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VI. Buch

Blutrache. Anfänge des Strafrechts und des Prozesses

VI. Buch

Blutrache. Anfänge des Strafrechts und des

Prozesses

Was sollte man denken — könnte in menschlichen

Dingen gewisser sein als der Begriff von Verbrechen und Strafe? Und doch ist in Wahrheit nichts grösseren Schwankungen unterworfen gewesen. Ich spreche hier nicht von den philosophischen Gründen für Zweck und Wesenheit der Strafe, den sogenannten Strafrechtstheorien jeder Jurist weiss, wie so sehr verschieden auch hierin die Meinungen der Philosophen sind, und jeder Student der Rechte kann sie an den Fingern herzählen oder sollte es wenigstens können. Das mag noch hingehen. Ich spreche auch nicht davon, dass es Zeiten und sicher ungeheure Zeiträume gegeben hat, in welchen man sich zu dem Begriff der Strafe überhaupt noch nicht erhoben hatte. Wir sahen soeben mit Erstaunen, dass ein Indianervolk die allgemeine Achtung als den höchsten Lohn und die allgemeine Verachtung als die schlimmste Strafe betrachtete. Dies ist also nicht etwa ein Standpunkt, den man als Optimist am Ende der Entwickelung als einen schönen Traum, dessen Erfüllung den Äonen nach uns aufzusparen wäre — sich vorzustellen hat. Im Gegenteil spricht viel dafür, dass — wie man auch über die Zukunft denken mag, man denselben Zustand auch am Beginn der Dinge anzunehmen hat. Denn

es ist ein fortgeschrittener Gedanke, dass es Handlungen gibt, die von Menschen zu vollstreckende Strafen nach sich ziehen 1). Die Regeln, die sich die Menschen gegeben haben, und die wir Gesetze nennen, sind sicherlich das Ergebnis einer langen Entwickelung und nicht als eine reife Frucht vom Baume gefallen. Auch hier ein wogendes Nebelmeer, aus welchem sich feste Begriffe erst spät gestaltet haben. Die Raubehe zeigt uns, dass es bis in die Nähe kultivierter Zeiträume lange Perioden gegeben hat, in denen Raub und Gewalttat gegen Frauen nicht als strafbar betrachtet wurden. Antwortete doch jener Buschmann auf die Frage des Missionars, was gut und böse sei: »Eine böse Tat ist, wenn ein anderer meine Frau raubt; eine gute Tat ist, wenn ich einem anderen sie raube 2).< Dies ist auch der roheste Ausgangspunkt des Strafrechts, dass jeder straft, was ihn verletzt. Aber dieser Gesichtspunkt wird im Verlauf der Kultur dadurch geadelt und emporgehoben, dass das Interesse der Gesamtheit an die Stelle des Einzelnen tritt wie wir sehen werden, dass im Strafprozess der Staat als oberster Friedensherr an die Stelle des Einzelnen tritt, der mit der Blutrache das ihm angetane Unrecht verfolgt: gerade so hat auch im Gebiet des Strafrechts Stamm und Staat die Sippe des Einzelnen abgelöst.

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1) Die Strafe als Sache der Allgemeinheit ist primitiven Zuständen etwas völlig Fremdes; die Tat gilt nicht an sich als Frevel, się kann nur eine Vergeltung durch den Verletzten nach sich ziehen. Wenn daher die Tat gewissermassen in der Familie bleibt, so fehlt es an dem, der zur Verfolgung berufen ist. So heisst es von den Indianern: Weder die Ratsversammlungen noch die Häuptlinge mischen sich in die Angelegenheiten einer Hütte ein, und es mögen Mord, Brand, Diebstahl darin vorkommen, ohne dass sie davon die mindeste Notiz nehmen, Erst wenn eine Angelegenheit mehrere Hütten angeht und droht, Fehden zu erzeugen, nimmt sich die Versammlung derselben an und trachtet die Streitenden zu versöhnen.<< (Zeitschrift, Bd. 5, S. 42).

2) PESCHEL, Völkerkunde, S. 294.

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Es gibt keinen grösseren Egoisten, als die Menschheit ist: sie kümmert sich auf die Dauer nur um das, was sie selber als solche angeht. Alles, was der Einzelne leistet und wäre es der Begabteste vergeht mit einem Mücken-Erfolge, wenn es nicht an ein Innerstes oder Äusserstes der Menschheit geknüpft ist. Und genau so ist das Strafrecht, von allem Individuellen losgelöst, die Summe desjenigen, was nach dem jeweiligen Stande der Erfahrungen der Menschheit ihr, und damit ihrem gewaltigen Aufwärtsringen und Vorwärtsschreiten am zuträglichsten ist. Wie sehr aber hat hier die Anschauung der Menschheit geschwankt! Von der Raubehe sprachen wir soeben, aber so war es in alter Zeit mit dem Raub überhaupt, wenn er nur nicht dem Stammesgenossen gegenüber verübt wurde. So sagt CÄSAR1) von den Germanen: »Strassenraub entehrt nicht, nur muss er ausserhalb der Grenzen geschehen. Nach ihrer Ansicht ist er ein Mittel, junge Leute zu beschäftigen und vom Müssiggang abzuhalten.<< Wenn aber CÄSAR in den Erinnerungen seines eigenen Volkes nachgeforscht hätte, so würde er auch hier am Beginn es nicht anders gefunden haben. Denn DIONYS2) erzählt uns aus der Sagengeschichte des Romulus, des Strassenraubes in benachbarten Gegenden seien Römer beschuldigt worden, »worunter nicht wenig angesehene Männer waren.<<

Es wäre ja auch wunderbar, wenn Recht und Sitte sich niemals gewandelt hätten, denn beide sind, wie unsere Altvorderen es tiefsinnig sagten: »Spiegel« des Volks3). Das ist die tiefste Bedeutung des Rechts, dass es Inbegriff und Auszug der Rechtsg edanken der Menschheit ist, und diese ihre Wurzelfäden tief in deren Bedürfnissen und innersten Vor

1) bell. gall. 6, 23.
2) 2, 56.

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3) Sachsenspiegel, Rhythmische Vorrede V. 79 ff: Spiegel der Sachsen soll dies Buch sein genannt da Sachsenrecht hierin ist be wie in einem Spiegel die Frauen ihr Antlitz beschauen,<

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