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zur Gewohnheit gewordene Handlung einen neuen Zweck, dessen sich zwar derjenige, der sie ausübt, nicht immer deutlich bewußt wird, der aber trotzdem die Macht ist, die von nun an die weiteren Veränderungen und unter Umständen den schließlichen Verfall der Sitte bestimmt. Vom genetischen Gesichtspunkte aus erscheinen demnach zahlreiche der selbst unter uns noch lebenden Sitten als die Überlebnisse dereinstiger Kultushandlungen, deren ursprüngliche Zwecke unverständlich geworden, und die neuen Zwecken dienstbar gemacht sind. Indem nun diese neuen Zwecke ebenfalls sich verändern können, gewinnt die Sitte bei konstant bleibender Form einen stetig wechselnden Inhalt. Ähnlich wie das nämliche Wort in den verschiedenen Perioden der Sprachgeschichte nicht selten eine völlig abweichende Bedeutung gewinnt, so ist auch die Sitte in ihrer äußeren Erscheinungsform konservativ, ihr Zweck aber paßt sich unaufhörlich dem jeweiligen Bedürfnisse der Zeit an.

Da die Zurückverfolgung jeder einzelnen Lebensgewohnheit bis zu ihrer ursprünglichen Bedeutung ein Ding der Unmöglichkeit ist, so läßt sich nun freilich in vielen Fällen der religiöse Ursprung einer Sitte nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erschließen. Auch ist es zweifellos, daß es Sitten gibt, die in anderweitigen Traditionen ihre nächsten Quellen haben. Insbesondere sind es ältere Rechtsanschauungen, die oft in einzelnen nicht mehr verstandenen Gebräuchen fortleben. So haben sich weit verbreitet über die Erde in gewissen manchmal zum Spiel gewordenen Hochzeitszeremonien Erinnerungen an eine einstige Entstehung der Ehe durch Raub oder durch Kauf erhalten. Andere Sitten, wie die in Rom und Griechenland übliche, daß die Mütter des Bräutigams und der Braut die Neuvermählten einander zuführten, erinnern an die uralte, dereinst in weitem Umfang das Erb- und Besitzrecht beherrschende Vorstellung, daß der Mutter, nicht dem Vater das nächste Anrecht an den Kindern zukomme. Mag aber immerhin zugegeben werden, daß die Sitte, wie sie alle Lebensgebiete durchdringt, so auch in allen ihre ursprünglichen Wurzeln hat, so bleibt nicht zu übersehen, daß in jenem frühen Zustand der menschlichen Gesellschaft, in den die erste Entwicklung der meisten bedeutsameren Sitten zurückreicht, die verschiedenen Lebensgebiete überhaupt noch nicht getrennt waren, und daß insbesondere von religiösen Vorstellungen das menschliche Leben selbst in seinen alltäglichsten Bedürfnissen und Gewohnheiten durchdrungen wurde. Jede

irgend wichtigere Handlung ist ursprünglich in der Regel zugleich ein religiöser Akt, und die Normen des Handelns, an die sich der Mensch in den ernsteren Momenten seines Lebens gebunden fühlt, gehen dann bald auch auf die unwichtigeren Lebensgewohnheiten über, die jenen irgendwie ähnlich sind. Wie das Götterbild aus dem Tempel in das Wohnhaus wandert, so wird das Gebet von dem Opferschmaus übertragen auf die tägliche Mahlzeit. Jene Sitte, daß die Mutter der Braut diese dem ihr bestimmten Gemahl zuführt, findet ihren religiösen Hintergrund darin, daß die Frau als die Priesterin des Hauses galt, wie denn das Altertum zur Göttin des Herdes eine weibliche Gottheit wählte.

In vielen Fällen freilich wird eine Sitte, nachdem ihr einstiger Zweck verschwunden, neuen Lebenszwecken von ernsterer Bedeutung nicht mehr dienstbar gemacht. Einige der oben erwähnten Hochzeitsbräuche, wie z. B. der nicht selten noch vorkommende Scheinkampf des Bräutigams mit den Verwandten der Braut, zählen hierher. Obgleich scheinbare Ausnahmen von der Regel, sind diese Tatsachen doch merkwürdige Zeugnisse für jenes Streben nach Erhaltung, das einer jeden durch Generationen hindurch ständig gewordenen Lebensgewohnheit innewohnt; und man kann daher zweifeln, ob es mehr dies Erhaltungsbestreben an sich oder der neu entstandene Zweck ist, der eine Sitte am Leben erhält. Für das sittliche Leben haben solche völlig zwecklos gewordenen Rudimente früherer Sitten keine Bedeutung mehr. Sie sind hinfällig gewordene Überlebnisse einer längst vergangenen Kultur, die meist nur noch einem gewissen Spielbedürfnis genügen. Insofern aber auch sie mit der Befriedigung dieses Bedürfnisses einen Zweck erfüllen, gilt die Regel, daß Lebensgewohnheiten, die ihre ursprünglichen Zwecke verloren haben, neu entstandenen ihre Erhaltung verdanken, immerhin auch für sie. Zugleich hält jedoch der Sprachgebrauch die Verbindung, in die von ihm das Sittliche mit der Sitte gebracht ist, darin fest, daß er in der Regel nur solchen Lebensgewohnheiten den Namen der Sitte zuerkennt, die zu dem sittlichen Leben in irgend einer Beziehung stehen. Dabei braucht übrigens diese keineswegs notwendig eine für das sittliche Leben förderliche zu sein. Den Kannibalismus z. B. und den Frauenraub rechnen wir zu den Sitten, so wenig wir auch deren sittlich nachteiligen Einfluß verkennen werden. Auch die schlechte Sitte" bleibt eine Sitte, so lange ihr überhaupt der Charakter der verbindenden Norm zukommt. Nicht die Zwecklosigkeit an sich ist es also, die den sinnlos ge

wordenen Gebräuchen und Spielen den Charakter der Sitte entzieht, sondern allein das Fehlen der verpflichtenden Macht, die eine Folge des Mangels ernsterer Zwecke ist. In einem gewissen Grade kann allerdings die Macht der Gewohnheit den Zwang des Zweckes ersetzen. In gleichem Maße pflegt sich dann aber auch selbst der sinnlos gewordene Gebrauch dem Gebiet der Sitte zu nähern*).

In unserer heutigen Kultur ist die Sitte ihrem religiösen Ursprung so sehr entfremdet, daß uns Religion und Sitte als zwei völlig verschiedene Gebiete gelten. Begünstigt wurde diese Scheidung durch den nämlichen Vorgang, der auch die Rechtsanschauungen der Völker allmählich vom Gebiet der eigentlichen Sitte getrennt und diesem nur die überlebten Rechtsanschauungen früherer Zeiten überlassen hat. An die Stelle der im allgemeinen Bewußtsein lebenden bloßen Vorstellung der Verpflichtung ist die verpflichtende Norm des Gesetzes getreten. Das Gesetz aber scheidet sich von der Sitte, indem es die Pflicht, die es ausspricht, durch bestimmte Strafgebote, die es gegen ihre Übertretung richtet, erzwingt. Dieser Zwang hat zwar für das Gebiet der religiösen Verpflichtungen, für das er mit am frühesten eingetreten war, zum Teil wieder aufgehört. Dennoch bezeichnet sein Eintritt einen historischen Wendepunkt, von dem aus fortan die religiösen Pflichtgebote und die Handlungen, die aus ihrer Erfüllung hervorgehen, dem Bereich der eigentlichen Sitte entzogen bleiben. Denn indem jene Gebote zuerst in dieser und dann in einer jenseitigen Welt dem Glaubensgehorsam Belohnungen und dem Ungehorsam Bestrafungen in Aussicht stellen, bilden sie auch dann noch ein eigentümliches Rechtsgebiet, wenn

*) Es ist von Jhering (Zweck im Recht, II, S. 23) bemerkt worden, unsere Sprache bezeichne mit dem Singular „Sitte" vorzugsweise die gute Sitte, während sie unter dem Plural „Sitten" sowohl gute als schlechte verstehe. Dieser Satz ist wohl mit der Einschränkung zutreffend, daß jener Singular den Kollektivbegriff der in einer Gesellschaft überhaupt geltenden Sitten bezeichnet, womit dann die negative Form Un sitte zusammenhängt, durch die eine einzelne Sitte von der eigentlichen Sitte ausgenommen und ihr sogar als Gegensatz gegenübergestellt wird. Diese Verwendung des Kollektivbegriffs Sitte im Sinne der „,boni mores" der Römer gehört offenbar zu jenen rückwärts gerichteten Übertragungen der Bedeutung, an denen es auch sonst in der Sprache nicht mangelt. Nachdem die „Sittlichkeit" von der Sitte abgeleitet worden, verwendet man nun die letztere ohne weiteres im Sinne der ersteren, in Übereinstimmung mit der jener Ableitung allerdings mehr untergeschobenen als. ursprünglich eigenen Vorstellung, daß in der Sitte die sittlichen Anschauungen ihren Ausdruck finden. Vgl. hierzu Kap. I, S. 21 ff.

Ja man

ihnen keine politische Strafgewalt mehr zu Hilfe kommt. könnte sagen, der spezifische Charakter des religiösen Rechtsgebiets kommt nur um so reiner zur Geltung, je mehr auch die Strafgewalt der Kirche eine bloß innerliche geworden ist, die die Gewissen trifft. Der erste Schritt hierzu besteht aber darin, daß sie sich auf jenes Reich zukünftiger Hoffnungen zurückzieht, dem, solange das eigennützige Interesse vorwaltet, in der Auffassung der Religion der größte Einfluß auf die Befolgung der religiösen Gebote zukommt.

c. Die Zweck metamorphosen der Sitte.

Nachdem sich die religiösen Normen selbst dem Machtbereich der Sitte allmählich entzogen haben, erhalten sich nun um so sicherer in dieser jene Rudimente früherer Kultushandlungen, die sie teils neuen Zwecken dienstbar gemacht hat, teils aber als zwecklose oder lediglich der spielenden Unterhaltung dienende Gewohnheiten weiter führt. Auf solche Weise ist noch unser heutiges Leben überall von den Resten längst vergangener Kulte erfüllt, die, indem sie, den veränderten Lebensbedingungen entsprechend, neue Gedanken in sich aufnahmen, die Verwandlungsfähigkeit der organischen Lebensformen auf geistigem Gebiet nur in unendlich gesteigerter Gestalt zu wiederholen scheinen. Freilich fehlt es unter diesen Überlebnissen auch nicht an Versteinerungen, an abgestorbenen Resten früherer Lebensformen, die ihre Erhaltung zumeist nur jener Macht des Beharrens verdanken, der unsere Vorstellungen ähnlich unterworfen sind wie die Körper der äußeren Natur. Betrachten wir die Resultate solcher Verwandlungen losgelöst von ihrer geschichtlichen Vergangenheit, so werden wir leicht verführt, sie in den Gesichtskreis unserer heutigen Erfahrungen einzuschränken, und ihnen die Zwecke, die sie allenfalls heute erfüllen oder auch nur erfüllen könnten, als Ursachen ihrer Entstehung unterzuschieben. Dabei entgeht uns jedoch die für alle geistige Entwicklung und besonders für die sittliche überaus wichtige Tatsache der Vorbereitung neuer Lebenszwecke durch bereits vorhandene, aber ursprünglich anderen Zwecken dienende Formen des Handelns. Auch hier bietet wieder der Bedeutungswandel der Wörter das Beispiel eines analogen und verdeutlichenden Prozesses. Indem ein neuer Begriff das geeignete Wort, das nur einer Verschiebung seiner Bedeutung bedarf, um ihm dienstbar zu werden, bereits vorfindet, wird die Begriffsbildung selber erleichtert, ja vielleicht über

haupt erst möglich gemacht. Wie aber die Sitte an sich keineswegs immer eine gute sein muß, so wird auch bald von gleichgültigen, bald sogar von unsittlichen Zwecken die ihrer einstigen Bedeutung entfremdete Lebensgewohnheit in Beschlag genommen. Diese Tendenz der Sitte, nach Verlust ihres ursprünglichen Inhaltes in neuen Gestaltungen weiterzuleben, erleichtert so die Entstehung der verschiedenartigsten Zwecke. Wenn die sittliche Entwicklung schließlich aus diesem Gesetz des Beharrens in der Veränderung die Hauptvorteile zieht, so ist darum nicht dem Gesetz als solchem das Verdienst beizumessen, sondern allein den in der sittlichen Entwicklung selbst sich äußernden Kräften.

Es wird die Aufgabe der folgenden Darstellung sein, aus dem reichen Stoff der Sittengeschichte die hauptsächlichsten Momente hervorzuheben, in denen die ethisch wertvollen Wirkungen der Transformation der Sitte zum Ausdruck gelangen. Es mag daher hier genügen, zunächst diese selbst an einigen Beispielen zu veranschaulichen, die absichtlich dem Bereich ethisch gleichgültigerer Gewohnheiten entnommen werden sollen, und bei denen zugleich die heutigen Zwecke von den ursprünglichen möglichst weit abliegen.

Man hat die bei fast allen Kulturvölkern verbreitete und einem feineren sittlichen Gefühl sicherlich widerstrebende Sitte der Leichenschmäuse daraus erklärt, daß die Hinterbliebenen, um ein zahlreiches Leichengefolge anzulocken, den sich einfindenden Gästen als Entschädigung ihrer Mühe ein Gastmahl dargeboten hätten. Zuerst freiwillig gegeben, sei dieses dann von den Empfangenden gefordert worden, so daß, als das ursprüngliche Motiv in Wegfall gekommen war, das selbstsüchtige Interesse der gleichgültigen Teilnehmer die Sitte am Leben erhalte. Diese sei auf solche Weise aus einer von dem Einzelnen freiwillig gebotenen Leistung zu einer von der Gesamtheit erzwungenen und für den ersten Urheber der Gewohnheit, den Leidtragenden, lästigen Pflicht geworden*). Es scheint mir nicht unwahrscheinlich, daß diese Erklärung wirklich die Motive trifft, die in manchen Bevölkerungskreisen zur Erhaltung der Sitte beitragen, obgleich da, wo das Trauergefolge auf die Erlangung des Leichenmahls Wert legt, auch wohl die Leidtragenden nicht ganz selten sind, die durch den Glanz, den ein stattlich hergerichtetes Mahl verbreitet, ihre Trauer zu ermäßigen wissen. Denn wo die Leichenschmäuse bestehen blieben, da sind sie zunächst ein Privileg der

*) Jhering, Zweck im Recht, II, S. 244.

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