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machen sollen, so bezieht es sich ebenfalls auf diese Abhandlung Gerstenberg's und auf eine Abhandlung Herder's im zweiten Stück des siebenten Bandes der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, wenn er in der Schlußbetrachtung der Dramaturgie den jungen Dichtern auf's wärmste an's Herz legt, mit der Verwerfung der Geseze der französischen Tragik nicht zugleich alle Geseze der Tragik zu verwerfen. Geblendet von dem plöglichen Strahle sei man jezt gegen den Rand eines anderen Abgrundes geprallt. Man meine, daß sich auch ohne feste Gesezmäßigkeit der Zweck der Tragödie erreichen lasse, ja daß diese Gesezmäßigkeit wohl gar Schuld sei, wenn man diesen Zweck weniger erreiche; er seinerseits stehe nicht an, zu bekennen, selbst auf die Gefahr hin, wie er ironisch hinzusezt, in diesen erleuchteten Zeiten darüber ausgelacht zu werden —, daß er fest überzeugt sei und es unwidersprechlich beweisen zu können glaube, daß von der Richtschnur der Aristotelischen Dichtlehre sich die Tra= gödie keinen Schritt entfernen könne, ohne sich ebensoweit von ihrer Vollkommenheit zu entfernen.

Für die ausschweifende Genialitätssucht des jungen Geschlechts, das jetzt in die Literatur trat, war die wuchtvolle Einrede Lessing's in den Wind gesprochen.

Unmittelbar nach jener Abhandlung, im Jahr 1767, dichtete Gerstenberg seine Tragödie Ugolino. Sie wurzelte ganz und gar in denselben Anschauungen, und war ganz geeignet, für sie Propaganda zu machen.

Es ist die Geschichte des entseglichen Hungertodes des Grafen Ugolino und seiner Söhne, nach der Erzählung Dante's im dreiunddreißigsten Gesang der Hölle. Auf Grund der Idee, die sich Gerstenberg von Shakespeare gebildet hatte, daß dessen Art und Kunst wesentlich dramatisches Seelengemälde, lebendiges Abbild der sinnlichen und geistigen Natur sei, sezte er alle seine Kraft und Kunst in die Aufgabe, das Kommen und Wachsen des Hungers und der brennenden Verzweiflung mit lebendigster Anschaulichkeit Schritt vor Schritt vor Augen zu stellen, scharf individualisirt und verschiedenartig abgestuft je nach der Empfindungs- und Alters=

verschiedenheit des Vaters und der jüngeren Söhne. Die Laokoonsgruppe, zurückübersetzt in den Stil der Tragödie!

Wenn Klopstock am 19. December 1767 an Gleim schreibt, daß er nicht fürchte, daß Gerstenberg's Ugolino die künstlerisch zu= lässigen Grenzen des Schrecklichen überschreite, so wird jezt schwerlich Jemand dies Urtheil theilen. Bereits Lessing hat in einem Briefe an Gerstenberg vom 25. Februar 1768 die schweren Mängel zur Sprache gebracht, die in dieser Tragödie den künstlerischen Sinn beleidigen. Wir stehen durchaus im Gebiet des Gräßlichen; das Mitleid, das im Zuschauer erweckt werden soll, hört auf Mitleid zu sein, es wird eine folternd schmerzhafte Empfindung. Um so peinigender, da die Leidenden unschuldig leiden, nur der grausamen Rachsucht des überlegenen Feindes unterliegend. Dante durfte diese Erzählung wagen, der Tragödiendichter durfte es nicht; der Unterschied der Gattung macht hier Alles. Bei Dante hören wir die Geschichte als geschehen, in der Tragödie sehen wir sie als geschehend; es ist ganz etwas Anderes, ob ich das Schreckliche `hinter mir oder vor mir erblicke, ob ich höre, dieses Elend überstand der Held, oder ob ich sehe, dieses soll er überstehen. Gleichwohl ist Gerstenberg's Ugolino ein Werk von höchst bedeutender schöpferischer Kraft, von ergreifender Plastik der Schilderung. Es ist wahrlich nicht blos besänftigende Schmeichelei, wenn Lessing in jenem Briefe troß aller scharfen Hervorhebung des Grundgebrechens nur im Ton wärmster Bewunderung spricht. Denselben Tadel und dieselbe Bewunderung finden wir auch bei Herder, der diese Tragödie im elften Bande der Allgemeinen Deutschen Bibliothek zur Anzeige brachte. Und noch am 13. März 1801 sagt Schiller auf der Höhe seiner reifsten künstlerischen Durchbildung in einem Briefe an Goethe, daß Gerstenberg's Ugolino zwar kein Werk des guten Geschmacks sei, aber sehr schöne Motive, viel wahres Pathos und wirklich Genialisches habe.

Jezt wird Gerstenberg's Ugolino nicht mehr gelesen; und doch ist der Name dieser Dichtung noch immer in Aller Gedächtniß. Diese Thatsache ist überaus bedeutsam. Es wird damit ausge= sprochen, daß diese Tragödie zwar künstlerisch nicht haltbar, daß sie

aber geschichtlich in dem Gang der deutschen Literatur ein unver= geßlicher Einschnitt ist.

Gerstenberg's Ugolino war die erste Dichtung jenes ungebundenen ungestümen dramatischen Stils, der fortan immer mehr und mehr in die Mode kam, und den die Stürmer und Dränger mit prahlerischer Selbstgefälligkeit Shakespearisiren nannten. Nicht in der Weise von Lessing's Emilia Galotti, die sich mit bewußter Gegenfäglichkeit dem neuen Stil Gerstenberg's scharf entgegenstellte, straffe gemessene Führung einer stetig fortschreitenden, folgerichtig einheitlichen dramatischen Handlung, sondern einzig und allein oft bis zur Roheit drastisch natürliche Ausmalung der feffellos hervor= stürmenden menschlichen Leidenschaft.

Der Dichter war dreißig Jahre alt, als er mit dem Ugolino hervortrat. Seitdem verstummte er. Und dies in der bewegten gewaltigen Zeit, in welcher Lessing seine Emilia Galotti und seinen Nathan schrieb, und in welcher Goethe und die Stürmer und Dränger und Schiller mit ihren ersten Werken die gesammte deutsche Bildungswelt aufs tiefste erregten und erschütterten! Erst 1785 erschien wieder ein neues größeres Werk von Gerstenberg „Minona oder die Angelsachsen“; ein verunglücktes tragisches Melodrama, das höchst unerfreulich an Klopstock's Bardiete erinnert.

Es ist ein Räthsel, zu dessen Lösung uns der nöthige Einblick in die inneren Erlebnisse des Dichters fehlt, wie es kommen konnte, daß eine so bedeutende Schöpferkraft, von deren rüstiger Fortent= wicklung selbst ein Herder das Außerordentlichste verheißen hatte, so früh ermattete.

Seit 1768 lebte Gerstenberg in ansehnlichen Verwaltungsämtern, doch von beständigen pekuniären Schwierigkeiten geplagt; zuerst in Kopenhagen, seit 1775 als dänischer Resident in Lübeck, seit 1784 in Eutin und, nach dem Tode seiner Frau, seit 1786 in Altona. Musik und das Studium der Kantischen Philosophie beschäftigten sein Alter. Im Jahr 1815 ließ er eine Auswahl aus seinen Werken als „Vermischte Schriften“ erscheinen. Er starb zu Altona am 1. November 1823, hochbetagt und allverehrt.

Drittes Kapitel.

Goethe.

Bis zur italienischen Reise.

1. Leipzig, Straßburg, Wezlar.

Nicht ohne Behagen erzählt Goethe in Wahrheit und Dichtung, daß bei seiner Geburt der Stand der Gestirne günstig gewesen. Schon in Straßburg hatte er sich, wie aus den von A. Schöll herausgegebenen „Briefen und Auffäßen“ zu ersehen ist, in eines seiner Studienhefte angemerkt, daß ein altes astronomisches Lehrgedicht den unter dem Zeichen der Venus Geborenen eine glückliche Schriftstellerlaufbahn verheiße.

Es muß etwas wahrhaft Dämonisches in der strahlenden Jugenderscheinung Goethe's gelegen haben. Von Anbeginn macht er überall, wo er auftritt, sogleich den Eindruck eines „ganz singu= laren Menschen". Unter seinen Knabengespielen ist er immer der Erste. Jezt, da wir durch erhaltene Briefe in sein Leipziger Leben. einen genaueren Einblick haben als der eigene Bericht Goethe's gestattet, wissen wir, daß auch seine Leipziger Freunde schon seine fünftige Größe ahnten. Jung-Stilling hat aus der Straßburger Zeit lebhaft geschildert, wie der lebensfrohe, liebenswürdig gutmüthige Jüngling, mit seinen frischen großen Augen und der prachtvollen Stirn und dem schönen Wuchs, einem Gott gleich den unwiderstehlichsten Zauber übte und in seinem gesellschaftlichen Kreise un= bestritten die Regierung führte, obgleich er sie niemals suchte. Kestner, der Albert im Werther, kann in seinem Weglarer Tagebuch aus

der Zeit der ersten Bekanntschaft mit Goethe nicht müde werden, sich über die überraschenden Eigenthümlichkeiten des dreiundzwanzigjährigen jungen Mannes Rechenschaft abzulegen; zulezt bricht er mit den Worten ab: „Ich wollte ihn schildern, aber es würde zu weitläufig werden, denn es läßt sich gar viel von ihm sagen; er ist mit einem Wort ein sehr merkwürdiger Mensch; ich würde nicht fertig werden, wenn ich ihn ganz schildern wollte." Und mit jedem Jahr wächst die Bewunderung Aller, die das Glück haben, in seine Nähe zu treten. Am 13. September 1774 schreibt Wilhelm Heinse an Gleim: „Goethe war bei uns, ein schöner Junge von fünfundzwanzig Jahren, der vom Wirbel bis zur Zehe Genie und Kraft und Stärke ist, ein Herz voll Gefühl, ein Geist voll Feuer mit Adlerflügeln; ich kenne keinen Menschen in der ganzen gelehrten Geschichte, der in solcher Jugend so rund und voll von eigenem Genie gewesen wäre wie er; da ist kein Widerstand, er reißt Alles mit sich fort." Und Jacobi (Auserles. Briefwechsel, Bd. 1, S. 179) schreibt an Sophie La Roche: „Goethe ist nach Heinse's Ausdruck Genie vom Scheitel bis zur Fußsohle; ein Besessener füge ich hinzu, dem fast in keinem Fall gestattet ist, willkürlich zu handeln. Man braucht nur eine Stunde bei ihm zu sein, um es im höchsten Grad lächerlich zu finden, von ihm zu begehren, daß er anders denken und handeln solle als er wirklich denkt und handelt. Hiermit will ich nicht andeuten, daß keine Veränderung zum Schöneren und Besseren in ihm möglich sei; aber nicht anders ist sie ihm möglich. als so wie die Blume sich entfaltet, wie die Saat reift, wie der Baum in die Höhe wächst und sich krönt.“ Auf Goethe geht es, wenn Klinger in seinem Trauerspiel „Das leidende Weib“ eine der handelnden Personen sagen läßt: „Ein wunderbarer Mensch, der Doctor! der Erste von den Menschen, die ich je gesehen, der alleinige, mit dem ich sein kann. Der trägt Sachen in seinem Busen! Die Nachkommen werden staunen, daß je so ein Mensch war!" Selbst Wieland, den der junge Dichter durch seine humoristische Satire „Götter, Helden und Wieland" in jugendlichem Uebermuth herausgefordert und tief verlegt hatte, war, wie sein eigener Ausdruck

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