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Allen Erzeugnissen des Goethe'schen Genius, sie mögen dichterischer oder wissenschaftlicher Art sein, sie mögen in sich abgeschlossene persönliche Stimmungen oder stetig fortlaufende Lebensoffenbarungen enthalten, sie mögen Menschenschicksal und Weltwesen zum Gegenstand haben, körperlose Gebilde der Phantasie zur Darstellung bringen, Betrachtungen über Denken und Handeln zur Weisheit abklären oder die flüchtigen Erscheinungen der lebendigen wie der leblosen Natur auf die Nothwendigkeiten feststehender Geseße zurückführen, ihnen allen ist ein gemeinsames Merkmal aufgeprägt, welches sie von den Werken aller anderen Dichter und Denker unverkennbar unterscheidet. Es ist dies die vollständigste gegenseitige Durchdringung von Geist und Natur, der reinste Zusammenklang des Menschen und der Welt, die vollkommene Uebereinstimmung des Bewußtseins mit der Empfindung, die untrennbare Einheit des Dichtens und Lebens. Ihr Wesen ist wie ihr Ursprung. Sie behandeln keine willkürlich aus der Geschichte oder der umgebenden Wirklichkeit aufgegriffene Ereignisse, noch berechnete Erfindungen des allein auf Wirkung zielenden Verstandes; sie haben ihre Wurzeln nicht in dem Kopf, sondern in dem Herzen des Dichters. Die Außenwelt giebt die Anregung, aber ihr voran schon ging eine innere Stimmung des Gemüthes, welche nur jener Ergänzung bedurfte, um sich zum Ausdruck zu gestalten. Der Keim entspringt aus der Empfindung, aus der Erfahrung saugt er den Nährstoff, und im Hervorsprossen bildet die Pflanze sich selbst die ihr gemäße nothwendige Form. So steckt in jeder seiner Gestalten der Dichter, ohne doch mit ihr identisch zu sein; so sind die Empfindungen und Ideen, die er ausspricht, seine eigenen, aber aus der Enge der Persönlichkeit befreit und zur allgemeinen Geltung erhoben; so ist

die Welt, die er schildert, die von ihm wirklich gesehene, aber ihres alltäglichen Gewandes entkleidet und als reine Wahrheit in den Schleier der Dichtung gehüllt.

Dieses Doppelverhältniß seiner Werke zu seinem Innern und zur Welt bezeichnet Goethe selbst, wenn er von seinen Liedern sagt, sie seien Gelegenheitsgedichte“, wenn er die Mittheilungen aus seinem Leben „Wahrheit und Dichtung" nennt, wenn er vom „Werther" gesteht, er enthalte eine „Beichte“.

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Auch vom ersten Buche des „Wilhelm Meister" spricht Goethe in einem Briefe an Herder vom 13. Juni 1794 als von einer Pseudoconfession", die er sich vom Herzen und Halse" schaffen wolle, wie er denn auch gegen Schiller mit Bezug auf dasselbe Werk äußert, daß er „nichts schreiben könne, als was ihm auf dem Herzen brenne". Freilich tritt in diesem Romane, je weiter er fortrückt, immer mehr des Dichters Bestreben auf, den persönlichen Antheil seines Wesens zu verdecken und abzuschwächen. Er nennt dies in dem Briefe vom 9. Juli 1796 „einen gewissen realistischen Tic, durch den er seine Existenz, seine Handlungen, seine Schriften den Menschen aus den Augen zu rücken behaglich finde“. „So werde ich", heißt es dort weiter, „immer gerne incognito reisen, das geringere Kleid vor dem bessern wählen und in der Unterredung mit Fremden oder Halbbekannten den unbedeutendern Gegenstand oder doch den weniger bedeutenden Ausdruck vorziehen, mich leichtsinniger betragen, als ich bin, und mich so, ich möchte sagen, zwischen mich selbst und zwischen meine eigene Erscheinung stellen.

So sehr dies nun auch im „Wilhelm Meister“, mitunter sogar zum Schaden der Verständlichkeit des Einzelnen, geschehen ist, so ist doch der Zusammenhang des Werkes mit dem eigensten Innern des Dichters überall durchzufühlen; zumal der Beginn desselben, die Wurzel der Pflanze, zeigt sogar noch deutliche Ueberreste des Erdreiches, aus welchem sie hervorgesproßt ist.

Um die Gestalt des „Wilhelm Meister“ in der Einbildung des Dichters hervorzurufen, mußten der Drang seines eigenen Busens und die Richtung des Zeitgeistes zusammentreffen. Beide gingen auf reine Menschlichkeit, auf Befreiung des Individuums von den Fesseln, welche ihm die Vorurtheile des Standes und der Sitte auferlegen, auf Bethätigung des natürlichen Rechtes der Selbst

bestimmung, auf Entfaltung und Durchbildung der vollen Persönlichkeit. In der Wirklichkeit stellten die gesellschaftlichen Zustände der damaligen Zeit diesem Bestreben des Einzelnen die stärksten Hindernisse entgegen. Noch waren die verschiedenen Stände durch die strengsten Schranken von einander getrennt und jeder für sich in bestimmte Kreise gebannt. Von dem Bürger verlangte man wie von dem Bauern gewisse allgemeine Tugenden seiner Klasse; was der Mensch an sich war, danach wurde bei ihnen wenig gefragt. Der Handwerker, der Kaufmann, selbst der Gelehrte galten nur so viel, als sie leisteten. Thätigkeit und Besiß, Amt und Beruf gaben dem Einzelnen seinen Werth in der Gesellschaft; eine harmonische Ausbildung seines Geistes und Herzens wurde ihm weder zugemuthet noch ermöglicht. Einzig die Angehörigen des Adels, welcher in einer Art höhern, von den nächsten Bedürfnissen des Erwerbes unabhängigen Daseins lebte, hatten das Vorrecht, die Anlagen ihrer menschlichen Natur ohne Rücksicht auf die Forderungen der Nüglichkeit in schönem Gleichgewicht heranzubilden und eine eigene Persönlichkeit in sich zur Geltung zu bringen. Waren die Meisten derselben auch innerlich weit davon entfernt, das Wesen dieses Vorrechts zu erkennen und zu bewähren, so stellten sie doch wenigstens in der Form ihres Lebens und Verkehrs das Ideal einer freien, in sich selbst beruhenden Individualität dar, welches zu erreichen der minder begünstigte Bürgerliche durch Geburt und Erziehung, durch einseitige Thätigkeit und beschränkte Berufspflichten von vornherein verhindert war.

Diese Schranken zu durchbrechen, den starren Ueberlieferungen. der Convention das lebendige Recht der Natur gegenüberzustellen, dem Individuum seine Selbstbestimmung wiederzugeben und den menschlichen Kern aller Lebensverhältnisse aus den verdorrten Hüllen gesellschaftlicher Vorurtheile herauszuschälen, waren schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutende Geister, namentlich in Frankreich, durch ihre Schriften bemüht gewesen, am erfolgreichsten Rousseau, dessen Gedanken auf die Literatur der Sturm- und Drangperiode und besonders auf Goethe's geistige Entwicklung von nachhaltigem Einfluß gewesen sind. Dieser allein von den modernen Franzosen sagte ihm während seines Aufenthaltes in Straßburg wahrhaft zu, aber zugleich bewahrte ihn schon damals die eifrige

Beschäftigung mit Shakespeare, dessen ganzen Hamlet er sogar seinen Sesenheimer Gästen an einem Abend ununterbrochen vorlas, vor der Hingabe an die rohe Natur, indem sie ihn zu höheren, freieren und ebenso wahren als dichterischen Weltansichten vorbereitete.

In Goethe traf jene Richtung der Zeit mit einem mächtiger Drange seiner eigenen Natur zusammen. Seine ersten großen Werke: „Göz“, „Werther“, „Stella“, die Anfänge des „Faust", legen hierfür das beredteste Zeugniß ab. In des Dichters Persönlichkeit wie in dem Zustande der Gesellschaft war damals „ein unbedingtes Bestreben, alle Begrenzungen zu durchbrechen, bemerkbar". Aber je mehr seine eigene Natur sich abklärte, um so mehr nahmen auch seine Schöpfungen eine harmonische Gestalt an. An die Stelle eines schroffen Gegensaßes zu den gesellschaftlichen Zuständen trat das Bestreben, dieselben allmählich mit den berechtigten Forderungen des Individuums in Uebereinstimmung zu bringen. Wie Goethe später sich in der wissenschaftlichen Betrachtung der Natur als ein Feind alles Gewaltsamen erwies, so sah er auch die Möglichkeit, das Verhältniß des Menschen zu seiner Umgebung zu vervollkommnen, nur auf dem naturgemäßen Wege stetiger Entwicklung und Umwandlung. Das Bestehende behielt sein Recht, nur wurde „an dessen Verbesserung, Belebung und Richtung zum Sinnigen, Verständigen gewirkt"; dem Individuum blieb die freie Selbstbestimmung, aber es hatte dieselbe erst durch volle Selbsterkenntniß und weise Selbstbeschränkung zu erkaufen.

Mußten in den Erstlingswerken des Dichters seine Helden an der Ueberspannung ihrer persönlichen Ansprüche, an dem Mißverhältniß zwischen den Forderungen ihrer Natur und den Saßungen der Welt zu Grunde gehen, so konnte „Faust“ an dieser Klippe vorübergeführt und durch Läuterung seines Strebens ans erwünschte Ziel gebracht werden, so konnte in ähnlicher Art, wenn auch in einem untergeordnetern Kreise „Wilhelm Meister“ durch Irrthum zur Erkenntniß, durch Fehl zur Vervollkommnung, durch Beschränkung zur Freiheit gelangen. Die Grundanschauungen dieser beiden Werke zeigen eine unverkennbare innere Verwandtschaft; man könnte eine Parallele zwischen ihnen bis in manche Einzelheiten durchführen; nur daß bei der Vergleichung das Uebermenschliche des „Fauft“ auf die sehr menschlichen Dimensionen des „Wilhelm Meister" reducirt

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