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Insbesondere die in Deutschland früher wenig bekannte, erst in neuerer Zeit sich einer regeren Teilnahme erfreuende englische Moralphilosophie ist auch mir äußerst wertvoll gewesen, allerdings, wie ich bekennen muß, mehr in negativem als in positivem Sinne. Mit der individualistischen und utilitaristischen Richtung derselben befinde ich mich durchgehends im Widerstreit; aber ich danke die Erkenntnis der Unhaltbarkeit ihres Standpunktes nicht zum wenigsten dem Studium der englischen Utilitarier selbst. Wer die Rolle zu schätzen versteht, die in der Entwicklung der Wissenschaft die Geschichte des Irrtums spielt, der weiß, daß dieses Urteil neben dem Tadel zugleich ein Lob in sich schließt, welches dem Ruhm neu entdeckter Wahrheiten nicht viel nachsteht.

Indem ich hiernach die beiden ersten Abschnitte als einleitende und vorbereitende Untersuchungen betrachte, versteht es sich wohl von selbst, daß es ebenso wenig meine Absicht war, eine eingehende Geschichte der Religion und der Sitte wie eine solche der Ethik zu schreiben. Dort handelte es sich allein darum, den kulturgeschichtlichen Stoff so weit vorzuführen, als es zur Gewinnung bestimmter ethischer Schlußfolgerungen notwendig schien. Auch die Quellenangaben verfolgen daher nicht den Zweck ausführlicher Literaturnachweise, sondern sie wollen nur an den Stellen, wo ich mir die ausführliche Erörterung der Tatsachen versagen mußte, den Leser auf die Hilfsmittel hinweisen, die er ergänzend zu Rate ziehen kann. In der geschichtlichen Übersicht der Ethik aber hielt ich es für das angemessenste, die hauptsächlichsten Richtungen an hervorragenden Vertretern zu schildern, wobei zugleich der theoretische Gesichtspunkt allein maßgebend war. Manches aus der Literatur der philosophischen und theologischen Ethik älterer und neuerer Zeit, dem ich in anderer, insbesondere in praktischer Beziehung sein volles Verdienst zuerkenne, ist darum unberücksichtigt geblieben.

Einige Leser werden vielleicht erstaunt sein zu finden, daß die Ansichten, die im dritten Abschnitt dieses Werkes niedergelegt sind, wenn sie auch in gar vielem von der Sittenlehre und Rechtsphilosophie eines Fichte und Hegel nicht minder wie von den Systemen eines Schleiermacher und Krause abweichen, doch der Ethik des spekulativen Idealismus aus dem Anfang unseres Jahrhunderts in gewissen Grundgedanken nahe kommen. Aber auf die Gefahr hin, dieses Befremden zu mehren, will ich mit dem Bekenntnis nicht zurückhalten, daß nach meiner Überzeugung das Ähnliche, was hier für die Ethik versucht wird, in der nächsten Zukunft noch für andere Gebiete der Philosophie sich wiederholen wird. Gibt es doch einen Kreis von Anschauungen, der schon jetzt als hinreichend abgeschlossen gelten darf, um an ihm das Verhältnis der philosophischen Arbeit unserer Tage zu der den Anfang dieses Jahrhunderts beherrschenden

Spekulation ermessen zu können. Den Entwicklungsgedanken,
der heute in alle biologischen Wissenschaften siegreich eingedrungen,
hat zum ersten Male in seiner umfassenden Bedeutung die Natur-
philosophie Schellings und seiner Schule zur Geltung gebracht.
Aber auf wie anderem Grunde ruht heute dieser Gedanke als damals!
Dort ein Gewebe phantastischer Ideen, durch eine allen Regeln des
exakten Denkens widerstreitende Methode zusammengehalten, hier
eine Theorie, welche zwar mannigfacher und zum Teil unzureichender
Hilfshypothesen nicht entbehrt, deren Basis aber doch die Erfahrung
bleibt. Nicht anders steht, wie ich meine, auch auf sonstigen Ge-
bieten die heutige Wissenschaft zu der jener Zeit. Die Ideen der
Romantik über Sprache, Mythus und Geschichte sind vergessen;
ihre von einer spärlichen Kenntnis der Tatsachen getragenen Phan-
tasien über die Kultur der Vergangenheit haben einer nüchterneren
Prüfung Platz gemacht. Gleichwohl verdanken wir diesen Bestre-
bungen den Anstoß zu jenem kongenialeren Eindringen in fremde
Zeiten und Welten, für das dem Jahrhundert der Aufklärung fast
völlig der Sinn mangelte. Aus dieser Erweiterung des Gesichts-
kreises aber ist jene universellere Auffassung des geistigen Lebens
hervorgegangen, die, heute ein Gemeinbesitz aller Geisteswissen-
schaften, in dem auf Kant folgenden philosophischen Idealismus
zum ersten Male ihren allgemeineren Ausdruck fand.

Auch bei der Beurteilung philosophischer Lehren sollte man
den bleibenden Inhalt von der vergänglichen Form zu scheiden wissen.
Systeme, die dereinst eine tiefgehende Wirkung auf die Geister ge-
übt, die aber, in einer bewegten Zeit des Übergangs entsprungen,
nun der Geschichte angehören, werden weder als bloße Hirngespinste
zu verurteilen, noch als unvergängliche Wahrheiten zu verehren sein.
Hat jene Zeit in vielem geirrt, so besitzt sie doch der heutigen
Wissenschaft gegenüber die Bedeutung einer vorbereitenden Ideen-
entwicklung. Das unbrauchbare Gerüst der Systeme ist hinfällig
geworden, aber die lebensfähigen Ideen haben mag man sich
auch des Zusammenhangs nicht mehr bewußt sein überall in
den Einzelwissenschaften Wurzel geschlagen. Die Philosophie wird
der Rückwirkung dieser Entwicklung nicht sich entziehen können.
Sie wird an den allgemeinen Anschauungen vieles, in der einzelnen
Ausführung alles zu ändern haben, aber es wird ihr doch die
Aufgabe zufallen, diesmal geführt von den Einzelwissenschaften und
ihnen selbst wiederum als Führerin dienend, die Arbeit zu vollenden,
die dort ohne zureichende Hilfsmittel und mit verfehlten Methoden
begonnen wurde.

Leipzig, im Juli 1886.

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Vorwort zur dritten Auflage.

Die dritte Auflage dieses Werkes ist in vielen Teilen völlig
umgearbeitet, in andern durch Zusätze ergänzt worden. Am wenig-
sten eingreifend sind diese Änderungen im ersten Abschnitt. Ab-
gesehen von der Berücksichtigung der wichtigeren neueren Literatur
zur Religions- und Sittengeschichte habe ich mich hier darauf be-
schränkt, die Anschauungen über das Verhältnis von Mythus, Religion
und Sitte zueinander und zur Entwicklung des sittlichen Lebens.
klarer herauszuarbeiten. Der zweite Abschnitt ist fast völlig neu
geschrieben. Es schien mir wünschenswert, diesen Teil aus einer
Geschichte der philosophischen Ethik, die er bisher im wesentlichen
gewesen war, mehr zu einer wirklichen Geschichte der sittlichen
Lebensanschauungen zu gestalten, und demgemäß vor allem den
Beziehungen der philosophischen Systeme zu den gleichzeitigen
Kulturbewegungen nachzugehen. In dem dritten Abschnitt ist die
Lehre vom Willen entsprechend den Fortschritten der letzten Jahre
und der teilweisen Veränderung meiner eigenen Anschauungen auf
diesem Gebiet umgestaltet worden, und infolgedessen haben auch
die Untersuchungen über sittliche Motive, Zwecke und Normen
mannigfache Veränderungen erfahren. In dem letzten Abschnitte
endlich bin ich bemüht gewesen, die in den vorigen Auflagen nur
allgemein gehaltenen Andeutungen über die praktischen Fragen
des sittlichen Lebens durch eingehendere und bestimmtere Ausfüh-
rungen zu ersetzen. Wenn die Erkenntnis der Wahrheit das Ziel
ist, dem jede wissenschaftliche Arbeit, welchem Gebiet sie auch an-
gehören mag, zustrebt, so verbindet sich dieses Streben für den
Ethiker, wenn er seinem Gegenstande gerecht werden will, natur-
gemäß vor allem mit der Pflicht der Wahrheit gegen sich selbst
und der rückhaltlosen Aufrichtigkeit in der Aussprache seiner Über-
zeugungen. Ich bin namentlich auch in den Ausführungen über
das religiöse und das soziale Problem ernstlich bemüht gewesen,
diese Pflicht zu erfüllen.

Leipzig, im September 1903.

W. Wundt.

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