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wenigstens heute ihm aus dem Wege und auf mein Zimmer zu gehen.

Unterdessen waren die ersten Gäste eingetreten, denen bald andere und andere folgten. Die Gesellschaft war heute Abend ganz besonders zahlreich. Das neue Abgeordnetenhaus war eben zusammengetreten, und es waren sofort einige wichtige Dinge angeregt worden, über die man sich auf einem neutralen Boden freimüthig auszusprechen wünschte. Um diese ernsteren Gruppen, die heute ihre Pläge besonders standhaft behaupteten, bewegten sich im bunten Durcheinander die munteren Schaaren der Vielen, die sich nur angenehm unterhalten wollten - Herren, wie Damen, plaudernd, scherzend, mit verbindlichen Manieren und mit wohlwollendem Ausdruck auf den lächelnden Gesichtern.

Nur auf Silvia's schöner Stirn lag es wie eine dunkle Wolke; selbst die wißigsten, geistvollsten Bemerkungen bes deutender Männer und diese drängten sich vorzüglich gern in ihre Nähe - konnten ihr heute keine der treffenden Antworten, keines jener hübschen bezeichnenden Worte, die ihr sonst in Fülle zu Gebote standen, ja kaum ein Lächeln entlocken. Doctor Paulus, der Arzt des Hauses, der sich sonst ihrer besondern Gunst erfreute, wagte, auf ihre Schweigsamkeit anspielend, an das horazische Wort zu erinnern, daß Apollo nicht immer den Bogen spanne, und war nicht wenig erstaunt, ja erschrocken, als Silvia, wie aus einem Traum erwachend, mit einem fast zornigen Licht in den ausdrucksvollen Augen erwiederte: der Bogen des Apollo erinnere sie an den Bogen in der Lessing'schen Fabel, der von dem Künstler so fein geschnitzt wurde, daß er, als jener ihn spannen wollte, zerbrach. -Das ist das Bild unserer heutigen Menschen, rief fie; Jeder von uns, ohne Ausnahme, gleicht diesem verschnigelten Bogen, der zu nichts in der Welt gut ist, als ihn in einem Salon als Zierrath_aufzuhängen.

Sie trat aus dem Kreise, der sie umgeben hatte, heraus und setzte sich auf ein kleines Sopha in der Nähe des

Fensters, wohin ihr Niemand so leicht folgen konnte, neben eine alte, gutmüthige Dame, die sofort in ihrer behaglichen Weise ein Gespräch anfing, dessen Kosten sie gern allein übernahm. Aber der blecherne Klang der schwaßlustigen Stimme neben ihr berührte nur eben Silvia's Ohr; durch ihre Seele zogen düstere Gedanken wie dunkle Wolken, die, mit jedem Augenblick ihre phantastische Gestalt verändernd, über einen heißen Sommernachmittagshimmel ziehen. Vor ihrem starren Blick verschwamm die sich vielfach bewegende Menge zu einem leeren Schattenspiel, und zulegt sah sie nichts mehr von alledem, was um sie her war. Im Geiste war fie bei den Stätten ihrer Kindheit dem lieben alten

Hause auf der Waldwiese, dem lauschigen Garten, dem majestätischen Walde, in dem so wunderbare Stille herrschte, daß die Vögel ganz anders sangen, und daß, wenn man die eigene Stimme erhob, sie klang wie die Stimme der Prinzessin im Märchen! O, des Sonnenscheins auf den duftigen Wiesen! Und das Murmeln des Baches über die glatten Kiesel und sein zorniges Donnern die Felsentreppe hinab!

Paradies der Kindheit, das so bald, so bald dem ents zauberten Blicke des heranwachsenden Mädchens entschwand! So hab' ich den Wald zum lezten Male gesehen am Morgen des Tages, an welchem Leo zu uns in's Haus fam; ich weiß es ganz genau, ich hatte mich an dem Morgen bei den Wafferfällen gebadet, und ich war kaum in's Haus zurückgekehrt, als ihn der Vater brachte, bleich und blutend, und darüber merkte die Tante nicht, daß mein Haar noch naß war. Ist es doch, als wenn mit der Gestalt des düstern Knaben ein Schatten in unser Haus und in mein Leben gefallen wäre! Und doch erinnere ich mich, daß er im Anfang in seiner Weise freundlich zu mir war; er lieh mir seine Bücher, er wollte mich sogar lateinisch lehren, und es hat wohl nicht an ihm gelegen, wenn ich nicht mehr gelernt habe; ich dagegen ließ meinen Uebermuth gern an ihm aus, ich nannte ihn den häßlichen Zigeuners jungen, obgleich er eigentlich gar nicht häßlich war. Viel

leicht habe ich es hauptsächlich zu verantworten, wenn wir später immer so schlecht gegen einander standen.

In Erinnerungen verloren saß Silvia da. Die alte Dame an ihrer Seite hatte mit einer andern alten Dame, die sich zu ihr gesellt, zu plaudern begonnen. Silvia blieb ungestört.

Sie fann und sann. Es war, als ob ihr die Tage ihrer Jugend in einem Zauberspiegel vorübergeführt würden Bild an Bild; zuletzt war es die große Buche am Saum des Waldes, wo sie sich mit dem Kronprinzen haschte, der ste küssen wollte und sie gefüßt haben würde, wenn Leo nicht plöglich dazwischen getreten wäre. Warum trat er dazwischen? -Silvia hatte sich in all' den Jahren, die seitdem verflossen waren, nie diese Frage vorgelegt, wenn fie, was selten genug geschah, an jene wunderliche Scene dachte. Es war eben einer von den vielen, vielen Nebelflecken an dem Sternenhimmel der Kinderzeit. Und heute wußte ste auf einmal den ganzen Zusammenhang; heute sah sie was in den Seelen der Betheiligten in jenen Augenblicken vorgegangen, so klar, als hätte sich die Scene jest, hier vor ihrem durch so viel Beobachtung geschärften Auge ereignet. Sie wußte, daß der Prinz in Haltung, Blick und Ton die Frechheit eines Wüstlings zur Schau getragen; fie wußte, daß Leo, der kluge, stolze, scheue Leo sich nicht in eine Gefahr, die er sehr gut zu schäßen wußte, gestürzt has ben würde, wenn er das kokette Mädchen nicht in seiner knabenhaften Weise geliebt hätte. Ja, ja er hatte sie geliebt; es war das wilde Feuer der Eifersucht gewesen, das in seinen düsteren Augen brannte, als er den Prinzen an den Armen festhielt, während das Blut von seinen Lippen rann.

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In dem traumhaften Zustand, in welchem sich Silvia befand, wirkte diese Entdeckung wie ein Licht, das durch einen plötzlich geöffneten Laden in ein dunkles Zimmer fällt. Sie fuhr erschrocken aus ihrem Brüten auf. Der Zauber, der ste umstrict hatte, war gebrochen; ste hörte wieder die blecherne

Stimme an ihrer Seite, das Summen der conversirenden Gesellschaft; sie sah die lächelnden Herren und Damen sich gegen einander beugen und neigen und mit höflichem Ausweichen aneinander vorüberhuschen — und plößlich sah ste in der Mitte des sehr großen Gemachs, gerade unter dem Kronleuchter, den Freiherrn mit einem jungen Manne sprechen, in dem sie auf den ersten Blick Leo erkannte. Und doch! wie hatte er sich verändert! War es die von oben herabfallende scharfe Beleuchtung, oder war das Gesicht wirklich so blaß und die Züge so plastisch scharf ausgeprägt? Auch mußte er noch gewachsen sein, denn jezt hatte er beinahe die stattliche Größe des Freiherrn, und welche Wandlung war mit dem scheuen, ungelenken Knaben vorgegangen, bis aus ihm der Mann wurde, dessen ruhig - sichere Haltung dem tiefen Ernst seiner Züge entsprach!

Silvia's Blicke blieben auf dieser Gestalt haften; sie merkte mechanisch auf jede seiner Bewegungen, seiner Geberden; sie glaubte zu hören, was er mit dem Freiherrn sprach. Walter trat zu den Beiden mit, wie es schien, vor Freude strahlendem Gesicht; der Freiherr lächelte und machte eine Bewegung, Leo verbeugte sich, Walter faßte ihn unter den Arm und führte ihn in's Nebenzimmer, wo, wie Silvia wußte, Fräulein Charlotte und Amélie waren. Augenscheinscheinlich hatte man sie in ihrer Ecke nicht bemerkt.

Es war dies sehr erklärlich; dennoch kränkte es sie. Sie erhob sich, trat mit raschen Schritten in den Saal und sah sich alsbald von einigen Herren umgeben, die ihr lachend mittheilten, sie hätten eben ein Complot fertig gehabt, sie aus ihrer Ecke heraus zu locken. Silvia ging auf den Scherz ein, und es hatte sich Niemand mehr über ihr düsteres Wesen zu beklagen. Sie lachte und warf die Wigworte, mit denen sie ein wegen seiner Bonmots bekannter Abgeordneter neckte, so geschickt zurück, daß die Unterhaltung in dem kleinen Kreise sich immer lebhafter entzündete und immer mehr Zuhörer heranzog.

Dennoch war Silvia nicht mit ganzer Seele bei der

Unterhaltung. Sie richtete oft den Blick auf die Thür des Nebenzimmers, und wohl Niemand der um sie Versammelten konnte sich die seltsame Blässe erklären, die plößlich ihr Geficht bedeckte. Leo und Walter waren wieder aus dem Nebenzimmer getreten und hatten sich der Gruppe genähert, offenbar in der Absicht, bis zu Silvia durchzudringen. Aber Silvia kam dieser Absicht nicht entgegen; sie wollte nicht sehen, daß Walter ihr gelegentlich einmal mit den Augen winkte; sie hatte so viel zu sagen, zu hören. Leo zuckte die Achseln und wendete sich ab: er hatte es leicht aufgegeben.

Ein paar Musiker waren kühner, als Leo und Walter. Sie machten sich bis zu Silvia Bahn und baten sie im Namen der ganzen Gesellschaft, ein paar Lieder zu singen. Miß Jones, die man davon benachrichtigt, habe bereits ihren Plat am Theetisch mit dem am Flügel vertauscht.

Silvia sagte zu und ging in das Nebenzimmer auf der andern Seite, wo das Instrument stand, und in dem nächsten Augenblicke schon ertönte ihre Stimme, deren starker, edler Klang die hohen Räume ganz erfüllte und das durcheinander schwirrende Gesumm der Conversation wie mit einem Zauber zum Schweigen brachte. Es waren ihr sehr bekannte und sehr liebe Lieder, die sie zu singen hatte; und sie sang mit einem Feuer und einem Ausdruck, der Alle entzückte; aber auf einmal wurde ihre Stimme unsicher, und ein eben angefangenes Lied kurz abbrechend und sich bei den Umstehenden mit einer Heiserkeit, die sich plötzlich eingestellt habe, flüchtig entschuldigend, trat sie schnell von dem Instrumente zurück.

Man überhäufte sie mit den schmeichelhaftesten Lobeserhebungen, die sie nicht ohne sichtbare Ungeduld von sich abwies und an den dabeistehenden bescheidenen Componisten zu richten bat.

Ich weiß nicht, wie Sie gesungen haben, sagte Henri, der eben mit Alfred von Sonnenstein herantrat; denn wir kommen diesen Augenblick, und ich bin deshalb nicht in der glücklichen Lage, in das begeisterte Lob einstimmen zu können. Spielhagen, In Reih' und Glied. I.

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