zum Spott auf sie mar schirt am Schluß ein Phantasiekaiser auf, der, stets schlecht bei Kasse, sich von Zauberern mit Maskenzügen erlustigen und sein Reich vom Teufel vertheidigen läßt die nichtssagendste und unwürdigste Carricatur der geschichtlichen Tragödie. An feiner Naturschilderung und besonders Kleinmalerei ist das Gedicht unerschöpflich reich; aber die Naturphilosophie, welche die tausend wirren Gestalten zum Ganzen verbinden sollte, ist ein verschwommener, pantheistischer Traum; beständig mit dem Dämonischen. spielend, verscheucht der Dichter das Licht, aus welchem allein eine harmonische Naturbetrachtung hervorgehen kann; skeptisch am Uebernatürlichen zweifelnd, zerstört er das Band, das die wirkliche Welt an Gott knüpft. Gleich im Anfang schrumpft der Kosmos des verheißenen Weltgedichts auf den Mikrokosmos zusammen, und dieser erscheint in der beschränktesten Gestalt, in dem auf seine dumpfe Studirstube eingepferchten Gelehrten 2. Es ist Göthe selbst.

1 Qui cum mulieribus non sunt coinquinati. Apoc. XIV. 4. Der gerade Gegensatz der Andacht zum „Ewig-Weiblichen“!

2 Faust ist kein Weltbild, sondern nur ein beschränktes Zeitbild.

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Faust nur modernes Zeitbild.

Er hat sich in drei Personen zerlegt: den träumerisch-poetischen Faust, der in der Wissenschaft keine Befriedigung findet, deßhalb seine Stube verläßt, toll durch's Leben stürmt, alle Freuden und Leiden der Menschheit selbst erfahren will, auch hier sein Streben scheitern sieht und schließlich versauert; den pedantischen Wagner, der das Weltall wissenschaftlich nach Schablonen zu ordnen versucht und dabei zum komischen Kleinkrämer herabsinkt; den studentisch-frivolen Mephistopheles, Fausts anderes Jch, der in beständiger Selbstironie des Dichters Träume zerstört, seine idealen Aufflüge hemmt, ihn in allen nichtssagenden Eitelkeiten des Erdendaseins herumschleppt und auf den er alles Unwürdige abschaufelt, um sich selbst für ideal ansehen zu können. Faust ist der Dichter Göthe, eine herrlich ausgestattete Poetennatur, die aber erst in tollem Sinnenrausch und dann in unbedeutendem Hoftreiben verkümmert. Wagner ist der pedantische Sammler Göthe, der den Dichter actenmäßig registrirt und zum Naturforscher erzieht. Mephistopheles ist Voltaire-Göthe, der zersehende, giftige, negirende Geist des achtzehnten Jahrhunderts, an welchem des Dichters glänzende Naturanlagen zum Theil Schiffbruch litten.

Viel Handlung boten drei solche Charaktere nicht. Faust hält unendliche Selbstgespräche, disputirt mit Wagner und Mephistopheles, und Mephistopheles verspottet alle beide. Aus allen großen Worten und Declamationen Fausts geht keine einzige große That hervor, nicht einmal der Versuch zu einer solchen. Sobald er in's Leben tritt, stürzt er von der andeclamirten Weltrolle herab und wird der Verführer des ersten besten Mädchens

und zwar noch auf die allertrivialste Weise unter Vermittlung einer Kupplerin. Das versprochene Weltgedicht löst sich in ein Liebesdrama auf, das Liebesdrama in eine Kriminalgeschichte. Mag dieser jähe Sturz auch tragisch sein, kein edlerer Charakter, kein höheres Ideal, keine rettende That lichtet das

Siehe K. Köstlin, Göthe's Faust, seine Kritiker und Ausleger. Tübingen 1860. S. 150 ff. 165 ff.

Der philosophische Ruhm der Dichtung.

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düstere Nachtgemälde. Der zweite Theil wird ein allegorisch schemenhaftes Product“ 1, aus dessen fastnachtsmäßigem Wirrwarr der Dichter endlich keinen Ausweg mehr findet, als Faust in trohigem Unglauben sterben zu lassen und dann in eine Art von katholischem Vorhimmel zu verseßen. Nicht einmal in Bezug auf dämonische Mystik eröffnet der „Faust“ einen wahrhaft universellen und tiefgehenden Prospect.

„Die Dichtung," sagt Joseph von Görres 2, ist ein großartiger Versuch, den Zauberglauben aller Zeiten, wie ihn die gegenwärtige Zeit versteht, zur poetischen Anschauung zu bringen; weil aber dieß Verständniß nur ein zeitlich beschränktes ist, und es beim Ignoriren und gänzlichen Ausschließen des Gegensates ohnmöglich zu einem irgend befriedigenden Ende gebracht werden konnte; darum ist sie immer nur ein Sang des großen Zauberliedes: der Sang des achtzehnten, kritisch- und speculativ-poetischen Jahrhunderts."

Daß der „Faust" nichtsdestoweniger in den weitesten Kreisen als das größte philosophische Weltgedicht aufgenommen wurde, dankt er einerseits dem magischen Dunkel, mit welchem er die wichtigsten Fragen umhüllt, andererseits der religiösen Verschwommenheit, welche seit der Revolution in immer steigendem Maße Deutschland beherrschte. Gläubige Protestanten Hefteten sich an das Lied der Erzengel und deuteten sich die Dichtungen in christlichem Sinn; Katholiken glaubten in einzelnen Scenen, namentlich im Schluß, eine Annäherung, ja eine widerwillige Huldigung an die Kirche zu finden; Pantheisten der verschiedensten Systeme nahmen „Faust" in ihrem Sinn und sahen in ihm den poetischen. Typus des deutschen philosophischen Geistes. Auch der Christusläugner D. Fr. Strauß fand, nachdem er offen sich zum Materialismus erklärt hatte, im „Faust“ die höchste und universellste Leistung aller Poesie:

1 D. Fr. Strauß, Der alte und der neue Glaube. 8. Aufl. Bonn 1875. S. 313.

2 J. von Görres, Mystik. 1840. III. 128. 129.

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Volksthümlichkeit der Dichtung.

Er ist unser deutsches Centralgedicht, der großartigste und gelungenste Versuch, das Welt- und Lebensräthsel poetisch zu lösen, eine Dichtung, deren gleichen, an Tiefsinn und Ideenfülle, zu den naiv-lebensvollsten Bildern ausgestaltet, keine andere Nation aufzuweisen hat."

Je weiter seither die religiöse Zersetzung fortgeschritten ist, desto weiter hat sich das Studium, die Bewunderung, die Verchrung des Gedichtes ausgebreitet. Für weite Kreise hat es — an Stelle der Evangelien den Plaß eines religiösen Buches erhalten. In der Form eines Mysterienspiels wurde es auf den größten Bühnen aufgeführt, wobei der zweite Theil, durch Scenerie, Musik und Ballet zur buntesten Oper aufgestußt, nicht weniger fesselte, als der erste 1. Es ist Göthe's gelesenstes und verbreitetstes Werk. Hunderte von Sprüchen daraus sind allgemeines Volkseigenthum geworden. Kein Mädchen ist so unbedeutend, das nicht meint, in Gretchen sich selbst wieder finden zu können; kein Professor und Student so anspruchslos, daß er sich nicht für einen zweiten Faust halten zu dürfen glaubte. Mephistopheles plagt Alle, und an Wagnern war in Deutschland niemals Mangel.

So echt volksthümlich aber auch die Dichtung in ihren Hauptgestalten, in Wort und Vers, Ton und Stimmung, in ihrer heitern Spruchweisheit und in ihren bunten Phantasien ist: so ist sie in ihrer Ganzheit doch mehr verführerisch und bethörend, als belehrend und veredelnd; sie zeigt den Weg in den Irrthum und in die Sünde hinein, aber nicht wieder hinaus; sie mischt Glauben und Unglauben, Wahrheit und Irrthum, Sitte und Unsittlichkeit, Göttliches und Dämonisches in so verhängnißvoller Weise, daß sie unendlich mehr Unheil als Segen gestiftet hat.

1 Otto Devrient, Göthe's Faust als Mysterium. Karls= ruhe 1881.-W. Creizenach, Die Bühnengeschichte des Göthe'schen Faust. Frankfurt 1881. 2. Holthof, Die Faust-Aufführungen in Hannover (Frankfurter Zeitung. April 1877). Fr. Meher v. Waldeck, Fauft-Aufführungen (Magazin für Lit. des In- und Auslandes. 1883. Nr. 6 u. 7). Gounod, Faust. Paris 1884.

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