ÀҾ˹éÒ˹ѧÊ×Í
PDF
ePub

Bekanntlich steht die Moralphilosophie hauptsächlich deshalb in Misscredit, weil zwar das Moralisiren ein Manchem sehr zusagendes Geschäft ist, desto Wenigeren aber das Anhören oder Lesen von Moralpredigten gefällt, weil ferner die Moralphilosophie sich wesentlich mit einem raisonnirenden oder erbaulichen Moralisiren begnügt, das für den Einen überflüssig, für den Anderen nutzlos, für Alle aber langweilig ist. Die spitzfindige Casuistik der jesuitischen Moralphilosophie lässt das Publikum grade so kalt, wie das erbauliche Moralisiren von der Kanzel die Kirchen leer lässt, und seit nun gar durch die historische Auffassung der Rechtsentwickelung das rationalistische ,,Naturrecht" in Verruf gekommen ist, sind die armen Moralphilosophen wirklich recht übel dran. Sieht man von den unvermeidlichen Drucklegungen obligater Kathedervorträge ab, so zeigt sich auch in der That, dass seit dem Bekanntwerden der Schopenhauer'schen Philosophie die moralischen Untersuchungen eine wesentlich andere Richtung als bisher eingeschlagen haben.

Wenn die Metaphysik von den verschiedenartigsten Principien ausging, so zeigten die principiell verschiedenen Systeme doch auch wenigstens sehr verschieden gefärbte Weltbilder; wenn aber die Moral von den verschiedenartigsten Principien ausging, so kamen die aus denselben abgeleiteten Deductionen schliesslich immer wieder bei den nämlichen landläufigen Moralvorschriften an. Dieses Verhältniss war nur für naivere Zeiten erträglich, musste aber mit wachsendem kritischem Bewusstsein immer beschämender werden, und so kam es denn, dass seit Schopenhauer's Vorgang das Bestreben sich mehr und mehr darauf richtete, zunächst Klarheit in die principiellen Grundlagen der Moral zu bringen, ehe man zur Deduction eines Systems der Ethik überginge. Alle diese Versuche haben sich aber von grösserer oder geringerer Einseitigkeit nicht freizuhalten gewusst, und thatsächlich sind heute die Ansichten über das Princip der Moral zerfahrener als je. Die entgegengesetzten Standpunkte finden auf diesem

X

Boden ihre Vertreter, und ein junger Mann, der aus dem Studium aller heut noch vertretenen Moralprincipien eine feste Grundlage für sein praktisches Verhalten zu finden gedächte, dürfte leichter als zu jedem anderen zu dem Ergebniss kommen, dass bei so zahlreichen Widersprüchen über die Grundlage der Moral eine solche wohl überhaupt illusorisch sein möchte, jedenfalls aber irrelevant für das praktische Verhalten der Menschen.

Letzteres aber wäre ein Irrthum, welcher sich daraus herleitet, dass das Heraustreten der gebildeten Stände aus dem Bann der kirchlichen Moral erst ein theilweises und selbst da, wo es besteht, noch eine viel zu junge Erscheinung ist, um schon einen allzumerklichen Einfluss auf das Volksleben zu äussern. Immerhin zeigt ein solcher Einfluss sich sowohl in den höheren als in den niederen Gesellschaftsschichten, insbesondere der städtischen Bildungscentren, bereits deutlich genug und lässt schon jetzt sehr wohl erkennen, welche sittliche Verwahrlosung wir zu gewärtigen haben, wenn (wie höchst wahrscheinlich) die Loslösung des Volkes von der Kirche in zunehmender Progression fortschreitet, ohne dass die Zerfahrenheit der Meinungen über die Grundlage der Sittlichkeit ein baldiges Ende nimmt und einer überwiegenden Uebereinstimmung über das Fundament der Moral Platz macht.

Es wird sich nun aus unserer Untersuchung ergeben, dass die grossen geschichtlichen Gegensätze, von denen das Culturleben unserer Zeit zerrissen und in seinem Bestande bedroht ist, lediglich die historische Verwirklichung verschiedener Formen des sittlichen Bewusstseins oder der reelle Austrag des ideellen Kampfes zwischen verschiedenen Gestaltungen des Principes der Moral sind, dass z. B. das zurückgezogene Privatleben eines um den Gang der öffentlichen Angelegenheiten Unbekümmerten das egoistische Pseudomoralprincip, dass der Ultramontanismus das heteronome Pseudomoralprincip, dass die Socialdemokratie das social-eudämonistische

Moralprincip und dass die Hingebung an den Staat das evolutionistische Moralprincip repräsentirt. Dies sind aber eben nur herausgegriffene vereinzelte Beispiele zur vorläufigen Erläuterung des Gesagten, welche dazu dienen sollen, die praktische Bedeutung der Untersuchungen über die wahre Grundlage der Moral in eine etwas andere Beleuchtung zu rücken, als unter welcher die meisten Leser bisher gewohnt gewesen sein dürften, dieselbe zu erblicken.

Allgemeiner ausgedrückt werden die nachstehenden Untersuchungen zu dem Resultate führen, dass keine der möglichen Gestalten, welche das sittliche Bewusstsein annehmen kann (mit Ausnahme der schlechthin negativen einer indeterministischen Freiheit), gänzlich des positiven Werthes entbehrt, dass aber dieser Werth bei jeder (mit Ausnahme der letzten und höchsten) nur ein relativer ist, der vor der kritischen Betrachtung seine Unzulänglichkeit, und in dieser Unzulänglichkeit seine Ergänzungsbedürftigkeit kundgiebt, dass ferner die begriffene Ergänzungsbedürftigkeit das sittliche Bewusstsein selbst zum Aufsuchen der nächstliegenden principiellen Ergänzung und dadurch zum Erreichen der nächsthöheren Stufe seiner selbst führt, und dass endlich dieser Vorgang (die Anerkennung des positiven Werthes, die kritische Beleuchtung der Unzulänglichkeit und das Erfassen der nächstliegenden principiellen Ergänzung) sich auf jeder einzelnen Stufe des sittlichen Bewusstseins so lange wiederholt, bis die höchste allumfassende, und darum von jeder Einseitigkeit und Unzulänglichkeit freie Stufe erreicht ist.

Ich behaupte nicht, dass ein solcher Entwickelungsgang auf objective Probleme der Realwissenschaften anwendbar sei, ich behaupte nicht einmal, dass er auf allen Gebieten der phänomenologischen Erforschung psychologischer Thatsachen empfehlenswerth oder streng durchführbar sei; nur das behaupte ich, dass er sich bei der phänomenologischen Untersuchung des sittlichen Bewusstseins mir ungesucht aus der Natur des Gegenstandes ergab, und dass er hier den Vortheil

gewährt, die ganze Untersuchung zu einer einzigen fortlaufenden Entwickelung zu gestalten. Von Hegel'scher Dialektik unterscheidet sich diese Gedankenentwickelung schon äusserlich durch das Verschmähen der gewaltsamen Hegel'schen Dreitheilungen und innerlich durch den empirisch inductiven Charakter und die Perhorrescirung des Widerspruches und der in ihm angeblich enthaltenen höheren Vernunftwahrheit. Wollte man etwa trotzdem behaupten, dass in meiner Entwickelung dasjenige, was den bleibenden und positiven Kern der Dialektik bei Hegel ausmache, enthalten, und zwar frei von den bei Hegel anhaftenden Entstellungen enthalten sei, so wüsste ich keinen Grund, warum ich mich dagegen ereifern sollte. Jedenfalls musste ich betonen, dass das ganze Buch eine Entwickelung aus einem Guss ist, welche das Einzelne nur im Zusammenhang des Ganzen verständlich werden lässt; denn dieser Umstand berechtigt mich zu der Bitte an die Herren Recensenten, das Buch, wenn sie es einmal lesen und sich nicht auf eine auf Vorwort und Inhalt gestützte Anzeige beschränken wollen, in einem Zuge von Anfang bis zu Ende zu lesen.

Schliesslich erlaube ich mir zu bemerken, dass dieses Werk ohne jede Bekanntschaft mit meinen übrigen Schriften und ohne philosophische Vorkenntnisse von jedem Gebildeten gelesen und verstanden werden kann. Ich habe stets im Stillen gelächelt, wenn meine Herren Recensenten mir durch das Lob der Gelehrsamkeit etwas Rühmendes zu sagen glaubten, und ich will hoffen, dass es mir bei dieser Arbeit besser als bei irgend einer früheren gelungen ist, diesem zweifelhaften Lobe vorzubeugen.

Inhalt.

[ocr errors]
[ocr errors]
[ocr errors]
[ocr errors]
[ocr errors]
[ocr errors]

Seite

« ¡è͹˹éÒ´Óà¹Ô¹¡ÒõèÍ
 »