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nicht sittliche Pflicht. Die classische Bildung war für sie nur eine formale, ein gutes Latein war ihnen die Hauptsache, von dem inneren Leben des Alterthums hatten sie keinen rechten Begriff, und ihre Moral war äußerst frivol. Das Deutsche Leben war durchaus nicht normal, aber im Ganzen gesund auch in der Ungebühr, man suchte sich keinen idealen Schein zu geben. Handel und Gewerbe blühten, die Bürger wurden reich und fühlten sich wohl in ihrer Haut. Alles Leben hatte einen bürgerlichen Zuschnitt, auch die Künste wurden von den Gilden betrieben, die Persönlichkeiten der Künstler versteckten sich eher als daß sie sich vordrängten. Die Baukunft wurde in den Bauhütten fortgepflanzt, die Poesie schwächte sich zum Meistergesang der Handwerker ab. Diese zünftige Dichtung des 15. Jahrhunderts ist doch bezeichnend für die Deutsche Art; jene humoristischen Fabeln und Sprüche, in denen sich gesunder Mutterwig über das wälsche Formelwesen lustig macht.

Der Grundzug des Deutschen Charakters ist ein gewisser Realismus, eine derbe Ehrlichkeit, die sich vor der Lüge schämt. Die Deutschen haben. oft gelogen, aber fast immer mit Ungeschick, so daß man es merkte; sie haben nur selten versucht, sich Dinge einzubilden, die nicht da waren. Der Deutsche Schelm versucht nicht, sich selber weiß zu machen, er sei eigentlich eine sittliche Creatur.

Dieser Realismus spricht sich recht deutlich in dem Bild des größten Lügners aus, den vielleicht überhaupt die Europäische Litteratur erfunden hat.

Der „Reineke Fuchs" wurde 1498 aus dem Niederländischen ins Plattdeutsche übertragen, in einem Stil von bezaubernder Anmuth; es ift neben dem Nibelungenlied mit Recht das populärste unfrer alten Gedichte, und war wohl werth, von dem Meister der classischen Periode ins Gedächtniß zurückgerufen zu werden. König Nobel ist eine der drolligsten Figuren, die je ein Dichter erfunden hat, und Hof und Reichstag find seiner würdig; selbst die Schelmerei des Fuchses ruft ein unauslöschliches gesundes Lachen hervor. Aber auch der Ernst fehlt nicht, und grade der Zusaß von 1498, die zweite Beichte des Fuchses, giebt einen merkwürdigen Einblick in die Stimmung der Deutschen gegen die Kirche. Die Käuflichkeit der Curie, in der Moneta und Denarius Richter find, wird derb gegeißelt, die Werkheiligkeit und der Ablaß mit bitterem Hohn dargestellt. Reineke legt ein hären Gewand an, Pilgerhut und Stab, redet von Wallfahrten nach Jerusalem, um die Leichtgläubigen bequemer zu betrügen; für seine zahllosen Verbrechen legt ihm der Priester, Grimbart der Dachs, die Buße auf, dreimal über ein Reis zu springen

und es zu küssen, dann absolvirt er ihn, empfiehlt ihm aber fleißigen Kirchenbesuch und Absingen der Horen. So faßte man in Deutschland allgemein die Ohrenbeichte, die Werkheiligkeit und den Ablaß auf: es mußte endlich zur Auseinandersetzung mit Rom kommen.

Der Papst betrachtete den barbarischen Norden als zinspflichtige Provinz. Noch immer hat die Kirche einen Vorrath von guten Werken, und die Nachfrage hat nicht abgenommen. Schon früher hatte man für den Preis des einzelnen guten Werks einen Meffer, jezt greift man zur bequemsten kaufmännischen Tare, zum Geld; für jede Sünde, die man begangen hat oder begehen will, giebt es einen Preis. Die Deutschen, denen man die unverschämtesten Bettelmönche zuschickte, wurden es endlich müde, von römischer Frivolität zum Narren gehalten zu werden.

Langsam aber durchgreifend brach sich, von dem Buchdruck unterstüßt, der Humanismus auch in Deutschland Bahn, und wurde hier gründlicher betrieben als in Italien: die deutschen Humanisten schrieben Schulbücher, Grammatiken, Lerica; neben dem Lateinischen wurde das Griechische und Hebräische Gegenstand ernsten Fleißes; Männer wie Agricola, Conrad Celtes, Reuchlin und Erasmus wetteiferten mit den besten italienischen Humanisten. Der deutsche Humanismus nahm die entschiedene Richtung gegen den Aberglauben und den Hauptsitz desselben in Rom.

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In den Briefen der Dunkelmänner" wurden die unwissenden Zeloten, die den großen Humanisten Reuchlin verfolgt hatten, mit köstlichem Humor verhöhnt: zu den Verfassern wurde der junge Ritter Ulrich von Hutten gerechnet, der während eines zweijährigen Aufenthalts in Italien den Papst und die ganze Klerisei in lateinischen Satiren verspottet hatte; er wurde nach seiner Rückkehr aus Italien in Augsburg 12. Juli 1517 von Kaiser Max zum Dichter gekrönt. Mehr als das verdroß den Papst der Lärm, welcher von den Bettelmönchen wegen des Ablasses erhoben wurde: ein Augustiner in Wittenberg, Dr. Martin Luther, schlug 31. Oct. 1517 gegen den Dominicaner Tezel, der das Geschäft des Ablasses hauptsächlich betrieb, an die Schloßkirche 95 Theses an; die Frage wurde bald populär, und der Papst mußte fürchten, daß ihm diese reiche Einnahmequelle verstopft würde. Gütlich schien dem dreisten Mönch nicht beizukommen, man mußte zu Kirchenstrafen schreiten. Es kam darauf an, wie Kaiser und Reich sich dazu stellen würden.

Nach dem Tode des Kaisers Mar hatten die deutschen Fürsten den jungen Karl V. gewählt, bereits Herrn der vereinigten spanischen Monarchie, der Niederlande, der österreichischen Erblande und reicher Befizungen in Italien: eine Macht, von der die Hohenstaufen nie geträumt! Zum ersten Mal seit dreihundert Jahren drang die Idee des Römischen Kaiserthums wieder ins Volk ein. Die beiden Sendschreiben Luther's und Hutten's, mit denen Kaiser Karl begrüßt wurde, als er Mai 1520 zuerst nach Deutschland kam, waren entschieden ghibellinisch.

Hutten klagte die Tyrannei der römischen Pfaffen an: „doch wird sie, wenn mich nicht alles trügt, bald vernichtet werden. Bereits ist an der Bäume Wurzel die Art gelegt; das sollt ihr nicht mehr hoffen, sondern nächstens mit Augen sehn. Nicht schwach sind eure Führer zur Wiedergewinnung der Freiheit; beweist auch ihr euch unerschrocken, denn durchgebrochen muß endlich werden!" Mit Begeisterung feierte er Arminius, den Vorkämpfer Germaniens gegen Rom, der eben 1519 durch die erste Ausgabe des Tacitus bekannt wurde.

Luther dankte Gott, daß er Deutschland ein junges edles Blut zum Haupt gegeben, und damit viel Herzen zu großer Hoffnung erweckt!" Die edelsten deutschen Kaiser seien durch römische List zu Grunde gerichtet, die Päpste hätten sich alle kaiserlichen Rechte angemaßt. „Also find wir Deutschen hübsch Deutsch gelehrt: da wir vermeint, Herren zu werden, find wir Knechte geworden, haben den Namen, Titel und Wappen des Kaiserthums, aber den Schatz und Gewalt desselben hat der Bapst: so frißt er den Kern, wir spielen mit den ledigen Schalen!" Er fordert den Papst auf, den angemaßten weltlichen Besitz wieder herauszugeben.

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Die Bannbulle, welche der Papst darauf gegen ihn schleuderte, warf Luther öffentlich ins Feuer. Ein allgemeiner Jubel erhob sich in Deutschland. Lucas Cranach in Wittenberg verhöhnte den Papst in einer Reihe satirischer Zeichnungen; Albrecht Dürer in Nürnberg bekannte sich rückhaltlos zur neuen Lehre; Hans Sachs, der letzte Meisterfänger, zeugte froh von der Wittenbergisch Nachtigal, die man hört fingen überall!" Die Humanisten strömten dem Wittenberger zu. Er hatte ausgesprochen, was Fürsten, Städte und Ritter als geheimen Wunsch im Herzen trugen: los von Rom! Los von den Dunkelmännern, von wälschem Betrug! Die Nation, voran der Kaiser, sollte Deutschland wie in der Zeit der Hohenstaufen wieder zu Ehren bringen. Es war für Deutschland, in einer Zeit, wo der Trieb, sich staatlich zu gestalten, alle Nationen beherrschte, ein welthistorischer Moment. Was für eine

Macht hinter dem Reformator stand, zeigte sein Triumphzug, als er in Worms sich verantworten sollte.

Die Antwort des Kaisers war 26. Mai 1521 die Reichsacht über Luther. Damit war die nationale Richtung der Reformation aufgegeben, die kirchliche trat ausschließlich in den Vordergrund.

Luther war ein Sohn des Volks, aufgewachsen in bergmännischen Ueberlieferungen, die noch auf das alte Heidenthum zurückführten. Aber er war zugleich inbrünstiger Christ. Er entsetzte sich, als er in Rom die allgemeine Lüge mit Augen sah. Bald erkannte er den Krebsschaden, die Werkheiligkeit.

Die Rechtfertigung durch gute Werke" sezt voraus, daß sich das Leben in Stücke theilen lasse. Für das Gefühl des Deutschen ist das Leben vielmehr eine Einheit. Er will sein Gewissen, das Zeugniß seiner freien Persönlichkeit, in sich selbst haben, wenn es ihm auch arge Qualen bereitet; er will sein eigner Richter sein. Für ihn ist nicht diese oder jene Handlung, sondern der innerste Kern der Persönlichkeit das Entscheidende, in dem die unsterbliche Seele begnadet oder verworfen ist; kein reinigendes Fegefeuer rettet ihn aus der Hölle des Selbstbewußtseins. Aus sich selbst heraus will die Seele ihr Göttliches, ihren Glauben sich schaffen, im harten Ringen mit Gott; sie ist etwas Ganzes, sie hat in sich einen idealen Gehalt.

Gute Werke haben nicht die Kraft, gethanes Böse aufzuheben. Die Person bleibt, was sie ist: ihre Thaten, wie sie aus dem innersten Kern des Lebens hervorgegangen sind, bleiben ewig wie dieser, sie sind nicht wegzuwischen aus dem Buch des Lebens und der Schuld.

Tief durchdrungen von der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur, war Luther ebenso tief durchdrungen von der Thatsache der Erlösung: aber diese sich anzueignen, bleibt die Aufgabe jedes Einzelnen, kein Andrer kann ihm dabei zu Hülfe kommen. Nur der Glaube macht selig, und der rechte Glaube will in schweren Kämpfen erworben sein. Das Leben jedes Christen, nicht blos des Geistlichen, sollte ein unausgesetztes Gebet sein, nicht ein Gebet wie das frühere „gute Werk“, so und soviel Ave Maria, Paternoster u. s. w., sondern ein aus dem innersten Kern der Seele hervorquellendes, gewaltiges Gebet, ein Ringen mit dem Herrn, in Furcht und Zittern, aber doch mit dem vollen Gefühl der Willenskraft. Der Glaube ist die höchste Action des Gemüths, die volle Ent

faltung der Seele zu einem gewaltigen Willensact, dessen einziger Inhalt das Ergreifen der Erlösung ist. Nur ein solcher Glaube thut Wunder.

Es war hart für die Menschen des 16. Jahrhunderts, die Glaubensund Gewissenspflichten, die sie bisher äußerlich überkommen, nun aus der Tiefe der Seele zu schöpfen. Was war da alles zu erwägen, und wie wenig wurde man fertig! Der fröhliche Leichtsinn im Thun und Genießen hörte auf. Grade weil der Glaube eine Erhebung des Gemüths sein soll, tritt dann immer wieder eine Abspannung ein, die als Unglaube, als Zweifel, als Versuchung des Teufels empfunden wird. Der Zweifel richtet sich nicht nur nach vorwärts, sondern auch nach rückwärts: die Integrität der Person in allem früheren und späteren Thun, Denken und Empfinden bleibt immer gegenwärtig, das Gewissen kommt bei dem gläubigen Protestanten nie zur Ruhe.

Erst nach schweren innern Kämpfen klärte sich in Luther der Instinct der deutschen Natur zu einem neuen freudigen Glauben. Das Heilige darf dem Natürlichen nicht widersprechen, es muß wirklich sein, es muß sich zur Sittlichkeit gestalten. Haus und Familie, Weib und Kind müssen geheiligt werden; das Gelübde, das sie ausschließt, ist ungültig, die Lehre, die das Theuerste des Menschen verdammt, ist falsch. Eine echte Pflicht muß Pflicht für alle, die Pflicht des Cälibats kann also kein Gebot Gottes sein. Grade weil sein Glaube mit dem Gewissen eng verschmolzen war, weil es Luther ernst nahm mit der Regel seines Lebens, fühlte er die Pflicht, dem in die Irre geführten Volk ein Beispiel zu geben, und der ehmalige Mönch nahm troß seines alten Gelübdes ein Weib.

Freilich scheint es ein Widerspruch, wenn Luther einmal die Natur als verderbt ansah und ihre Stimme als die des Teufels scheute, und dann den Inhalt der Natur in die Pflichtenlehre aufnahm: aber solche Widersprüche bezeichnen das Leben jedes großen und vollen Menschen. Bei Luther ist das eine nie vom andern gesondert: wenn er seinen Kindern heitre Mährchen erzählt oder mit seiner Käthe scherzt, ja selbst beim Glase Wein verschwindet nie der Hintergrund der Frömmigkeit, und wenn er grimmig gegen den Fürsten dieser Welt zu Felde zieht, kann er nicht ganz den Schalk unterdrücken, der allenfalls auch spotten möchte.

Es ist das Bild eines vollen deutschen Mannes, wie es die Geschichte kaum wieder bietet. Diese Freigebigkeit eines reichen Herzens, diese herzliche Fröhlichkeit, welche die Welt durchleuchtet, und dahinter

Julian Schmidt, Litteratur. I.

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