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V. Buch

Stammesverfassung und Anfänge des Staatsrechts

Es ist schwer zu sagen, unter welchen Bedingungen

Menschen sich zum ersten Mal zu einem Verbande zusammenfanden, den man einigermassen unter die Begriffe des heutigen Staatsrechts bringen könnte. Vor der letzten uns überkommenen Kunde zurück in die Vergangenheit der Menschheit liegen ungeheure, unaufgedeckte Zeiträume, die durch nichts erhellt werden, so dass wir im wahrsten Sinne des Wortes in das Dunkel sehen. Wie aber tritt uns auf ganz primitiven Kulturstufen, soweit wir sie in der Vorwelt oder unter den heutigen Naturvölkern beobachten können, das von Mensch zum Menschen einigende Band, die erste Betätigung des die späteren Staaten schaffenden Triebs der Menschheit entgegen? Hunger und Not führte die Menschen wohl zuerst zusammen und führte sie auch wieder auseinander. Wie in der Ehe, wie im Vertragsrecht, war auch die erste politische Einheit, die die Menschen zusammenfasste, weit davon entfernt festgefügt zu sein. Ja, man kann ruhig sagen, dass die Urform politischer Vereinigung ein geradezu chaotischer Zustand war. Denn als die erste gemeinsame Verfassung, die uns bekannt ist, erscheint die Horde oder, wie man sie auch nennt, die lose Familie. Dieser letztere Ausdruck ist wahr oder falsch, wie man ihn versteht; denn an Familie in unserem Sinn, als die Gemein

schaft der Blutsverwandten, ist in jenen urzeitlichen, am Anbeginn der Dinge stehenden Zuständen füglich noch gar nicht zu denken; ein so festes Gefüge war erst späteren Kulturperioden möglich und denkbar. Hier ist überhaupt von einer Befestigung der Verhältnisse, von einem gegliederten Organismus, ja von einem Zusammenhang, der die Einzelnen dauernd verbindet, zunächst noch gar nicht die Rede. Sie kommen zusammen, wenn die Not sie treibt, um eine drohende Gefahr abzuwenden; denn das Unvermögen des Einzelnen musste gerade am Anbeginn, wo der Mensch noch schwach und wehrlos der Natur wie den Ungeheuern der Vorzeit gegenüberstand, auch dem weniger Einsichtsvollen mit der Sprache, welche die Not vernehmlich redet, deutlich werden. Aber die wechselnden Ernährungsverhältnisse einer Zeit, die weder den Ackerbau kannte noch starkes Jagdgerät hatte, mussten, wenn die Nahrung knapp wurde, die Horde sprengen und die, die sich zusammengefunden hatten, wieder auseinander streuen 1). So sehen wir ein Gefüge, unsicher und schwankend, wie Nebelfetzen, die in der Frühe flattern.

Und so beginnt die politische Geschichte der Menschheit mit ihrer atomistischen Zersplitterung, und erst die Kultur schuf feste Verbände. Der Vorteil des Augenblicks entschied, ob man sich mit dem Nachbar zusammenschloss oder ihn wieder verliess. So schildert HOMER die Cyklopen, die ohne Ackerbau und ohne Rechtssatzung (wie wahr bringt der Dichter hier diese beiden Dinge in Verbindung!), ohne Volksversammlung und ohne Verkehr mit einander auf den Gipfeln des Gebirges in Grotten und Höhlen wohnten; und nur das Hilfsgeschrei des verwundeten Polyphem rief sie alle herbei, um dem Angegriffenen Hilfe zu leisten2). Dies war es, was die griechischen Schiffer oder ihnen die Schiffsleute aus den phönizischen

1) FRIEDRICHS in Zeitschrift, Bd. 10, S. 190, 197 ff.

2) Od. 9, 106 ff., 189 ff., 399 ff.

Städten von den Wilden erzählten, die auf fernen abenteuerlichen Fahrten an den letzten Grenzen der ihnen bekannten Erde aufgefunden waren; was den auf Geselligkeit und Gemeinschaft veranlagten Hellenen, die diese Stufe in vergangener Urzeit bereits überschritten hatten und denen der Staatentrieb als das wesentlichste Kennzeichen des Menschen galt (Tohirinov pov!) ungeheuerlich und unfassbar erschien. Menschen, die einsam und zerstreut auf den wilden Gebirgskämmen ohne Privat- und ohne Staatsrecht lebten!

Eine viel spätere Kulturstufe - feste Ansiedelungen und daher Ackerbau, Hausgenossenschaften als Vorfrucht in der Erziehung zu gemeinsamem Interesse durch gemeinsame Arbeit

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setzt der Geschlechterstaat, der Ahn unserer heutigen Staatsverfassungen, voraus. Eine auf Hausgenossenschaften sich aufbauende Genossenschaft nach ähnlichen Grundsätzen, wie bei jenen zu Gedeih und Verderb, so hier zu Schutz und Trutz! Denn der Mensch, der den Acker bestellt und den Boden durch seinen Fleiss zu seinem Eigen macht, ist nicht mehr wie der Hirt, der sein Zelt abbrechen kann, oder der Jäger, der seine Feuerstätte von heut auf morgen verlegt er ist vielmehr an einen Fleck der Erde gebannt, auf dem er durch einen feindlichen Überfall alles, Hütte, Weib und Kind, Vieh und Habe und das eigene Leben zu verlieren hat. So schloss wiederum die Not und die Gefahr des grösseren Verlustes die Menschen zusammen und nicht mehr, wie bei der Horde, konnte sie die Ungunst der Verhältnisse wieder auseinander führen; denn sie lebten da, wo sie geboren waren, und Hütte und Acker hielten sie fest und zwangen sie zum Gedanken des Staats. So ist es wahr, dass die Not, mit der der Mensch zu kämpfen hatte und die er überwand, nur sein. scheinbarer Feind und in Wirklichkeit sein grosser Lehrmeister war. Nicht den von der Natur ohne menschlichen Schweiss gespendeten Schätzen, der Not und der Arbeit hat der Mensch alles zu verdanken, was er geworden ist. Und daher sagt das

Sprichwort mit Recht, dass, in goldenen Wiegen geschaukelt zu werden, für den Menschen kein Glück ist.

So bildete sich durch das Zusammentreten der Hausgenossenschaften und Geschlechter der älteste Staat. Daraus erklärt sich auch, dass in primitiven Staaten der Vergangenheit bei weitem mehr als im modernen Grossstaat die Zugehörigkeit zu Stamm und Geschlecht entscheidend in den Vordergrund trat. Man musste, um dem Staat anzugehören, aus den Geschlechtern, die ihn bildeten, entsprossen sein, dieselben Ahnen und dieselben Götter haben. Und in jenen alten Zeiten war es strenge geübter Grundsatz: »Du sollst deinen Nächsten (den Stammesgenossen) lieben und deinen Feind (nämlich den Stammesfremden) hassen.« Der Staat war daher damals, als es nur Rodungen inmitten grosser Strecken unbebauten Landes gab, nicht in unserem Sinn an die Landesgrenzen gebunden; die Männer, die sich zusammenschlossen, machten den Staat aus, und so sehen wir in den Zeiten der Völkerwanderung, wie durch gewaltige Ereignisse ganze Stämme von Haus und Hof und in andere, weitabgelegene Gegenden getrieben werden - sie tragen ihren Staat mit sich und bleiben Langobarden und Gothen, wenn sie auch noch so fern von ihrer ursprünglichen Heimat verschlagen sind. Und ihre Führer waren nicht Herrscher innerhalb bestimmter Grenzen, sondern über ein Volk von Männern, die aus bestimmten Geschlechtern entstammten. In diesem Sinne finden wir heute noch den Geschlechterstaat z. B. bei den Bantuvölkern Südafrikas 1) und auch bei den Hottentotten) entwickelt. Und ganz ebenso haben wir nach dem, was die Sprachwissenschaft aus dem Wortschatz der indogermanischen Völker ausdeutet, uns bereits die Zustände der Urarier zu denken. Das Geschlecht (gens) ist die politische Einheit, und mehrere von ihnen bilden den

1) Zeitschrift, Bd. 15, S. 333.

2) Ebenda, S. 357.

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