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Sinleitung.

Der Kampf gegen die Schranken der Aufklärung.

So gewaltig und segensreich die Errungenschaften der großen Aufklärungskämpfe waren, seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts regten sich überall Zeichen, daß die Aufklärungsbildung bereits über sich selbst hinauszustreben beginne.

Es kam eine neue Epoche, deren unvergänglicher Ruhm und deren geschichtliche Bedeutung es ist, das troy all' seiner Größe noch beschränkte und einseitige Lebensideal des Zeitalters der Aufklärung zum Lebensideal des vollen und ganzen, reinen und freien Menschen= thums, zum Ideal vollendeter und in sich harmonischer Humanität vertieft und verklärt zu haben.

Kein anderes Volk hat diese entscheidende Entwicklung so tief und gründlich und so eigenthümlich durchlebt, kein anderes Volk hat sie zu so festem und klarem Abschluß gebracht.

Zwei verschiedene Entwicklungsstufen dieser großen Epoche sind scharf unterscheidbar. Die erste ist das Ringen und Kämpfen, die zweite die Durchführung und der Genuß des erreichten Sieges. Jene erste Entwicklungsstufe, das erste kühne, aber noch phantastisch unklare Aufleuchten des neuen gesteigerten und vertieften Lebensideals, ist jene leidenschaftliche Erregung der Geister, welche wir als die Sturm- und Drangperiode zu bezeichnen gewohnt sind. Die zweite Entwicklungsstufe ist das eigentlich klassische Zeitalter der deutschen Literatur, die kritische Philosophie Kant's, die von dem Ideal wiedergeborenen Hellenenthums getragene Dichtung Goethe's und Schiller's.

Hettner, Literaturgeschichte. III. 3. 1.

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Vieles und sehr Verschiedenartiges hatte zusammengewirkt, die gährende Stimmung der Sturm- und Drangperiode hervorzurufen. Die rastlos und unerschrocken vordringende Aufklärungsbildung hatte dem Menschen endlich, wieder das lang verlorene Gefühl seiner sittlichen Würde und Hoheit wiedergegeben. Eben hatte Winckelmann mit flammender Begeisterung die strahlende Herrlichkeit des griechischen. Alterthums vorgeführt. Eben hatte sich der deutschen Jugend in der von Tag zu Tag wachsenden Lust und Freude an den gewaltigen Schöpfungen Shakespeare's eine ganz neue, bisher ungeahnte Welt von Kraft und Leidenschaft, von Poesie und Herzenstiefe erschlossen, die mit unwiderstehlicher Allgewalt ihr ganzes Wesen ergriff und ihre Phantasie mit den machtvollsten Gestalten erhöhten Menschendaseins erfüllte. Und doch sah sich diese Jugend in eine Wirklichkeit eingeklemmt, die zu diesen hochherzigen Idealen und Forderungen im schneidendsten Widerspruch stand. Was dem Einzelnen Kraft und Halt giebt, der selbstbewußte Stolz auf ein mächtiges einheitliches Vaterland, wie konnte ihn der Deutsche haben, da Deutschland noch immer nur ein fast völlig zusammenhangloses Nebeneinander von mehr als dreihundert selbständigen Souveränetäten und von nahezu fünfzehnhundert Halbsouveränetäten war? Spottend fragte man sich nur, wie das liebe heilige römische Reich überhaupt noch zusammenhalte. Noch immer wucherte auch unter den fürsorglichen Grundsägen des sogenannten aufgeklärten Despotismus viel Härte und Willkür; mit dem zunehmenden Alter war Friedrich der Große nur immer herrischer und gewaltthätiger geworden. In den meisten kleineren Ländern aber schaltete die nichtswürdigste Tyrannei; und zwar um so ungezügelter, da das grausame Prunken mit der unbeschränkten Selbstherrlichkeit im Inneren den Mangel gebietender äußerer Machtstellung ersehen und verdecken sollte. Noch immer hatte der Adel die verlegendsten Vorrechte, staatlich sowohl wie gesellschaftlich; noch immer war fast die Hälfte der Gesammt= bevölkerung hörig. Und auch in den Sitten und Gewohnheiten des Hauses begegnen wir noch gar manchen befremdenden Zügen der Starrheit und Unfreiheit. Im wohlhabenden und gebildeten

Bürgerthum, dem Kern des Volks, viel sittliche Tüchtigkeit und unermüdliche Arbeitskraft; aber für den Geist des Familienlebens ist es bezeichnend, daß die Kinder für die Eltern nur das unterwürfige Sie haben; der Hausherr als lästiger Polterer ist eine stehende Lustspielfigur. Noch immer das steifste Ceremoniell, fest abgezirkelte Sahung, wo wir nach frischer Herzensregung verlangen. Ein spannender Widerspruch, der in dem neuen Geschlecht um so tiefer grollte und wühlte, je mehr in ihm selbst noch die weinerliche Gefühlsweichheit Gellert's, die phantastische Ueberschwenglichkeit Klop= stock's, und die so eben wieder durch Wieland in Umlauf gekommene Glückseligkeitslehre der englischen Moralisten lebendig fortwirkten und bunt durcheinander schwirrten.

Und mitten in diese gährende Stimmung fielen die mächtigsten Anregungen von außen. Goethe hat wiederholt auf den Einfluß der englischen Literatur hingewiesen. Und Jedermann weiß, welch frisch empfänglichen Boden der liebenswürdige Humor Sterne's, die trübe Schwermuth Young's, die dämmernde Nebelwelt Macpherson= Offian's in der Innerlichkeit des deutschen Gemüths fand, und wie der neue Begriff vom Wesen ursprünglicher und naturwüchsiger Volkspoesie, der durch Lowth's tiefsinnige Untersuchungen über Geist und Form der hebräischen Dichtung, durch Wood's geistvolles Buch über Homer, durch Percy's Sammlung altenglischer Balladen eingeleitet und vorbereitet wurde, in Deutschland sogleich auf's tiefste und nachhaltigste zündete. Allein wenn Goethe einmal in einem seiner Gespräche mit Eckermann äußert, daß aus seiner Lebensbeschreibung nicht genugsam erhelle, was seine Bildung den Bewegungen der gleichzeitigen französischen Literatur verdanke, so gilt dies nicht blos von seiner eigenen Bildungsgeschichte, sondern von seiner Darstellung und Ableitung der Bildungsgeschichte jener denkwürdigen Zeit überhaupt. Die eigentliche Wurzel der deutschen Sturm- und Drangperiode ist das Naturevangelium Rousseau's. Was stumm und ahnungsvoll im Herzen der deutschen Jugend gelegen, das hatte durch Rousseau Leben und Bewußtsein, Ziel und Richtung, Gehalt und Gestalt gewonnen.

Von dem dämonischen Zauber, den der mahnende Weckruf Rousseau's nach Natur und Ursprünglichkeit, nach Wiedergeburt und Verjüngung, auf die nächsten Zeitgenossen ausübte, und zwar mehr noch in Deutschland als in Frankreich, können wir uns heute kaum. noch eine genügende Vorstellung machen. Schon 1751, bei der Anzeige der ersten Schrift Rousseau's, hatte Lessing gesagt, man könne von diesen hohen Anschauungen und Gesinnungen nicht ohne heimliche Ehrfurcht reden. Inzwischen aber war die Wirksamkeit und das Ansehen Rousseau's unablässig gestiegen. Selbst Kant, der doch auf's tiefste alle Schwärmgeister haßte, konnte sich der großartigen Gedankenwelt Rousseau's nicht entziehen. Es wird erzählt, daß ihm einmal über dem Studium Rousseau's das Unerhörte begegnete, daß er seinen gewohnten täglichen Spaziergang vergaß; und am 16. August 1766 schrieb Scheffner an Herder, Kant weile mit jeinen Gedanken jezt beständig in England, weil Hume und Rousseau dort seien. Besonders aber schaarte sich die Jugend um Rousseau. Für Herder war während seiner Königsberger Studentenjahre Rousseau sein unausgesetzter Verkehr; und auch noch in Riga blieb ihm derselbe für alle seine kühnen und genialen Zukunftspläne der bestimmende Leiter und Führer. Goethe hegte, wie seine Straßburger Ephemerides" beweisen, die lebhafteste Vorliebe namentlich für Rousseau's religiöse Ideen. Es ist eine sehr bedeutsame Thatsache, daß Kestner in einem herrlichen Briefe, in welchem er uns Goethe in den ersten Monaten seines Wehlarer Aufenthalts schildert, ausdrücklich hervorhebt, daß Goethe ein Verehrer Rousseau's sei, wenn er auch nicht zu dessen blinden Anbetern gehöre; Werther und Faust sind ohne Rousseau undenkbar. Heinse mit seinem Drang nach sinnlicher Naturfülle bezeichnet sich als „verfeinerten Rousseauisten“. Lenz wünscht eine Bildsäule Rousseau's unmittelbar neben einer Bildsäule Shakespeare's, und die Neue Heloise ist ihm das beste Buch, das jemals mit französischen Lettern gedruckt worden. Klinger ist sein ganzes reiches und wechselvolles Leben hindurch niemals aus dem Banne Rousseau's herausgetreten. Schiller widmet dem. begeisterten Lob Rousseau's eines seiner frühesten Gedichte; und seine

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