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Das Testament Peters des Grossen.

Von

E. Kruska,
Landgerichtsrat.

Wenn die Frage nach einem Testamente des Neugründers des russischen Reichs ihre Erörterung gefunden hat, so ist dies natürlich nicht wegen seines etwaigen privatrechtlichen Inhalts geschehen, sondern wegen des angeblichen politischen Vermächtnisses, das Peter der Grosse darin seinen Nachfolgern - ähnlich anderen hervorragenden Herrschern und Staatsmännern -- hinterlassen haben soll. Die Gegner Russlands haben stets darauf Bezug genommen, wenn es galt, die Gefährlichkeit seiner Politik und sein bereits von jenem gewaltigen Monarchen fest entworfenes Welteroberungs-Programm darzuthun1). Umgekehrt lag es in Russlands Interesse, das Vorhandensein eines solchen Dokuments in das Reich der Fabel zu verweisen, um den Glauben an die Redlichkeit seiner Absichten zu erwecken oder zu stärken. Dem Rigaer Stadtbibliothekar Dr. G. Berkholz ist es nun in der That

1) So noch im Jahre 1876, als Russland nach dem unglücklichen Ausgange des von Serbien gegen die Türkei unternommenen Feldzuges, für ersteres eintrat. Vgl. den Leitartikel der Schlesischen Zeitung vom 17. November 1876: . . Unsere türkenfreundlichen Organe, die nichts Anderes kennen, als das Phantasiegebilde des Testaments Peters des Grossen etc.

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gelungen, zur Evidenz den Nachweis zu führen, dass dasjenige Schriftstück, das als Testament Peters des Grossen die Runde gemacht hat, keinenfalls von diesem herrühren kann, zunächst in einem in der Baltischen Wochenschrift im Jahre 1859 veröffentlichten Aufsatz), später in einer 1863 zu Brüssel in französischer Sprache erschienenen Broschüre3). Während die erstere Arbeit der Kern der späteren Publikation - einen rein wissenschaftlichen Charakter trägt und sich damit begnügt, jenes sogenannte Testament als ein Erzeugnis der französischen Diplomatie hinzustellen, die vor dem Feldzuge des Jahres 1812 Stimmung gegen Russland machen wollte, verfolgt die Brüsseler Broschüre offenbar noch einen politischen Zweck. Der Verfasser versichert zwar im Eingang der Abhandlung, er wolle nicht in die Diskussion einer politischen Frage eintreten, sondern nur einen dunklen Punkt in der modernen Geschichte aufhellen; trotzdem ergiebt eine nähere Betrachtung der der eigentlichen Abhandlung voraufgehenden Einleitung aus der damaligen politischen Weltlage deutlich die politische Tendenz neben dem wissenschaftlichen Interesse. Berkholz knüpft an die systematische Beeinflussung und Irreleitung der öffentlichen Meinung durch die Presse unter dem zweiten Kaiserreich an. Indem er der Meinung ist, dass der Neffe, wenn er in dieser Hinsicht seinen grossen Oheim auch nicht erreiche, doch ein Schüler des letzteren sei, der dies System sozusagen erfunden habe, geht er zu der, seiner Meinung nach, grossartigsten Geschichtsfälschung über, die zur Irreleitung der öffentlichen Meinung begangen worden sei. In Russland selbst habe zwar niemand je an dies sogenannte Testament Peters des Grossen geglaubt und auch in Deutschland sei zur Zeit wohl die gleiche Anschauung verbreitet. In Frankreich dagegen glaube man noch an jene Fabel, und wenn auch neuerdings sich ein dortiger Schriftsteller) zu einem Zweifel an der Echtheit

2) Baltische Monatsschrift, Band I S. 61-72 Riga 1859.

3) Napoléon I., auteur du testament de Pierre le Grand. Bruxelles 1863; à l'office de publicité 30, montagne de la cour.

4) M. Schnitzler: La mission de l'empereur Alexandre II. et le général Rostoftsof. Paris 1860 p. 151.

dieses Dokuments verstiegen habe, so sei er darüber doch nicht hinausgegangen. Deswegen lasse er seine Abhandlung auch in französischer Sprache erscheinen, um gerade den Lesern der grande nation darzuthun, dass die Ehre dieser Erfindung dem schöpferischen Genius eines Franzosen und zwar gerade Napoleon I. gebühre.

Mit einer rein wissenschaftlichen Abhandlung hat diese Polemik gegen das napoleonische System der offiziellen Presse und der Appell an die französische Nation offenbar nichts zu thun; beides wird aber verständlich, wenn man daran denkt, dass im Jahre 1863 der polnische Aufstand ausgebrochen war und dass zwar die preussische Regierung sich beeilt hatte, in der Warschauer Convention vom 8. Februar mit Russland zum Schutze der beiderseitigen Grenzgebiete gemeinsame Sache zu machen, dass aber dieser Schritt nicht nur bereits im preussischen Abgeordnetenhause den lebhaftesten Widerspruch erfuhr, sondern dass überhaupt die Sympathieen von ganz Europa mehr oder weniger auf Seiten der Polen standen, die gerade von Frankreich thätige Hilfe erwarteten. Die Westmächte, denen sich auch Oesterreich anschloss, intervenierten zu ihren Gunsten bei der russischen Regierung, von der die Wiederherstellung Polens nach Massgabe der Verträge von 1815, d. h. also eines Königreiches mit mehr oder weniger lockerer Personalunion, verlangt wurde. Zwar blieb es trotz der entschiedenen Ablehnung Russlands und trotz seiner im Verlauf des Aufstandes immer klarer zu Tage tretenden Absicht der völligen Incorporierung Polens, nur bei dem diplomatischen Notenwechsel, indessen war die Situation zeitweise doch eine recht gespannte und namentlich in Frankreich, dem Zufluchtsort der polnischen Emigranten, wo die Kaiserin und deren Anhang den Aufstand geradezu schüren halfen3), trug man sich mit Kriegsgedanken. Eine französisch-schwedische Landung an der russischen Ostseeküste oder diejenige

5) Vgl. Herzog Ernst II.: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben, III p. 271. Berlin, Wilhelm Herz, 1889.

eines französischen Truppenkorps in Triest, um von dort aus gemeinsam mit den Oesterreichern nach Polen zu marschieren, sollen damals seitens jener Partei geplant worden sein“). Mochte Russland sich auch von einer ernstlichen Kriegsgefahr noch nicht bedroht fühlen, so lag es doch jedenfalls in seinem Interesse, bei den europäischen Grossmächten den Verdacht zu beseitigen, als handele es sich bei der völligen Einverleibung Polens und der Nichtbeachtung der Forderungen der Westmächte nicht um eine rein interne durch das Verhalten Polens selbst veranlasste Massnahme, sondern um den Beginn einer neuen auf die Wiederherstellung des ehemaligen Prestiges Russlands gerichteten Politik, das durch den Krimkrieg und den Pariser Frieden von 1856 gebrochen worden war. Dazu erschien gerade der Nachweis geeignet, dass ein historisches Dokument, welches den russischen Herrschern die Weltherrschaft und als Etappe dazu die Unterwerfung Polens als unverrückbar im Auge zu behaltendes Ziel vorschreibt, in das Reich der Fabel und Erfindung gehöre. Charakteristisch ist dann auch, wie gerade die Ungefährlichkeit Russlands betont wird durch die Bemerkung, dass zur Zeit die Welt viel mehr von der Zerstückelung desselben träume, als dessen Vergrösserungsgelüste fürchte'). Schliesslich scheint auch der Ort der Veröffentlichung der Broschüre kein zufälliger zu sein, da in Brüssel die Zeitung „le Nord“ erschien, die von der russischen Regierung inspiriert wurde und ihren Interessen diente. Geht man daher nicht fehl, der im Jahre 1863 erschienenen Broschüre den Charakter einer politischen Gelegenheitsschrift zuzusprechen, so verlieren dadurch jedoch ihre Ausführungen im wesentlichen nichts von der überzeugenden Wirkung. Einigermassen gewagt erscheinen höchstens die letzten bezüglich der Person des Fälschers ge

6) Vgl. Constantin Bulle: Geschichte des 2. Kaiserreichs u. d. Kgr. Italien, p. 324 ff. (Oncken, Allg. Weltgesch. in Einzeldarstellungen, IV. Hauptabteilung No. 3).

7) A l'heure qu'il est, le monde est loin d'appréhender les projets de conquête de la Russie: ce n'est plus son aggrandissement, que l'on craint, mais son démembrement, que l'on rêve. Berkholz, S. 8.

zogenen Schlüsse, die gleichzeitig wohl von dem Gedanken beeinflusst sind, in der direkten Beschuldigung Napoleons I. als solchen, dem Publikum etwas recht Frappantes und Ueberraschendes zu bieten, ein Gedanke, der jedenfalls auch bei der Titelfassung vorgewaltet hat.

Das Werk, in dem zum ersten Male geradezu von einem Testament Peters des Grossen die Rede ist, sind die von einem gewissen Gaillardet zu Paris im Jahre 1836 herausgegebenen Memoiren des Chevalier d'Eon). Der Chevalier d'Eon ist in der diplomatischen Geschichte eine einigermassen mysteriöse Persönlichkeit, berühmt dadurch, dass er Jahre lang auf Befehl der französischen Könige Louis XV. und XVI. Frauenkleider tragen musste, ohne dass Grund und Zweck dieser Massregel näher aufgeklärt worden sind. Anknüpfend an diese Thatsache hat sich eine Meinung gebildet, die sich z. B. noch in der Encyklopädie von Ersch und Gruber vertreten findet, der Chevalier sei überhaupt kein Mann gewesen, sondern lediglich ein verkapptes Mädchen, das mit Rücksicht auf eine Erbschaft, die sonst der Familie entgangen wäre, als Knabe erzogen worden und dessen wahres Geschlecht erst entdeckt worden sei, nachdem er schon eine glänzende diplomatische Laufbahn hinter sich hatte. Gegenwärtig indes wird auf Grund des Zeugnisses des Leibchirurgen Ludwigs XVIII., der nach dem Tode des Chevaliers im Jahre 1810 der Sektion der Leiche beiwohnte, wohl allgemein angenommen, d'Eon sei in der That ein Mann gewesen. Die in den obenerwähnten Memoiren sich findende Erzählung, er sei auf höchsteigene Anordnung Louis XV. in seiner Frauenverkleidung bei der Kaiserin Elisabeth von Russland als Vorleserin eingeschmuggelt worden), die an das spätere Gebot der Frauenkleidung anknüpft, verweist man in das Gebiet der

8) Mémoires du Chevalier d'Eon publiés pour la première fois sur les papiers fournis par sa famille et par les matériaux authentiques deposés aux archives des affaires étrangères par Frédéric Gaillardet, auteur de la Tour de Nesle.

9) Vgl. d. Aufsatz von Georg Hiltl, Gartenlaube 1854. S. 362-367 mit Abbildung.

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