10. Nimmer mit dem Schmuck der Bräute Meine Jugend war nur Weinen, 12. Selig preis' ich Polyrenen 13. Und auch ich hab' ihn gesehen, 14. Ihre bleichen Larven alle 15. Und den Mordstahl seh ich blinken Und das Mörderauge glüh'n! Nicht zur Rechten, nicht zur Linken Nicht die Blicke darf ich wenden; 16. Und noch hallen ihre Worte, Und des Donners Wolken hangen Schiller. Das Gedicht Kassandra, wahrscheinlich im August 1802 ent= standen, ist das Produkt einer schmerzbewegten Stimmung, die Schiller, wenn auch nur vorübergehend, öfter befiel, besonders gegen das Ende seines Lebens. Die Zeit bot ja damals des Trostlosen viel; die Ereignisse wurden immer drohender; die Hoffnung auf ein ruhiges Fortschreiten der Menschheit, welche der Dichter noch 1789 in den Künstlern ausgesprochen hatte, ward immer mehr in Frage gestellt. Mit tiefem Schmerz empfand er den Widerspruch zwischen der Welt, welche er im Herzen trug, und der, welche die Wirklichkeit bot, und diesem Schmerz hat er wiederholt Ausdruck gegeben. Die großen, allgemeinen Sen= tenzen, welche er in die ernste und tief ergreifende Klage der Kassandra eingefügt hat: Nur der Irrtum ist das Leben, sind der Ausdruck seines eigenen Kassandraschmerzes, der keinem erspart wird, der tiefer und ernster als der große Haufe in die Zukunft und in das Leben blickt. **) Dennoch hat er bis zum Ende seines Lebens nicht nachgelassen, die ewigen Ideeen des Guten, Wahren und Schönen zu verkünden und in einer langen Reihe ernster Dichtungen die Ahnung einer verhängnisvollen Zukunft zu wecken. * Zum Verständnis des Gedichtes sei zunächst folgendes bemerkt: ***) Eris, die Göttin der Zwietracht und des Streites, mit Schlangenhaaren. *) Ein Elias, der nach langen Jahren eines mühevollen Strebens sein Werk um keinen Schritt gefördert sieht, will kein Menschengesicht mehr sehen und keiner Menschenwohnung mehr sich anvertrauen. In dem Gram seines Herzens wandert er fort aus seinem Vaterlande nach der Wüste und setzt sich lebensmüde, nachdem er auch den Knaben, der ihm diente, zurückgeschickt hat, unter einen Wachholder und bittet, daß seine Seele stürbe. ***) Nach Viehoff. " „Kassandra war die schönste unter den Töchtern des Königs Priamus, schön wie die goldene Aphrodite". Der pythische Gott Apollo liebte sie und bat sie um Gegenliebe. Sie versprach diese unter der Bedingung, daß er ihr den Blick in die Zukunft verliehe. Apollo gewährte ihre Bitte; allein da die Verblendete ihr Versprechen nicht hielt, nahm er zwar sein Geschenk nicht wieder zurück, fügte aber den Fluch hinzu, daß niemand ihr Glauben schenken sollte." Der Bräutigam der Kassandra, dessen in der 13. Strophe gedacht wird, war Koröbus. Derselbe fiel bei der Eroberung Trojas, als er wie ein Verzweifelnder die gefesselte Braut retten wollte. Diese ward bei der Verteilung der Gefangenen dem Agamemnon zugesprochen, dem sie sein Schicksal vorher sagte. Sie starb mit ihm nach seiner siegreichen Rückkehr in Mycene unter den Händen der von Ägistheus bestellten Mörder. In den Darstellungen der Alten erscheint Kassandra, sobald der Gott sie beseelte, als eine Rasende: Als sie nun sah, wie die unheilvollen Zeichen sich häuften, Schiller hat aus der alten Mythe einen wahrhaft tragischen Stoff in lyrisch-epischem Feierkleide geschaffen, der sich seinen prächtigsten Balladen ebenbürtig zur Seite stellt. Den Hintergrund des erschütternden Ge= mäldes bildet das Walten der ewigen Schicksalsmacht, die das schuldbeladene Haus des Priamus dem Untergange geweihet hat. Schillers Kassandra ist aber keine rasende Seherin, sondern eine stille Unglückliche, die sich mit ihrem verzehrenden Kummer von der Welt, in der sie feinen Glauben findet, in die Einsamkeit zurückzieht und diejenigen glücklich preist, die weder in die verhängnisvolle Zukunft, noch in die erschreckenden Tiefen der Gegenwart zu blicken vermögen. Die beiden ersten Strophen des Gedichtes schildern die trunkene Freude, welche in Troja herrscht. In bacchantischer Lust ziehen die Trojaner, geschmückt mit Lorbeerreisern, durch die Straßen der Stadt nach dem Tempel Apollos. Der thränenreiche Streit ruhet; ein glücklicher Entschluß hat eine Versöhnung zustande gebracht: Achill, Thetis großer Sohn, ist im Begriff, sich mit Priams Tochter Polyrene zu vermählen. Vergessen ist der gegenseitige Groll, vergessen sind die langen Leiden. Die Griechen schwelgen in der süßen Hoffnung, nun bald die füße Heimat wieder zu sehen; die Trojaner jubeln, daß endlich Friede ist und Leben und Eigentum wieder gesichert sind. Nur Kassandra kann nicht mitjubeln in der Freude Fülle. Sie, die Wiffende und in die Tiefen des Lebens Schauende ist die Unglückliche, die im Irrtum Befangenen find die Glücklichen. Während alle den Augenblick in vollen Zügen genieBen, ist sie geflüchtet in die tiefste Stille des Lorbeerhaines, welcher dem Apollo geweihet war. Wohl möchte sie mit einstimmen in den Jubel; aber sie kann die Hoffnungen und Erwartungen, welche man an dié Vermählung knüpft, nicht teilen. Mit Schauder gewahrt sie das Heran= nahen einer drohenden Wetterwolfe, welche die furchtbarsten Elemente des Hasses und der Zwietracht enthält, die in hellen Flammen über Jlion sich entladen sollen. Was sie als Vision dunkel geschauet, ist in der 5. Str. in den schönen Gegensätzen angedeutet: „Eine Fackel seh' ich glühen, Aber nicht in Hymens Hand; Feste seh' ich froh bereiten, Doch im ahnungsvollen Geist Hör' ich schon des Gottes Schreiten, Die Klagen der folgenden Strophen gelten dem harten Geschick der Kassandra selbst. Durch die ihr verliehene Gabe ist sie gleichsam ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft, deren Gefühle und Wünsche, deren Hoffnungen und Freuden andere, als die ihrigen sind. In die Einsamkeit muß sie ihren Schmerz tragen und den Lüften ihre Klagen anvertrauen. Ja, sie darf den Glücklichen nicht einmal zeigen, wie unglücklich sie ist (Str. 6). Gern gebe sie ihre Sehergabe dahin, wenn sie damit das verlorene Glück wieder erkaufen könnte (Str. 9). Überall, wo sie auch wallet, und wo sie auch wandert, schauet sie die Schatten derer, denen der Untergang bevorsteht. Mitten unter den Lebenden sieht sie sich von Toten umgeben, und was andern Freude bereitet, wird ihr ein Quell unsäglichen Wehes. Selbst des Lenzes, ja selbst der Liebe, die doch sonst des Menschen Herz erfreut, kann sie nicht froh werden. Weiß sie doch, daß das Geschick, welches ihrem schuldbeladenen Hause drohet, den Bräutigam und sie selbst in den Untergang ziehen wird. Der für sie geschliffene Dolch will nicht vor ihren Blicken weichen, und es ist ein schauriges Requiem, welches sie am Schlusse der dunkeln Vision anstimmt: Und den Mordstahl seh' ich blinken So hat Kassandra für das Geschenk, die Zukunft zu schauen, alles eingebüßt: die glückselige Jugend und die beglückende Liebe, den frohen Genuß des Augenblicks und die selige Hoffnung der Zukunft. Wäh rend die Unglückliche noch klagt, Horch! da dringt verworr'ner Ton Fernher aus des Tempels Pforte, getroffen von dem Pfeile des heimtückischen Paris, des Bruders der Kassandra, welcher am Hochzeitsaltar mit dem tödlichen Geschoß die einzig verwundbare Stelle des Achilles, die Ferse desselben, traf Die Klage bricht, eine Welt von Ahnungen weckend, kurz ab. Anfang und Ende bilden einen ergreifenden Gegensat. *) Über das *) Manche Stellen des Gedichts erinnern an den Monolog des 4. Aktes in der Jungfrau von Orleans. Götzinger hat hierauf zuerst aufmerksam gemacht. Der Monolog beginnt, wie das Gedicht, mit einer Schilderung allgemeiner Freude. Auch die Straßen von Rheims erfüllt unendlicher Jubel: Die Waffen ruh'n, des Krieges Stürme schweigen, Das weite Rheims faßt nicht die Zahl der Gäste, Und einer Freude Hochgefühl entbrennet, Was sich noch jüngst in blut'gem Haß getrennet, Wie ferner in Troja Kassandra in der Freuden Fülle die einsam Trauernde ist, so fühlt sich bei dem unendlichen Jubel in Rheims auch die Jungfrau unendlichem Elend preisgegeben. Doch mich, die all' dies Herrliche_vollendet, Und wie Kassandra klagt: Dein Orakel zu verkünden, so flagt auch die Jungfrau, daß ihr ein Beruf geworden, der über mensch liches Vermögen geht. Wärst du nimmer mir erschienen, Hohe Himmelskönigin! Nimm, ich kann sie nicht verdienen, |