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3. Die mythologische Forschung nach J. Grimm.

Die zahlreichen populären Darstellungen der deutschen und nordischen Mythologie, die nach J. Grimm erschienen, ebenso die vielen Einzeluntersuchungen, in denen neues Material bei gebracht oder eine bestimmte Erscheinung für sich allein behandelt wurde, kann ich hier nicht aufzählen und charakterisieren. Einiges Hierhergehörige verzeichnet v. Bahder, die deutsche Philologie im Grundriss, S. 234 ff. Nur die Schriften sollen genannt werden, welche neue fruchtbare Gedanken vertraten und damit auf die Entwicklung der mythologischen Forschung nachhaltig einwirkten.

Wilhelm Müllers Geschichte und System der altdeutschen Religion, 1844, von J. Grimm in den Berliner Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik 1844, Nr. 91-2 ungerecht verurteilt, sucht die von Grimm gewonnene deutsche Mythologie nach geschichtlichen Erwägungen zu sichten und die Einzelheiten mit einander zu verbinden. Mit Recht scheidet Müller einen grossen Teil des von J. Grimm gesammelten Materials als unbrauchbar aus. Insbesondere Volkssage und Volksbrauch, sofern erst die christliche Zeit davon meldet, werden nur bei zwingenden Gründen zum Aufbau des altdeutschen Heidentums benutzt. Kritik der Quellen betont Müller als vor allem nötig. Vorschnelle Verallgemeinerung von örtlich und zeitlich bestimmten Nachrichten soll nicht gelten. Freilich wird die nordische Mythologie trotzdem zuviel zur Erklärung der deutschen Trümmer benutzt. Immerhin bleibt Müllers Buch ein achtbarer Versuch, den geschichtlichen Maassstab an Grimms Sammlung zu legen.

Aus der deutschen Mythologie Grimms erhuben sich mehrere eifrig behandelte Fragen, deren Beantwortung die Darstellung wesentlich umgestalten musste. Zunächst blieb noch eine Zeitlang die Mehrung des mythologischen Stoffes eine wichtige Hauptaufgabe der Mythologen. Weniger aus den Denkmälern der Vergangenheit als vielmehr aus der mündlichen Überlieferung der Gegenwart erstanden unzählige wertvolle und wertlose Sammlungen von Märchen, Sagen und abergläubischen Bräuchen.') Hatten doch

1) Bereits im MA. wurden solche Sammlungen veranstaltet, jedoch im grossen Stil und im Hinblick auf mythologische und religionsgeschichtliche Verwertung erst im 19. Jahrhundert. Eine erschöpfende Bibliographie könnte

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die Brüder Grimm in ihren Sammlungen musterhafte Vorbilder. aufgestellt, denen in allen Ländern allmälig nachgeeifert wurde. Nachdem J. Grimm den mythologischen Wert der Volkssagen betont hatte, sammelten die deutschen Gelehrten besonders unter diesem Gesichtspunkte. Wie verhält sich die aus dem Mittelalter und der Gegenwart uns bekannte Volkssage zum Heidentum, enthält sie verblasste Spuren alter Göttersage, diese Frage beschäftigte die Forscher und wurde zunächst im Sinne Grimms entschieden. Was ist aus der Heldensage, insofern sie geschichtliche und mythische Bestandteile enthält, für die Mythologie zu lernen? Wie verhält sich die deutsche Mythologie zur nordischen, wieviel gilt von letzterer für Deutschland? Was hat der germanische Götterglaube mit dem andrer, insbesondere indogermanischer Völker gemein, wieviel davon entstammt aus ursprünglicher Gemeinschaft, wieviel aus etwaiger Entlehnung, wieviel aus zufälliger gleicher Entwicklung? Wie entstanden Mythen? Die letzte Frage hat die meisten und widersprechendsten Antworten gefunden. Da sie aber weniger auf germanischem Gebiete zum Austrag kommt, so soll sie auch hier mehr nur beiläufig berücksichtigt werden.')

4. Volkssage und Heldensage in ihrem Verhältniss zur Mythologie. Im Norden erkennen wir eine reich entfaltete Göttersage, deutlich ausgeprägte Göttergestalten und eine grosse Menge von Volkssagen und Bräuchen, die schon ins Heidentum zurückreichen. In Deutschland finden wir einige Götternamen, die mit den nordischen zusammenstimmen, aber nur ganz vereinzelte Spuren von Göttersagen, endlich dieselbe Masse von Volkssagen. Es ist nicht denkbar, dass die Deutschen keine Göttersage, nur einen Götter

Bogen füllen. Ich begnüge mich mit einem Hinweis auf bibliographische Zusammenstellungen in E. H. Meyers Mythologie S. 28 ff., 56; in Pauls Grundriss der germanischen Philologie II, 1, 738 ff. (nordische Sagen von Lundell), ebd. 777 ff. (deutsche Sagen von John Meier), ebd. 856 ff. (englische Sagen von A. Brandl); II, 2, 273 ff. gibt Mogk einen Gesamtüberblick über die bisherigen Leistungen auf diesem Gebiet, wo jetzt auch Zeitschriften und Vereine eine rege Thätigkeit entfalten.

1) Eine sehr ausführliche Übersicht über die wichtigsten Versuche, die Entstehung des Kultus und des Mythos zu erklären, gibt O. Gruppe, die griechischen Kulte und Mythen in ihren Beziehungen zu den orientalischen Religionen, Bd. I Leipzig 1887 S. 1–278.

kult besassen. Dagegen zeugen die wenigen erhaltenen Überreste. Kann eine deutsche Göttersage wiedererlangt werden? Auf zwiefache Art ist es versucht worden. Das oberflächliche rohe Verfahren nimmt einfach die nordische Sage der Edda auch für Deutschland in Anspruch. Der Beweis wird aus der Gleichheit der deutschen und nordischen Götternamen, die ja unleugbar auf gemeinschaftlichen Hintergrund deuten, geführt; ferner mussten Märchen und Sagen, die aus allen deutschen Gauen in überraschender Anzahl zu Tage gefördert wurden, herhalten. Sie galten im allgemeinen als verblasste Mythen. Eifrig spürte man nach zufälligen Übereinstimmungen zwischen ihnen und der nordischen Göttersage. Wurde einem Jäger von einem Löwen die Faust abgebissen, so erinnerte man sich des nordischen Tyr, dem der Fenriswolf die Hand abbeisst. Wurden Riesen erschlagen, so musste es Donar gethan haben. Was rote Farbe trug, erinnerte überhaupt an den Rotbart. Entführungssagen und gefährliche Werbungen wurden zu Freys Werbung um Gerd gestellt. So gelang der Scheinbeweis, dass dieselben Sagen, wie im Norden, so auch in Deutschland von den Göttern gegolten hätten, dass der Inhalt der Edda ohne Bedenken nach Deutschland überführt werden dürfe. In diesem Sinne wirkte der verdienstvolle Sagensammler J. W. Wolf namentlich in seinen Schriften: Beiträge zur deutschen Mythologie 1, 1852, 2, 1857 und Die deutsche Götterlehre 1852, 2. Aufl. 1874. In der Zeitschrift für deutsche Mythologie, welche J. W. Wolf 1853 begründete, die Mannhardt mit dem 3. und 4. Bande (1859) fortsetzte, fanden diese Bestrebungen für kurze Zeit einen Mittelpunkt. So gewiss vieles aus unserem ältesten Heidentum noch in heutiger Sage und Sitte unverändert lebt, ebenso sicher treiben aus dem natürlichen volkstümlichen Keime fortwährend frische Sprossen, die anders als jene beurteilt werden müssen, weil Luft und Licht ihnen andre Beimischung gaben. Von der Wolfschen. Schule wurde aber fast die gesamte Volkssage für uralt oder wenigstens als unmittelbarer Abkömmling des Heidentums erklärt. Simrocks Handbuch der deutschen Mythologie mit Einschluss der nordischen, Bonn 1853, 6. Aufl. 1887 hat trotz seiner unübersichtlichen verschrobenen Darstellung dieser Richtung zu unverdientem Ruhme verholfen. Anknüpfend an J. Grimms Bild vom Wall, der die nordische und deutsche Mythologie trenne, erklärt Simrock den Zeitpunkt zum Durchstich erschienen: „Wir haben den Wall durchstochen und den Guss einer allgemeinen deutschen Mytho

Der mythologische Wert der Volkssage u. Heldensage.

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logie unternommen". Abgesehen von der durch Schwartz und Mannhardt begründeten neuen Auffassung der Volkssagen waren es namentlich auch die Untersuchungen Benfeys über das Pantschatantra 1859, die zur Vorsicht bei Benutzung der Sagen und Märchen mahnten. Zumal die letzteren, bei denen auch manche Fälschungen mitunterliefen, verschwanden bald aus der Mythologie und wurden der vergleichenden Litteraturgeschichte überwiesen.

Ein zweiter Versuch ist ebenfalls von J. Grimm ins Leben gerufen, aber von ihm selbst nicht weiter geführt worden. Die 1812 geschriebene Abhandlung,,Gedanken über Mythos, Epos und Geschichte" hebt hervor, dass in der Heldensage vielfach Mythisches und Historisches, göttliche und menschliche Geschichte in eins gewachsen seien. Gelingt es beide Teile zu sondern, so erwächst der Mythologie reicher Gewinn. Zuerst hat Lachmann 1829 die Nibelungensage darauf hin untersucht. Der bedeutendste Vertreter dieser Richtung ist aber Müllenhoff, der diesen Gedanken in der Vorrede zu den Schleswig-holsteinischen Sagen 1845, in den Untersuchungen zur Geschichte der Nibelungensage, ZfdA. 10, 146 ff.; 23, 185 ff., Über Irmin und seine Brüder, ZfdA. 23, 1 ff., Über die austrasische Dietrich- und Hartungensage, ZfdA. 6, 435; 12, 346; 13, 185, Über Skeaf und seine Nachkommen, ZfdA. 7, 410 ff., Über Beowulf, ebda. 419 ff., Über Frija und den Halsbandmythus, ZfdA. 30, 217 ff. zur Anwendung brachte. Die Denkmäler der Heldensage entstanden zum Teil noch unter der Herrschaft des Heidentums. Wirkt die Göttersage in ihnen nach, so ist allerdings weit grössere Gewähr, von hier aus die verlorene Göttersage wiederherzustellen, als aus einem beliebigen späten Märchen. Doch der Ausführung dieser Gedanken stehen unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. Es ist schon schwer, aus einer Heldensage den geschichtlichen Kern, die mythischen Bestandteile, die Zuthaten und eigenen Erfindungen der Dichter sauber von einander zu lösen. Die Bestimmung des in einer Heldensage etwa vorhandenen Mythus auf seine Herkunft ist nur zu sehr vom subjectiven Urteil des Forschers abhängig. Man unterliegt allzu stark der Verführung, den Mythus so zu gestalten, wie man ihn braucht. Das Ergebniss, zumal wenn es noch von der vergleichenden Mythologie beeinflusst ist wie Müllenhoffs letzter Aufsatz von Frija und dem Halsband, kann als sichere wissenschaftliche Thatsache nicht gelten. Die Mythologie kann mit derlei Hypothesen nicht rechnen, ohne vollends ins Grundlose zu geraten.

5. Die Lehre vom Ursprung der Mythen und die
vergleichende Mythologie.

Wie man unmittelbaren mythologischen Gewinn aus den Sagen schöpfen könne, lehren Müllenhoff, Sagen, Märchen und Lieder aus Schleswig, Holstein und Lauenburg 1845 S. XLIV ff. und A. Kuhn und W. Schwartz, norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche 1848 S. XX ff. Mit den beiden letztgenannten Gelehrten hebt ein neuer Abschnitt der mythologischen Forschung an. Schwartz in seinen Schriften,,der heutige Volksglaube und das alte Heidentum" 1849,,,Ursprung der Mythologie“ 1860,,,die poetischen Naturanschauungen der Griechen, Römer und Deutschen in ihrer Beziehung zur Mythologie" 1864 und 1879, „indogermanischer Volksglaube“ 1885 war nach zwei Richtungen hin thätig, er bestimmte das Verhältniss von Volkssage und Kunstmythus, er suchte den Ursprung der Volkssage aus der Naturanschauung zu erklären.

Schwartz fand in den unter dem Volke noch lebenden Sagenmassen eine ,,niedere Mythologie", die einen früheren Zustand, eine embryonale Entwicklungsform der späteren Götter- und Dämonenwelt festhalte, möge die letztere auch in weit älteren geschichtlichen Zeugnissen überliefert werden. Nicht also bloss Abschwächungen, Niederschläge der in der Edda u. s. w. vorliegenden ausgebildeten Mythologie des Heidentums, der Kunstschöpfungen der Dichter, treten uns hier entgegen, wie Grimm und J. W. Wolf meinten, sondern vielmehr die Keime und Grundlagen, aus denen die,,höhere Mythologie" sich entwickelte. Wode und das wütende Heer dürfen nicht als verblasste Erinnerung an Wodan und die Einherjer erklärt werden, sondern als der uralte und unvergängliche Volksglaube, aus dem zur Zeit des germanischen Heidentums Wodans Gestalt sich emporhub. Mit Theodor Waitz) begründete Schwartz die ethnographisch-anthropologische Betrachtung von Sitte und Sage, die von Bastian 2), Tylor 3) u. A. auf Grund eines umfangreichen Materiales weiter ausgedehnt wurde, und die darauf ausgeht, an Thatsachen bei den verschiedensten Naturvölkern den gleichmässigen Verlauf der ältesten Sitten-, Religions- und Mythenbildung zu veranschaulichen. Sie führt zur Einsicht, dass fast

1) Anthropologie der Naturvölker, 6 Bände, 1859-65.
2) Der Mensch in der Geschichte, 3 Bde, Leipzig 1860.

3) Urgeschichte der Menschheit, Lpz. 1867; Anfänge der Kultur, Lpz. 1873.

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