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Während der Dichter sich durch seine Dichtung von seinen Leiden und Verstimmungen befreit hatte, mußte er es erleben, daß seine Dichtung die kranke siechende Zeitstimmung beförderte, ja erst zum vollen Ausbruch brachte. Man kleidete sich nicht blos in die Tracht Werther's, man wallfahrtete nicht blos zu seinem Grabe; es fehlt auch nicht an Solchen, die gleich ihm in eitler Weltver= achtung den Tod suchten. Werther hat mehr Selbstmorde verursacht als die schönste Frau, sagt spottend Madame Stael.

Vergebens hatte der Dichter dem zweiten Theil seine warnenden Verse vorausgeschickt:

„Du beweinst, du liebst ihn, liebe Seele,
Rettest sein Gedächtniß von der Schmach;
Sieh, Dir winkt sein Geist aus seiner Höhle:
Sei ein Mann und folge mir nicht nach!"

Es galt das Phantastische abzuwerfen, und den wahren, nicht mit der Welt grollenden, sondern versöhnten Idealismus zu finden. Hier liegen die Keime des Tasso und des Wilhelm Meister.

Erwin und Elmire.

Claudine von Villabella.
Stella.

Im October 1773 meldet Goethe an Kestner, daß bald ein Lustspiel mit Gesängen fertig sei, ohne großen Aufwand von Geist und Gefühl auf den Horizont der Acteurs und der Bühne gear= beitet. Es ist das Singspiel „Erwin und Elmire" gemeint, das 1775 in Jacobi's „Iris“ erschien; im nächsten Jahr folgte ihm ein zweites: „Claudine von Villabella“.

Es sind Nachahmungen der französischen Operetten und der beliebten kleinen deutschen Singspiele; flüchtig stizzirte Einfälle, an= sprechend durch zarten lyrischen Hauch, aber ohne tiefere Bedeutung. Und selbst als Goethe während seines Aufenthalts in Rom behufs der neuen Gesammtausgabe seiner Werke diese Singspiele durch Verfeinerung der Motive und durch Umbildung der Prosa in Verse zu höherem künstlerischen Werth zu erheben und, wie er sich aus

drückt, aus ihnen die alte Spreu hinauszuschwingen versuchte, blieben seine Bemühungen ohne durchgreifenden Erfolg; zumal Kayser, dem er die Composition anvertraute, nur ein sehr untergeordneter Musiker war.

Stella dagegen, im Februar und März 1775 gedichtet, wurzelt wieder ganz und gar in der Wertherstimmung.

Freilich in der unerfreulichsten Weise. Die erste ursprüngliche Gestalt der Stella, die den seltsamen Titel „Ein Schauspiel für Liebende" führte, ist mit vollem Recht ein verzerrter Werther ge= nannt worden. Während Werther ein tragisches Ende nimmt, weil in der gegebenen Situation keine andere Wahl blieb, als daß entweder Werther oder Albert weichen mußte, wird hier versucht, eine ähnliche Situation heiter und versöhnend zu lösen. Zwei Frauen gewinnen es über sich, dem gemeinsam Geliebten gemeinsam Gattin zu sein.

Der Name „Stella" deutet auf Swift's Verhältniß zu Stella und Vanessa. Urlichs hat auf Grund der von ihm herausgegebenen Briefe Goethe's an Johanna Fahlmer (1875) die Vermuthung aufgestellt, daß diesem Stück die heimliche Liebe Johanna's zu Friz Jacobi zu Grunde liege; Scherer hat auf dieser Spur weiter forschend noch andere Motive aufgezeigt. Die Eingeweihten verstanden die persönliche Beziehung. Johanna freute sich der Dichtung, Jacobi fühlte sich aufs tiefste verlegt.

Wie sich der Dichter die Stimmung dachte, welche er hervor= bringen wollte, spricht der schöne Vers aus, mit welchem er 1776 das Stück an Lili schickte: „Empfinde hier, wie mit allmächt'gem Triebe, ein Herz das andere zieht, und daß vergebens Liebe vor Liebe flieht." Unstreitig aber ist Stella das Krankhafteste, was Goethe geschaffen hat. Der Abschluß, daß Fernando als ein moderner Graf von Gleichen mit beiden Frauen lebt, ist und bleibt eine Vertheidigung der Doppelehe, eine Vertheidigung der ungezü= gelten sophistischen Selbstfucht des Herzens- und Sinnentaumels. Merc sprach diesen Vorwurf sogleich offen gegen den Dichter selbst aus.

Es wäre unbegreiflich, wie Goethe dieses Stück schreiben und wie dieses Stück selbst bei einigen der Besten unter den Zeitgenossen Bewunderung finden konnte, wenn die Sturm- und Drangperiode mit ihrem rücksichtslosen Pochen auf die unveräußerlichen Rechte des Herzens nicht allgemein die leichtfertigsten Ansichten über Wesen und Ausschließlichkeit der Ehe gehegt hätte. Was Stella als Dichtung schildert, in Bürger's Liebe zu Molly war es geschichtliche Thatsache. Schlimmer als Stella ist das Luftspiel von Jacob Lenz: „Die Freunde machen den Philosophen." Man denke an Schiller's Freigeisterei der Leidenschaft! Man denke selbst an Jacobi's Woldemar! Die Liederlichkeiten der sogenannten Romantiker zeigen sich auch hier nur als Fortsetzungen der Sturm- und Drangperiode.

Goethe's Stella ist ein schlagender Beweis, daß die unsittliche Lösung eines Konflikts auch künstlerisch immer unbefriedigend wirkt. Wie können wir einen erfreulichen Ausblick in die Zukunft gewinnen, nachdem wir den Helden als verbrecherischen Lumpen und die liebenden Frauen als liebekranke Thörinnen kennen gelernt haben? Wo ist Wahrheit, wo Ueberzeugungskraft?

Noch 1786 wurde von Goethe das Stück unverändert in die Gesammtausgabe seiner Werke aufgenommen. Auch Schiller, welcher nach Goethe's Bericht eine Bühnenbearbeitung unternahm, scheint an der bedenklichen Moral keinen Anstoß genommen zu haben. Erst nach wiederholten Aufführungen drängte sich dem Dichter die unabweisliche Einsicht auf, daß vor unseren Sitten, die recht eigentlich auf Monogamie gegründet seien, eine Beschönigung der Doppelehe nicht bestehen könne. Er suchte dem Uebel abzuhelfen, indem er der Verwicklung einen tragischen Ausgang gab. Im Jahr 1806 wurde das Schauspiel für Liebende zum ersten Mal als Trauerspiel auf die Bühne gebracht und erschien als solches in der Ausgabe von 1816. Indeß nur wenige werden einstimmen, wenn Goethe in einem 1815 geschriebenen Aufsaß sich rühmt, das Stück habe durch diese tragische Wendung eine Gestalt gewonnen, die das Gefühl befriedige und die Rührung erhöhe.

Die satirischen Possen und Fastnachtsspiele.

Im Göz hatte Goethe das Faustrecht verherrlicht; in den satirischen Possen und Fastnachtsspielen übte er selbst das Faustrecht.

Sie sind meist aus zufälligen und ganz persönlichen Anlässen entstanden, muntere Nachklänge genial leidenschaftlicher Gespräche mit gleichgesinnten Genossen; in jedem Wort liegt die tolle Lust und Verwegenheit des Improvisirten. „Durch ein geistreiches Zusammensein an den heitersten Tagen aufgeregt“, sagt Goethe im dreizehnten Buch von Dichtung und Wahrheit, „gewöhnte man sich, in augenblicklichen kurzen Darstellungen Dasjenige zu zersplittern, was man sonst zusammengehalten hatte, um größere Kompositionen daraus zu erbauen; ein einzelner einfacher Vorfall, ein glücklich naives, ja ein albernes Wort, ein Mißverstand, eine Paradorie, eine geistreiche Bemerkung. persönliche Eigenheiten oder Angewohn= heiten, ja eine bedeutende Miene, und was nur immer in einem bunten rauschenden Leben vorkommen mag, Alles ward in Form des Dialogs, der Katechisation, einer bewegten Handlung, eines Schauspiels dargestellt, manchmal in Prosa, öfter in Versen. Man könnte diese Productionen belebte Sinngedichte nennen, die ohne Schärfe und Spigen mit treffenden und entscheidenden Zügen reichlich ausgestattet waren; unter allen auftretenden Masken sind wirkliche, in jener Societät lebende Glieder oder ihr wenigstens verbundene und einigermaßen bekannte Personen gemeint; aber der Sinn des Räthsels blieb den Meisten verborgen, Alle lachten, und Wenige wußten, daß ihnen ihre eigensten Eigenheiten zum Scherze dienten." Dennoch ragt die Bedeutung dieser satirischen Possen und Neckereien über das blos Zufällige und Persönliche weit hinaus. Mochten immerhin viel Porträtzüge und nächste persönliche Beziehungen und Vorfälle mit unterlaufen, diese lustigen Schwänke göttlicher Frechheit sind die satirische Geißelung überwuchernder Thorheiten und Kränklichkeiten, die um so gefährlicher wirkten, je

mehr sie zum Theil nur krankhafte Auswüchse grade des Besten und Schönsten der Zeit waren. Mit vollem Recht konnte Goethe an einer anderen Stelle von Dichtung und Wahrheit sagen: „Tiefer Eindringende werden doch geneigt bemerken, daß allen solchen Excentricitäten ein redliches Bestreben zu Grunde lag. Aufrichtiges Wollen streitet mit Anmaßung, Natur gegen Herkömmlichkeiten, Talent gegen Formen, Genie mit sich selbst, Kraft gegen Weichlichkeit, unentwickelt Tüchtiges gegen entfaltete Mittelmäßigkeit, so daß man jenes ganze Betragen als ein Vorpostengefecht ansehen kann, das auf eine Kriegserklärung folgt und eine gewaltsame Fehde verkündigt; denn genau besehen, ist der Kampf noch nicht ausgekämpft, er seht sich noch immer fort, nur in einer höheren Region.“

Es fehlt etwas sehr Wesentliches im Jugendbild Goethe's, wenn wir diese derben und, wie sie Goethe einmal selbst nennt, muthwillig händelsüchtigen Humoresken nicht nach Gehalt und Gestalt genügend beachten.

Fast insgesammt fallen sie in den Winter 1773-1774. Um so überraschender ist die Mannichfaltigkeit ihres Inhalts; mit Ausnahme des Politischen, das dem jungen Dichter fernlag, werden alle tiefsten Fragen der Zeit berührt. Die Farce „Götter, Helden und Wieland", welche der übermüthig geniale Jüngling eines Sonntag= nachmittags bei einer Flasche guten Burgunders in einer einzigen Sigung niederschrieb, und in welcher er im Aerger über Wieland's Noten zu Shakespeare und über die Jämmerlichkeit seines Sing= spiels Alceste, diesen, wie Goethe's Ausdruck lautet, auf eine garstige Weise turlupinirte, ist unstreitig eines der köstlichsten Stücke von Literaturkomödie, die irgendeine Literatur aufzuweisen hat. An die Satire gegen abgestandene Richtungen der Dichtung reiht sich mit gleicher Keckheit die Satire gegen abgestandene Richtungen der Theologie und Religion. Der „Prolog zu Bahrdt's neusten Offen= barungen" ist ein Schlag gegen den herabgekommenen Rationalismus, wie ihn nur ein Dichter führen konnte, der kurze Zeit darauf in seiner Faustdichtung das herrliche Gespräch zwischen Mephistopheles und dem Schüler dichtete. Und ebenso war das „Jahrmarktsfest

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