ZWEITE ABTEILUNG FÜR GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN LEHRFÄCHER MIT AUSSCHLUSZ DER CLASSISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON PROf. dr. Hermann Masius. 1. MARIAS ABSCHIED VON LEICESTER. Verständiges Urteil ist die Blüte des Menschengeistes, aus der jede schöne Frucht an Gesinnung und That sich entwickeln kann. Dazu will und musz die Schule erziehen; eines der Mittel, welche sie anwendet, ist die kritische d. j. die Kunst der Beurteilung. Diese gibt Anleitung, wie ein Schriftsteller an einzelnen Stellen nicht, wie man gewöhnlich sagt, zu emendieren, sondern in seinen ursprünglichen Zustand wiederherzustellen ist. Ist schon diese Art der Kritik, die eigentlich philologische, ein Wetzstein des Geistes für die heranreifende Jugend, so wird es noch vielmehr die sein, welche auf ganze Kunstwerke oder auch nur auf einzelne gröszere Teile derselben als Gegenstände des Geschmacks bezogen, mithin durch die Regeln der Kunst vorzugsweise geleitet wird. Beide Arten der Kritik gehen meistens Hand in Hand; denn sie stehen in einem so innigen Zusammenhange, dasz die einzelne Stelle ihre ursprüngliche Reinheit gewöhnlich nur durch einen Blick auf das Ganze, in dem sie steht, wiedererlangen, das Ganze aber auch nur richtig beurteilt werden kann durch Berücksichtigung der Teile bis auf das einzelne Wort hin. Indem man die Jugend nun so in das Gebiet der Kritik einführt, wird man ihr nicht gerade zu dem Anreizung und Anleitung geben, wozu sie leider schon natürliche Anlage und Neigung genug hat, zu Tadelsucht, Rechthaberei, Anmaszlichkeit, Selbstüberhebung und wer weisz zu was sonst für Untugenden mehr? Wird auch der geistige Nutzen, den man so gewinnt, den Schaden ausgleichen, den man an Gemüt, an Sitte und Charakter dadurch anzurichten Gefahr läuft? N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. II. Abt. 1868. Hft. 1. 1 |