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Diese Epoche sollte jegt in der deutschen Literatur eintreten. Man pflegt sie mit dem Namen der Sturmund Drangperiode zu bezeichnen. Wie verändert sich nun mit einem Schlage das Bild des ganzen höheren geistigen Lebens! Die maßvolle Solidität, der respectable, gewiegte Ernst, mit welchem bis jegt die deutsche Literatur auftrat, muß einem tollen, hie und da maßlosen Treiben das Feld räumen. Die literarischen Persönlichkeiten der ersten zwei Drittel des achtzehnten Jahrhunderts, die bei Gottsched'scher und Breitinger'scher Poetik, beim Haller'schen Lehrgedicht, bei der äsopischen Fabel, bei der Gellert'schen Moral und der seraphischen Poesie aufgewachsen waren, und zulegt durch Lessing's mächtig aufklärenden Geist freilich mehr überflügelt als erleuchtet wurden sie alle haben eine gewiffe Einförmigkeit der Gesammtanschauung, der gegenüber die individuellen Unterschiede nicht so wesentlich hervortreten; aber jegt dagegen wie bringt fich allerorts die Individualität in den eigensinnigsten, seltsamsten Formen zur Geltung! Das Naturrecht der originalen Begabung wird aller Orten proclamirt jeder phantasirt sich in seiner Weise eine Poesie, ein Organon der Erkenntniß, ja selbst ein apartes Christenthum zusammen, und war früher das Band, das die Geister verknüpfen sollte, zu knapp gebunden, so wurde es jezt vollends zerriffen. In der Dichtung wird die zufällige momentane Stimmung, in der Forschung die subjective Intuition, im Glauben die individuelle Eingebung als das allein Giltige erkannt; wer nicht Poet sein kann, geht zum mindesten unter die Propheten,

und wo die natürliche Begabung nicht ausreicht, da stellen sich oft die Gaben des heiligen Geistes um so ergiebiger ein. Den Sturm- und Dranggenossen in der Dichtung gesellen sich bald näher, bald ferner, die Auserwählten und Erleuchteten bei, die Jung-Stilling's, die Hamann's, die Lavater's und Basedow's, um mit jenen eine recht verwunderliche Genossenschaft zu bilden. Auf zwei, drei Weltkinder unter den Originalgenies kommt sicher ein Prophet.

Es ist wahr wir kommen aus der Klarheit des Lessing'schen Kunstbegriffs, aus der reinen, vollendeten Abgränzung seiner künstlerischen Composition für's erste in ein verworrenes Dickicht von Anschauungen und Bestrebungen, das uns jener hohen Cultur gegenüber fast wie ein Rückfall in die Verwilderung erscheinen muß. Der Grund und Boden, von dem wir zu der zweiten durch Göthe und Schiller bezeichneten Höhe der deutschen Literatur emporsteigen sollen, ist anfangs ganz unwegsam und verwachsen, der schöne, ebene Weg, den Lef= fing gebahnt, verliert sich fast ganz in der Wildniß. Aber auch in diesem wilden Wuchs müssen wir die üppige, geistige Vegetationskraft des deutschen Bodens bewundern, der nun nach langer Dürre so viel aus sich selbst zu erzeugen vermochte, nachdem ihm früher Gottsched durch die Kunstgärtnerei der französischen Literatur vergeblich aufzuhelfen versucht. Von dieser hoffnungsreichen Epoche, die auch keine jener Verheißungen getäuscht hat, die in ihr lagen, gilt so ganz das Wort, welches Göthe, als er noch mitten in ihr stand, über sie ausgesprochen: „Die Literaturen haben Jahreszeiten,

die mit einander abwechselnd, wie in der Natur, gewisse Phänomene hervorbringen, und sich der Reihe nach wiederholen. Ich glaube daher nicht, daß man irgend eine Epoche einer Literatur im Ganzen loben øder tadeln könne; besonders sehe ich nicht gerne, wenn man gewisse Talente, die von der Zeit hervorgerufen werden, so hoch erhebt und rühmt, andere dagegen schilt und niederdrückt: die Kehle der Nachtigall wird durch das Frühjahr aufgeregt, zugleich aber auch die Gurgel des Kukuks. Die Schmetterlinge, die dem Auge so wohl thun, und die Mücken, welche dem Gefühle so verdrießlich fallen, werden durch eben die Sonnenwärme hervorgerufen; beherzigte man dies, so würde die vergebliche Mühe, dies und jenes Mißfällige auszurotten, nicht so oft verschwendet werden."

Ja so war es! Einen Frühling gab es damals, einen Drang des sprossenden Lenzes wie nie zuvor und nachher in der deutschen Literatur. Es rauschten die Bäche, es brachen die Knospen, es tropfte der Thau von allen Blüthen, und lustig schallte es von allen Zweigen im deutschen Dichterwald. Aber es war kein normaler Frühling, wie ihn der ruhige Strahl der aufsteigenden Sonne hervorruft, es war ein gewaltsam beschleunigter Lenz, wie ihn die warmen Luftströme des Föhn's den Bergen der Schweiz bringen. Orkane und Verheerungen gehen diesem stürmischen Lenzboten voran und begleiten ihn; sie bringen die ganze Natur in Aufruhr, schleudern Bäume und Felsblöcke in die Tiefe und füllen die Wildbäche an. Der heiße Windhauch überreizt die Sehnen und Nerven, um sie dann wieder

zu erschlaffen. Aber er schmilzt auch rasch die alte, zähe Schneeschichte weg, die der langsam wirkenden Sonnenwärme noch lange widerstehen würde, und unter seinem Einfluß blühen hoch auf den Bergen schon in früher Jahreszeit die Frühlingsblumen, während unten im Thale noch die Tannenäste unter der Laft des Schnees seufzen, oder der kalte Nebel über den Niederungen wogt. So wehte auch der heiße, stürmende Hauch eines Alles mit sich fortreißenden, leidenschaftlichen Dranges damals über die deutsche Literatur da= hin, entfesselte die stockenden Kräfte, daß sie wie Wildbäche herabschoffen, und schleuderte die morschgewordenen Stämme der alten Autoritäten von ihrer Höhe herab. Er schmolz mit einem Male die Frostdecke der Pedanterie hinweg, die selbst die sonnenklare Lessing'sche Kritik nicht ganz zu überwinden vermochte, da geiftvolle Kälte des Urtheils noch immer nicht genug gegen den Frost der Geistlosigkeit ausrichtet — und nun blühte, sproßte und sang der Lenz in den höheren Regionen der Dichtung, indeß auf den Niederungen des Lebens noch der alte, langsam aufthauende Frost lag.

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Wie seltsam und wunderlich ist doch der Gang, den eine künstlich sich entwickelnde Literatur nimmt, wie es eben die deutsche seit Opig's Zeit her ist! sie schreitet fort, nicht indem sie schrittweis reift, sondern indem sie sich allmälig verjüngt. Zuerst will sie künstlich gezogene, am Spalier gepflegte Früchte ungeduldig brechen, und nachdem sich diese als ungenießbar erwiesen, siehe da sprießen zur Ueberraschung dieser wohlweislichen Tendenz an allen Ecken und Enden

Blüthen empor, die sie durchaus nicht gepflegt und gehegt. Die ersten Bemühungen, der gesunkenen oder vielmehr eingegangenen Literatur aufzuhelfen, hatten den greisenhaften Charakter einer trockenen Gelehr ten- und Professorenpoesie; es ist die Zeit von Opiß bis Gottsched. Als nun die Literatur auf Um- und Abwegen endlich zur Natur zurückging, schien sich die Folge der Menschenalter in ihr so eigentlich umzukehren. Aus dem greisenhaften Stadium der schulmeisterlichen Regeldichtung trat sie durch Lessing in's gesunde, ent= schiedene Mannes alter, voll Ernst, Charakter und Ueberzeugung. Aber es war dies eine Männlichkeit ohne vorangegangene Jugend und in dem Maße nüchtern, als ihr diese noch fehlte. Die Jugend in der Literatur war noch nachzuholen, ihr Auffauchzen, ihr Schmerz, ihre Sehnsucht, ja selbst ihre Tollheit. Erst dann konnte die deutsche Dichtung zu ihrer natürlichen, echten Reife gelangen, nachdem sie auch im vollem Sinne des Wortes jung gewesen. Und dieses Stadium erlebte sie in dem jungen Göthe und seinen mitstrebenden Genossen. Das erste, natürliche Jugendalter der Dichtung gehört freilich jener Zeit an, wo sie noch unmittelbar aus dem Boden des nationalen Lebens sprießt, wo der Volksgeist selbst noch jung ist, und diese seine Götterjugend auch seinen Sängern mittheilt. Jenes zweite Jünglingsalter ist immer nur eine magische Verjüngung, bei der der gesteigerte, aufgefrischte Lebensfond der einzelnen Dichter auch in den Leib der gealterten Nation zurückströmen, in die Adern ihres Lebens erfrischend sich ergießen soll. Es ist eine Ju

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