ÀҾ˹éÒ˹ѧÊ×Í
PDF
ePub

groß geworden, vereinigen sich zu einem Totaleindruck, mit dessen Stärke sich die sittlichen Wertgefühle steigern, die uns an die politische Gemeinschaft fesseln, der wir angehören. Je freier von persönlichen Beziehungen diese Affekte geworden sind, umso inniger knüpft sich an sie ein Pflichtgefühl, das sich ebenfalls mehr und mehr persönlicher Beziehungen entäußert. Der Naturmensch kann mitleidig, hilfsbereit, sogar aufopfernd sein für seinen Genossen; einer Handlung, deren Erfolge niemandem, den er kennt, ja überhaupt keiner bestimmten Person zu gute kommen, ist er unfähig. Ein homerischer Held setzt für Ehre und Ruhm jeden Augenblick sein Leben aufs Spiel; unbeachtet und ohne irgend eine Aussicht auf Auszeichnung einen gefahrvollen Posten behaupten, wie es heute jeder gemeine Soldat tut, wenn er kein Feigling ist, würde ihm vielleicht als Torheit erschienen sein.

Man mißverstände diese Ausführungen, wenn man in ihnen eine Verherrlichung des sittlichen Zustandes moderner im Vergleich mit früheren Zeiten erblicken wollte. Die Frage, ob der Mensch als Persönlichkeit durch die Kultur besser geworden ist oder nicht, liegt uns hier ferne; sie soll uns noch im folgenden Kapitel beschäftigen. Der sittliche Wert der Persönlichkeit ist ein relativer: er richtet sich nach der Entwicklungsstufe der sittlichen Vorstellungen. Wer in der heutigen Kulturgemeinschaft sein Interesse mit dem naiven und rücksichtslosen Egoismus des Wilden zur Geltung bringt, handelt unsittlicher als dieser. Manches, was in den Augen homerischer Helden als erlaubt oder sogar rühmenswert galt, erscheint uns heute verwerflich. Das Urteil über den moralischen Wert des Einzelnen wie der Gesellschaft ist daher nicht von dem absoluten Wert ihrer Gesinnungen und Handlungen, sondern von deren Verhältnis zu der erreichten sittlichen Kultur abhängig. Nur darauf also kann sich auch der Nachweis beziehen, daß die Entwicklung des sittlichen Lebens, trotz mannigfacher Schwankungen und Unterbrechungen, im ganzen eine kontinuierliche ist, in deren Ablauf sich zugleich überall wiederkehrende Gesetze des geistigen Geschehens betätigen. Nicht darin also besteht der Vorzug des heutigen Menschen vor dem der Vorzeit, daß er besser ist, sondern darin, daß er besser sein kann, oder, wenn wir die imperative Form des Sittengesetzes wählen, daß er besser sein soll als dieser. Gerade im Staate aber ist es durch die Wechselwirkung der zahllosen geistigen Kräfte, auf denen seine Erhaltung und Entwicklung beruht, am ehesten möglich, daß das

Sein dem Sollen zwar nicht gleichkommt, aber doch annähernd mit ihm Schritt hält. Hierauf beruht die ungeheure ethische Bedeutung, welche die Entwicklung der staatlichen Einrichtungen für alle andern Lebenskreise besitzt. Insbesondere in der Rechtsordnung stellt der Staat Normen auf, in denen er neben sonstigen für das äußere Leben nützlichen Bestimmungen auch die für die Gemeinschaft unerläßlichsten Sittengesetze zum Ausdruck bringt, und durch die er den Einzelnen gegen Gewalthandlungen schützt, die dem sittlichen Gewissen widerstreiten.

h. Die Entstehung der Rechtsordnung.

Wie der Staat allmählich aus dem ursprünglichen Stammesverband, so sind die Normen des Rechts aus denen der Sitte entstanden. Staat und Recht sind daher innig verbundene Erzeugnisse des gemeinsamen Lebens, von denen eigentlich keines dem andern, weder dem Begriff noch der Zeit nach, vorausgeht. Unter den vielen irrigen Vorstellungen über den Naturzustand des Menschen ist aber keine verkehrter als diejenige, die jenen, weil ihm eine Rechtsordnung in unserem Sinne des Wortes noch fehlt, für einen Zustand ungezügelter Freiheit hält. Der Wilde ist ein Sklave der Sitte. Die peinlichsten Regeln begleiten ihn bei allen Lebensverrichtungen; ihre Nichtbefolgung gilt meist zugleich als religiöse Verschuldung und wird durch Verachtung, Ächtung oder tätliche Mißhandlungen gestraft*). Die Art sich zu schmücken, zu kleiden, zu essen und eine Menge abergläubischer Gebräuche regelt die Sitte ebenso streng und nicht selten strenger als die Verhältnisse des Besitzes und die Verfolgung, die der Sippe eines Ermordeten gegen den Mörder zusteht. Diese Zustände reichen noch tief in die Anfänge der Staatenbildung hinein. Ist doch der Staat zunächst nicht sowohl aus der Nötigung hervorgegangen, diese durch die Sitte gegebenen Normen zu wahren, als aus dem Schutzbedürfnis gegen feindliche Angriffe, das entweder verwandte Stämme veranlaßte, sich unter einem Oberhaupt zusammenzuschließen, oder einem kriegstüchtigen Häuptling die Erringung der Oberherrschaft ermöglichte. Damit geht dann von selbst ein Teil der Gewalt, welche die Sitte ursprünglich dem Haupt der Sippe oder der Familie über deren Angehörige zuweist, auf das Oberhaupt des Staates über. Beim Aus

*) Eine Zusammenstellung hierauf bezüglicher Tatsachen siehe bei Lubbock, Die Entstehung der Zivilisation, S. 372 ff.

Wundt, Ethik. 3. Aufl. I.

15

bruch von Streitigkeiten zwischen den Einzelnen ist dieses nun der natürliche Schiedsrichter, der seiner Entscheidung nötigenfalls mit Gewalt Achtung verschaffen kann. Bildet sich eine despotische Regierungsform aus, so erweitert sich die Macht des Herrschers über diese Grenzen: er wird selbst der Träger einer Rechtsordnung, die seine persönlichen Anschauungen zum Ausdruck bringt, dabei aber leicht den Launen egoistischer Willkür unterliegt und nur in seltenen Glücksfällen dem Bedürfnis einer geordneten Rechtspflege genügen wird. Es ist daher bezeichnend, daß schon bei den Naturvölkern gerade in despotischen Staaten anarchische Zustände oft mit einer gewissen Regelmäßigkeit einreißen *). Anders, wo die Macht rivalisierender Häuptlinge der Gewalt des Oberherrn bestimmte Schranken setzt. Hier wird dann nicht nur seinem Einfluß auf die unter ihm stehenden Gemeindeverbände ein Zügel angelegt, sondern es bildet sich auch leicht die Sitte aus, daß bei Besitzoder sonstigen Rechtsstreitigkeiten der Einzelnen oder der Familienverbände die angesehensten Häuptlinge mitzuraten haben. So in dem Königtum der Hellenen, das uns Homer schildert. Oder die Beschränkung geht noch einen Schritt weiter: über wichtigere Fragen beschließt, nachdem die Fürsten beraten und ihre Meinung vorgetragen, das versammelte Volk, während, entsprechend dieser Ausdehnung der Macht der Einzelnen, die Entscheidung über einzelne Fragen, besonders also die individuelle Rechtsprechung, den beschränkteren Verbänden des Gaus oder der Gemeinde überlassen bleibt. So bei den Germanen **).

Hiermit ist zugleich die Stufe der eigentlichen Rechtsbildung erreicht: aus dem Umkreis der Regeln der Sitte haben sich gewisse Normen ausgeschieden, die unter den direkten Schutz des Staates und seiner Organe gestellt werden, und denen daher dieser teils durch Verkündung seiner Vorschriften und Urteile, teils, wo dies nicht genügt, durch die Anwendung von Zwang Geltung verschafft, während er sie zugleich als eine ihn selbst bindende Macht anerkennt. Zum vollen Begriff der Rechtsordnung sind diese beiden Seiten unerläßlich. Der Despotismus repräsentiert nur die eine, die Zwangs

*) Waitz, Anthropologie der Naturvölker, II, S. 147.

**) Vgl. Buchholz, Homerische Realien, II, 1, S. 66 ff. Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, 2. Ausg., S. 745 ff. Allerdings kennt auch die homerische Staatsordnung die Agore oder Volksversammlung. Aber das Volk wird hier nur in zweifelhaften Fällen nach Willkür der Fürsten berufen, und es hat nur eine beratende Stimme. Vgl. Buchholz a. a. O. S. 24.

gewalt des Staates gegenüber dem Einzelnen: er ist ein Zustand beginnender, noch nicht vollendeter Rechtsordnung. Auch das nach jenen beiden Richtungen entwickelte Recht aber ist zuvörderst, gemäß seinem Ursprung aus der Sitte, ein ungeschriebenes. Das Konstante dabei sind gewisse öffentliche Einrichtungen, die den Einzelnen in den Stand setzen, Recht zu suchen und zu finden, und die dem. Staat die Aufrechterhaltung der von ihm ausgehenden Rechtsordnung ermöglichen. Was Recht sei und was nicht, wird zum Teil unter Anlehnung an bestehende Sitten für den einzelnen Fall entschieden. Aus gleichartigen Fällen bildet sich dann eine Rechtsgewohnheit, die, sobald sie hinreichende Festigkeit erlangt hat, um als bindende Norm auch für die Zukunft zu dienen, zum Gewohnheitsrecht wird. Allmählich entsteht endlich das Bedürfnis, die bisher im Gedächtnis festgehaltenen Normen des Gewohnheitsrechtes ausdrücklich zu sanktionieren und durch die Schrift zu fixieren. So bildet sich das Gesetzesrecht, das nun alsbald eine selbständige Triebkraft entfaltet, indem es teils die bisherigen Rechtsgebiete weiter ausbildet, teils aber sich neue schafft, und damit den Umfang der staatlichen Rechtsordnung immer mehr erweitert. Nur in verhältnismäßig beschränktem Maße wird dieses Streben durch Tendenzen entgegengesetzter Art gekreuzt, die auf die Loslösung gewisser Interessengebiete von der staatlichen Rechtssphäre ausgehen.

Noch in höherem Maße als in dieser Geschichte der formalen Rechtsentwicklung tritt nun aber in den realen Veränderungen der Rechtsgebiete eine Gesetzmäßigkeit zu Tage, die auch in ethischer Beziehung von hoher Bedeutung ist. Es ist bekannt, daß das römische Recht die privatrechtlichen Normen, namentlich insoweit sie sich auf die Verhältnisse des Eigentums beziehen, in bewundernswerter Vollständigkeit ausgebildet hat, während das öffentliche Recht und selbst das Strafrecht der Römer noch einen fragmentarischen Charakter besass. Wenn die neuere Zeit hierin die Stufe des römischen Rechts weit überschritt, so ist gleichwohl ein Gebiet noch übrig geblieben, das einer zureichenden Kodifikation ermangelt: das Völkerrecht. Auf diese Weise scheint überall die Rechtsbildung, wo immer sie sich in ihrer Entwicklung näher verfolgen läßt, allmählich von den engsten zu den weitesten Lebenssphären der Gesellschaft fortzuschreiten. Sie beginnt mit der Regelung der Rechtsverhältnisse der Individuen zueinander, greift von da auf die Familie über; erst in einem späteren Stadium werden die bis dahin gewohnheitsrechtlich bestehenden Einrichtungen der

Verwaltung und Verfassung bestimmten Gesetzesnormen unterworfen, und zuletzt endlich bilden Verträge und Vereinbarungen der Staaten die Anfänge einer internationalen Rechtsordnung.

i. Die Strafgewalt des Staates.

Eine bemerkenswerte Stellung nimmt in dieser Entwicklung das Strafrecht ein. Seiner Natur nach greift es in die Rechtssphäre des Einzelnen wie in die des Staates. Denn das Verbrechen ist eine Verletzung der vom Staat geschützten öffentlichen Rechtsordnung, während es meist zugleich die persönlichen Rechte Einzelner antastet. Nach diesen beiden Seiten hat sich auch das Rechtsbewußtsein entwickelt. Indem aber das Moment der persönlichen Beeinträchtigung früher sich Geltung verschafft, fällt in den Urzuständen der Gesellschaft das Verbrechen unter den nämlichen

Gesichtspunkt wie der Streit der Einzelnen eine naturgemäße Folge der Tatsache, daß das verbreitetste Verbrechen der Urzeit, der Mord, fast immer aus dem Streite hervorgeht. Der Staat überläßt hier die Rache dem Geschädigten oder seinen Angehörigen; höchstens trägt er Sorge, daß diesem Streit der Geschlechter ein baldiges Ziel gesetzt werde, indem er ihn durch gewisse Normen beschränkt.

Bei dieser eigentümlichen Form der Entwicklung scheinen wiederum religiöse Motive die ursprünglich bestimmenden zu sein. Den Verhältnissen des Besitzes liegen diese am fernsten. Hier macht sich daher am frühesten das Bedürfnis eines staatlichen Zwanges fühlbar, und hier bildet sich derselbe überdies leicht aus den allgemeinen Bedingungen einer patriarchalisch oder despotisch regierten Gemeinschaft. Schon die Teilung des Eigentums, das anfänglich einer Familiengemeinschaft zu gemeinsamem Besitze gehört, erscheint als eine Rechtshandlung, die zunächst dem Familienhaupt zusteht, und die daher, sobald die Rechte desselben an eine höherstehende Instanz teilweise übergehen, auch dem Schutze der letzteren anheimfallen. Anders steht es mit der verbrecherischen Handlung. Insoweit sie eine Schädigung anderer Menschen zur Folge hat, bleibt diesen überlassen, sich selbst Genugtuung zu verschaffen: dem Hausherrn steht es frei, den Einbrecher, den er auf der Tat ertappt, zu erschlagen; die Sippe des Ermordeten nimmt an dem Mörder die Blutrache oder begnügt sich mit einem von diesem gezahlten Bußgeld. Insoweit aber das Verbrechen ein Verstoß gegen religiöse

« ¡è͹˹éÒ´Óà¹Ô¹¡ÒõèÍ
 »