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ihrer ganzen Fülle einheitlich zu durchdringen. Und wenn Friedrich Nietzsche zuweilen mit unerhörtem Tiefblick einzelne geschichtliche Erscheinungen allumfassend zu ergründen versuchte, indem nicht allein ihre lichte und anlockende Seite gesehen, sondern auch ihre Verwurzelung im Nächtigen, Abgründigen enthüllt wird: die Geschichte als ein Ganzes in solcher Weise zu beleuchten, fehlte ihm, dem ewig sich Wandelnden, die Kraft.

Alle diese geschichtsphilosophischen Versuche vergewaltigen, oft in einer unerhörten Weise, das Leben der Völker. Wo, wie bei den jüdi schen Propheten, bei Hesiod, bei Augustin und den mittelalterlichen Geschichtsphilosophen, bei den deutschen Idealisten, bei Saint-Simon und Karl Marx und vielen anderen, die Sehnsucht nach einer Zeit der Vollkommenheit und Freiheit den deutenden Geist beflügelt, da legt sich ein trüber Schleier über die Vergangenheit, mögen auch gelegentlich durch ihn farbige, leuchtende Bilder dringen: die Vergangenheit gilt als ein Unvollkommenes, nicht als das wahre, den Geist befriedigende Leben. Nächtige Gemälde von Chaos, Druck, Not werden entworfen, ja, die Anschauung wird zuweilen vertreten, daß, bevor die Weltwende eintritt, die geschichtlichen Wandlungen immer tiefer in den Abgrund führen, als ob ein böser Geist die Menschen in die Irre, in den Sumpf des Verderbens führe. Und wo, wie im deutschen Idealismus, die Anschauung vorherrscht, daß der Geist des Fortschrittes den Geschichtsverlauf durchwalte, da gilt auch die Vergangenheit, mögen auch einmal herrliche Bildwerke den Blick bannen, als Ankündigung erst des Vollkommenen, nur daß die düsteren Wolken, je weiter der Schritt des Historikers vordringt, zurückweichen, bis dann in der Zeit einer sehnsüchtig erwarteten Weltwende der gute Genius des Lebens mit seinen Fittichen die Dünste verscheucht und dem Lichte Eingang verschafft, daß es verkläre alle Weiten.

Eine solche Betrachtung, die dem Geschichtsphilosophen erst ein Wohlgefühl einbringt, wenn sein Auge auf den Glanzwerken des Erhabenen und Schönen ruhen kann, geht von einer falschen Auffassung des Lebens aus, und zum Ruhm der erhabenen Frommen, der großen Künstler auch gehört es, daß sie in einer unverfälschten Weise das Leben in ihre Werke gebannt haben. In die Denkmale der chinesischen, der indischen, der persischen und der jüdisch-christlichen Frömmigkeit, in die Poesie der großen griechischen Tragiker, in die Gotik, die Werke Dantes, Michelangelos, Shakespeares, Rembrandts, Beethovens, Goethes,

Nietzsches

um nur auf ganz große Erscheinungen hinzuweisen

in diese Werke ist es mit schauerlichem Merkzeichen eingeschrieben, daß das Leben, raubt man ihm den düsteren, nächtigen Untergrund, der so entsetzensvoll auf die Historiker eindringt, eine Sinnlosigkeit, die ewige Leere ist: daß also zum Licht das Chaos gehört, soll es seine Macht entfalten. Wohlan, Goethe und nach ihm der als Kulturpsychologe unvergleichliche Nietzsche haben es klar erkannt: daß das Leben in Bezügen besteht, das es nicht lediglich nach einer Richtung hin, gleichsam wie ein Lichtstrahl, flutet und sich entfaltet, sondern in eine Atmosphäre einbezogen ist, in der die Finsternis und das Licht ewig miteinander streiten; daß, wenn goldene, im Sonnenglanz funkelnde Gestalten aufstrahlen, die bannende Pracht ein Sieg des Lichtes ist über nächtige, hemmende Gewalten.

In unvergleichlicher Klarheit hat Goethe diese Erkenntnis, die für den Historiker ein Forschungsprinzip ersten Ranges bildet, festgehalten. Sie liegt einmal seinen naturwissenschaftlichen Forschungen zugrunde und macht das immer wieder betonte Eigenste seines Verfahrens aus. Führen wir am besten einige bezeichnende Stellen aus Goethes wissenschaftlichen Werken an. Immer ist sein Auge auf das Urphänomen gerichtet, aus dem die Lebenserscheinungen der Natur ihren Gehalt schöpfen, und so unternimmt er es denn, den Rhythmus, der die Entfaltung dieses Urprinzips ausmacht, zu umschreiben.

In seiner naiven Weise bezeichnet er einmal die Farben als „Taten des Lichts, Taten und Leiden." Auf den Kampf des Lichts mit der Finsternis führt er die Farben zurück, und bald hat das Licht, bald das Nächtige das Übergewicht.,,So mannigfaltig, so verwickelt und unverständlich uns oft diese Sprache scheinen mag, so bleiben doch ihre Elemente immer dieselbigen. Mit leisem Gewicht und Gegengewicht wägt sich die Natur hin und her, und so entsteht ein Hüben und Drüben, ein Oben und Unten, ein Zuvor und Hernach, wodurch alle die Erscheinungen bedingt werden, die uns im Raum und in der Zeit entgegentreten.

Diese allgemeinen Bewegungen und Bestimmungen werden wir auf die verschiedenste Weise gewahr, bald als ein einfaches Abstoßen und Anziehen, bald als ein aufblinkendes und verschwindendes Licht, als Bewegung der Luft, als Erschütterung des Körpers, als Säurung und Entsäurung; jedoch immer als verbindend oder trennend, das Dasein bewegend und irgend eine Art von Leben befördernd.

Indem man aber jenes Gewicht und Gegengewicht von ungleicher Wirkung zu finden glaubt, so hat man auch dieses Verhältnis zu bezeichnen versucht. Man hat ein Mehr und Weniger, ein Wirken ein Widerstreben, ein Tun ein Leiden, ein Vordringendes ein Zurückhaltendes, ein Heftiges ein Mäßigendes, ein Männliches ein Weibliches überall gemerkt und genannt; und so entsteht eine Sprache, eine Symbolik, die man auf ähnliche Fälle als Gleichnis, als nahverwandten Ausdruck, als unmittelbar passendes Wort anwenden und benutzen mag.“

Alles dies gilt von der Natur schlechthin und so von den Farben im Besonderen. Hier ist das Leben der Natur erfaßt als ein in Bezügen sich vollziehendes Geschehen, und in leisen Anklängen meldet sich eine seelische Deutung: von Taten und Leiden ist die Rede, von einem Heftigen und Mäßigen, von einem Männlichen und Weiblichen, von einem Aktiven und Passiven. Soll eine Farbe entstehen, so sind unbedingt Gegensätze vonnöten, es wird zur Erzeugung der Farbe Licht und Finsternis, Helles und Dunkles oder, wenn man sich einer allgemeineren Formel bedienen will, Licht und Nichtlicht gefordert."

Immer wieder sucht Goethe das,,Werdende, Wachsende, Bewegliche, der Umwendung Fähige" anschaulich zu erfassen im Bilde der Systole und Diastole. Alles, was erscheint, muß andeuten „eine ursprüngliche Entzweiung, die einer Vereinigung fähig ist, oder eine ursprüngliche Einheit, die zur Entzweiung gelangt.... Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind." Auch im Bilde der Polarität sucht sich Goethe die Entfaltung des Urphänomens klar zu machen, jenen Vorgang, dem zufolge ,,die Einheit sich in Zweiheit selbst auseinanderlege", jenes Wechselleben, das in allen Erscheinungen der Natur hervortritt und sich als „,immerwährendes Anziehen und AbstoBen“ kundgibt. Er ruft die Poesie zu Hilfe, um das schwer zu Fassende in bildkräftiger Form auszusprechen:

,,So schauet mit bescheid'nem Blick
Der ewigen Weberin Meisterstück,
Wie ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein hinüber herüber schießen,

Die Fäden sich begegnend fließen,

Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt;
Das hat sie nicht zusammengebettelt,

2 Muckle, Jüdische Kultur

Sie hat's von Ewigkeit angezettelt,
Damit der ewige Meistermann

Getrost den Einschlag werfen kann.“

Und so hat es denn Goethe unternommen, die Urpolarität der Vorgänge jener Reiche der Natur zu erweisen, in die er sich voll Eroberermut hineinwagte: die ewige Formel des Lebens, die Systole und Diastole kündet sich ihm auf dem Gebiet der Farbenerscheinungen als der nie rastende Kampf zwischen Licht und Finsternis; die Entwicklung der Pflanze aus dem Urphänomen, der Urpflanze, offenbart sich ihm im Wechsel von Zusammenziehung und Ausdehnung; die ins Unendliche gehende Veränderung des allgemeinen Typus im Tierreich spricht sich darin aus,,,daß die Mannigfaltigkeit der Gestalt" entsteht, indem „,diesem oder jenem Teil ein Übergewicht über die anderen zugestanden wird." Die atmosphärischen Erscheinungen werden ebenfalls auf gegensätzliche Kräfte zurückgeführt: von einem Wettstreit der Atmosphäre wird ausgegangen, den sie,,mit Dunst und Nebel und Wolken aller Art zu bestehen hat."

Bei der Betrachtung der einzelnen, ihn gerade fesselnden Reiche der Natur bleibt jedoch Goethe nicht stehen. Auch die Natur als ein Ganzes, die ungeheure Welt, die uns mit ihren Schrecken und Herrlichkeiten umfängt, will er betrachtet wissen als Wirkungsstätte eines Urlebendigen, so daß ein in immer neuen Farben sich äußerndes Leben begriffen wird gemäß den Atemzügen einer gewaltigen Systole und Diastole. Wie, mag man vielleicht einwenden, weilt denn das Auge Goethes auf der Natur nicht wie auf einer vollkommenen, vom Hauch der Gottheit bewegten Welt, die dem Menschen, gibt er sich ihr hin, die Bande der Erdenschwere abnimmt und ihn erschauern läßt in Hochgefühlen des Friedens und der Erlösung? Hat nicht gerade Goethe seine Meisterschaft darin erreicht, als ein wahrer Zauberer im Reiche des Geistes, als der große Dichter, den wir alle verehren, die Natur aufleuchten zu lassen in göttlicher Hoheit; ist denn bei ihm die Natur nicht geschwellt mit göttlicher Fülle, daß der Mensch ausbricht in Preis und Dank? Wir werden es noch sehen, daß Goethe gewiß der Natur solche Weihe verleiht, und gemäß unserer geschichtsphilosophischen Methode, deren Begründung sich der Leser immer mehr nähert, wird leicht zu zeigen sein, wie wir in dieser Verklärung der Natur das Walten des Ewig-Einen, von dem wir ausgehen als dem Quellgrund alles Lebens, belauschen können. Aber wie oberflächlich ist es, zu sagen,

Goethe wäre Pantheist in dem Sinne, daß er die Natur lediglich als der Gottheit lebendiges Kleid, lediglich als das herrliche Königreich des Ewigen kenne! Er kennt, und seine Schriften bieten manches Zeugnis dafür, die Natur auch als eine Welt wilder, dämonischer Kräfte, die wie in einem unheimlichen Abgrund, gleich den titanischen Gewalten. des Mythus, in der Wut der Zerstörung Felsen auf Felsen türmen, ungebändigt in die Bezirke gestalteten Lebens einbrechen, und, wenn einmal ihr Rasen nachgelassen, lauern, um wieder ihr grauenvolles Spiel zu spielen. Auch die Natur als Ganzes ist webendes, wechselndes und zwar in Gegensätzen sich entfaltendes Leben, und nicht immer ist es ein göttlicher Geist, der den Menschen hier besänftigend, erhebend anweht. Nein, verblassen, völlig verschwinden kann das Glanzbild des Ewigen, von zerstörenden Kräften überwältigt.

„Warum verbirgst du hinter düstern Teppichen
Dein Antlitz, deiner Sterne strahlende Heiterkeit?
Ist es dein ewiger Wille? Sind es der Natur
Unbänd'ge taube Kräfte, die im Widerstreit,
Dein Werk zerstörend, uns zerknirschen?"

Goethe kennt eine Anschauung von der Natur, die diese als eine von ewiger Harmonie erfüllte Welt einfach nicht gelten läßt: eine Natur, die von der Gottheit getrennt ist wie die Finsternis vom Licht. Auch hier wirkt sich das Leben in der Form der Systole und Diastole aus, indem die,,Gott-Natur" und die Natur als Reich Luzifers, des finsteren Dämons, in einem ewigen Ringen begriffen sind, in welchem bald das Licht als die ordnende, bändigende göttliche Kraft, bald die Finsternis, das Chaos, das Übergewicht bekommt. Eine Gottheit, die beständig im Glanze der Vollkommenheit schwebt und in sich selbst ruht, indem ihre Herrlichkeit gleichsam aus ihrer eigenen Tiefe quillt, ist für Goethe, den Forscher, ein Undenkbares: ein Trugbild, das einfach nicht zu fassen. Auch die Gottheit braucht, soll ihr Wesen zur Erscheinung gelangen, ein Material, einen Gegner gleichsam, um an ihm kämpfend ihre Kraft zu entfalten. Dieser Gegner, der Urfeind alles gestalteten Lebens, ist der Fürst des Chaos, Luzifer, und Grauen herrscht, wo er allein gebietet, während die Gottheit, wenn sie mit der Sonnenmacht ihrer Liebe auf ihn eindringt, all jene Wunder schafft, die der Mensch verehrt und anstaunt als Botschaften aus der Höhe. Wenn Gott, wie es der Mensch in Stunden der Andacht immer wieder erfährt, die Liebe, die Harmonie ist, wie könnte ein solcher Gott seine Größe und Herrlichkeit offenbaren, wäre nicht

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