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Leo hatte Silvia, als sie das Haus des Bankiers verließen, seinen Arm geboten; sie hatte ihn angenommen, obgleich sie es sonst vorzog, allein zu gehen. Die ungewohnte Haltung, die halbe Abhängigkeit von einem Anderen, nach deffen Bewegungen sie ihre Bewegungen abmessen mußte, machte sie befangen, umsomehr, als Leo kein Wort sprach. Sie selbst wußte nicht, was sie sprechen sollte, ob sie sprechen sollte. Dennoch hatte sie schon seit Wochen eine ungestörte Unterredung mit ihrem Vetter auf das Sehnlichste herbeigewünscht; ja, sie hatte Emma's Einladung nur in der unbestimmten Hoffnung, es werde sich diesmal die Gelegenheit zu einer solchen finden, angenommen; sie hatte ihn nach so Vielem zu fragen, ihm so viel zu sagen und nun war ihr die Zunge gefesselt, und die Anstrengung, sich von dem Bann, der auf ihr lag, zu befreien, machte ihr Herz heftig schlagen. Endlich brachte sie die Worte heraus: Warum bist Du in der letzten Zeit so selten zu uns gekommen? Ich war sehr beschäftigt, antwortete Leo.

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Aber Du konntest den Freiherrn besuchen?

Auch nur in geschäftlichen Angelegenheiten, erwiederte Leo und versank dann wieder in seine Gedanken.

Es konnten keine angenehmen Gedanken sein. Silvia hörte, während sie schweigend an seiner Seite weiter schritt, deutlich sein rasches, zorniges Athmen; auch sah sie, indem sie die Augen schüchtern nach ihm wendete, daß sein Gesicht sehr finster und sein Blick unverwandt auf den Boden ge= richtet war. Ein paarmal murmelte er unverständliche Worte durch die festgeschlossenen Zähne.

Warum sprach er nicht zu ihr? Warum theilte er ihr nicht mit, was seine Seele so mächtig bewegte? War sie seines Vertrauens nicht würdig? Hatte sie kein Verständniß für seine Gedanken, seine Pläne? keine Theilnahme für seine Enttäuschungen, seinen Schmerz? Aber was wußte er denn von ihr? Was wußte er davon, daß sie keines der Worte, die er an jenem ersten Abend zu ihr gesprochen, vergessen hatte, daß diese Worte eine Offenbarung für sie gewesen

waren, die Offenbarung eines Lebens, wie sie es sich seit Jahren wünschte, träumte, eines Lebens im Vollen und Ganzen, eines Lebens, dessen mächtige Wogen den Menschen

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gleichviel, ob zu seinem Glück oder Unglück hoch emportragen über die fumpfigen Niederungen, in denen eine freie, große Seele verschmachtet? Was wußte er davon, daß sie ihn mit gespanntester Aufmerksamkeit auf seinem Wege begleitet, jeden seiner Erfolge triumphirend begrüßt hatte? daß sie an ihn glaubte, an die Unermeßlichkeit seiner Kraft, an die Größe seines Geistes, an die Lauterkeit seiner Absichten? vielleicht mehr an ihn glaubte, als er an sich selbst, jedenfalls tausendmal inniger, als die Menschen, die er dennoch seines Vertrauens würdigte, als eine Emma von Sonnenstein zum Beispiel, die damit prahlte, daß sie seine Erfolge gemacht, die sich rühmte, daß sie mit ihm einen geschwisterlichen Bund geschlossen habe? War es möglich? Konnte er, der Kluge, der Menschenkenner, wirklich so blind sein? Ist Emma wirklich Deine Vertraute, Leo?

Silvia hatte die legte Frage laut gethan.

Wer sagt das? erwiederte Leo.

Sie selbst.

Leo lachte bitter. Da könnte ich doch ebenso gut dem schwazhaften Rohr meine Geheimnisse anvertrauen; aber weshalb fragst Du das?

Um Dich zu warnen, falls es nöthig wäre. Ich glaube, daß Du großmüthig genug bist, wie es der Starke immer ist, und daß Du deshalb die Neigung hast, unbedeutende Menschen, wenn sie sich an Dich drängen, höher zu schäßen, als sie verdienen. Um so mehr freue ich mich, daß Du ihr nicht Dein Vertrauen geschenkt hast. Aber, wenn dies nicht der Fall ist, warum verkehrst Du so viel mit ihr, mit ihrem Vater, mit all' diesen Männern, die Dir gar nicht wohl gesinnt scheinen?

Weil ich sie brauche, oder vielmehr, weil ich sie brauchen zu können glaubte. Ja, Silvia, Du hast Recht: es ist eine Thorheit, an diese Menschen zu glauben, in denen der lezte

Funke des heiligen Feuers längst erloschen ist. Kann Asche brennen? Ach, ich habe die ganze Zeit, die ich hier bin, nur in Asche gewühlt, und ich fühle den Geschmack auf meiner Zunge den bitteren Geschmack!

Und kamst mit so großen Hoffnungen hierher, mit solchem Glauben an unser Volk, von dem Du mir an jenem ersten Abend sagtest, daß es allein zur Freiheit berufen sei, weil es allein unter allen Völkern zu denken vermöge!

Das Volk, ja; aber jene Männer, denen ich vorhin sagte, daß sie nicht denken könnten, sie sind nicht das Volk. Sie sind weiter nichts als eine Kaste, die in dem Fortgang unserer Entwickelung vielleicht einmal nothwendig war, die sich aber längst überlebt hat und jezt nur noch die Vernunft zum Unsinn und die Wohlthat zur Plage macht. Sie, die Träger der Intelligenz, der Bildung! Lug und Trug und frevelhafte Anmaßung! Der Schat unserer Bildung, der in den Werken unserer großen Dichter und Denker liegt, ist zu gediegen, zu schwer, als daß solche Hände ihn zu heben vermöchten. Sie haben diesen Schat nicht münzen, sie haben ihn nur falschmünzen und so das arme, bethörte Volk um sein reiches Erbe betrügen können. Welche schwächste Spur der Hoheit und Majestät unserer geistigen Ahnen wäre denn auch in diesen elenden Epigonen! Was haben sie von dem umfassenden weltbürgerlichen Sinn eines Goethe, von dem idealen Pathos eines Schiller, von dem kampffrohen Muthe eines Lessing, von dem protestantischen Troße eines Kant! Daß sie keine Dichter, keine Philosophen sind - ich wäre der Leste, der ihnen das zum Vorwurf machte. Die Zeit braucht keine Dichter und Philosophen! Aber sie braucht Politiker, Staatsmänner, die auf diesem Gebiete das wären, was Jene in den rein geistigen Sphären waren, und wahrlich! noch soll von diesen Menschen der erste Gedanke kommen, durch den sie ihre politische, ihre staatsmännische Mission in jenem großen Verstande documentirten. Nein, wenn wir ihnen folgten, so würden alle Errungenschaften unserer Bildung auf die schmählichste Weise vergantert, wir würden

noch unter das Niveau der übrigen Culturvölker herabges drückt, unter das Joch des schnödesten Materialismus gebeugt werden. Schon triumphiren diese Baalspriester, diese Anbeter des goldenen Kalbes, aber sie triumphiren zu früh. Der Sinn des Volkes ist noch nicht erstorben; sie hoffen und harren, daß der Propheten Einer erstehen und ihnen das Gesetz deuten möge. Und das Gesetz ist für sie. Es will, daß die Niedrigen erhöht und die Hohen erniedrigt werden; es will, daß auch nicht der Geringsten Einer verloren gehe. Das verstehen sie nicht und können sie nicht verstehen. Ich verstehe es, ich fühle es, wie es aus meinem tiefsten Herzensgrunde quillt und immer quilt, oft in qualvollen Tropfen wie aus einer Todeswunde, oft in überfließender Seligkeit, die meine ganze Seele erfüllt. Und wie der Mensch es doch nun einmal nicht weiter bringen kann auf dieser Erde, als dem höchsten Gedanken seines Geistes Ausdruck und Gestalt zu geben, so bei den ewigen Sternen droben, die in demselben Glanze leuchten, wenn unser Leib längst zu Staub zerfallen ist! will ich mein Alles an dies Eine sehen!

Leo hatte, während er so sprach, seine Schritte beschleunigt; Silvia hing an seinem Arm, zitternd vor innerer Bewegung, die Augen voll Thränen der Seligkeit und des Schmerzes. So lebte denn wirklich das Ideal ihrer Träume! Es gab einen Menschen, den das Gemeine nicht bändigte, der mit den ungeheuersten Entwürfen sich trug, wie Andere mit ihren Alltäglichkeiten und dieser Mann war ihr so nahe, sie durfte ihn sehen, hören, sie durfte ihn bewundern, vielleicht mit ihm im Geiste leben. Aber wird er vollenden können, was er begonnen? Wird er nicht zusammenbrechen unter der ungeheuren Last?

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Leo sie sagen, Du sännest auf Unmögliches, Unausführbares; sie sagen, Du lehntest Dich auf gegen den Geist der Zeit und müßtest deshalb zu schlimmen Mitteln greifen. Sagen fie das?

Leo ging eine Zeit lang schweigend weiter, dann fing er mit leiser Stimme wieder an:

Ich frage nicht, Silvia, wer Dir das gesagt hat; ich weiß, wie diese Tugendschwätzer über mich denken, aber ich möchte ungern, daß Du Dir ein falsches Bild von mir und meinen Bestrebungen machtest, und wie kannst Du ein richtiges haben, da Du mich so wenig kennst, da Dir die Dinge, um die es sich handelt, so fremd sind.

Doch vielleicht nicht so fremd, wie Du denkst, fiel ihm Silvia eifrig in die Rede; ich habe sie stockte und fuhr dann in verlegenem Tone fort: ich habe Deine Schriften gelesen, die Du dem Freiherrn geliehen hast, und sonst auch wohl noch eines oder das andere Buch über dieselben Materien. Auch habe ich in diesem Winter die Zeitungen eifrig verfolgt.

In der That, erwiederte Leo, wer hätte geglaubt, daß aus dem romantischen Mädchen sich eine Politikerin entwickeln könnte! Aber freilich, ein ernsthafter Geist muß sich früher oder später den höchsten Fragen, die an den Menschen herantreten können, zuwenden; und wer der Sphing einmal in das räthselhafte Angesicht geschaut hat, den hält ein Zauber gefangen, er muß weiter auf der gefährlichen Bahn hinauf, hinauf, ob auch Dohlen und Raben ihn warnend_umkrächzen, ob auch der Abgrund drohend unter ihm gähnt. Du hast das Geschrei der Unglücksvögel vernommen, Silvia; nun höre auch einmal meine Stimme.

Und Leo begann nun in großen Zügen ein Bild der po= litischen Lage, wie es sich seinem Auge darstellte, zu entwer fen. Er schilderte den Wirrwarr der Parteien, die Ohnmacht, die sich hüben und drüben offenbare, und unter diesen auf der Oberfläche vom Winde hin und her getriebenen, unerquicklich durcheinander rauschenden Wellen das dumpfgährende Meer des Volkes, in dessen Tiefe sich allmälig die ungeheuerste Revolution vorbereite. Er bewies, wie diese nothwendige, unvermeidliche Revolution in ihren Folgen unabsehbar schrecklich sein werde, wenn man ihr nicht entgegen

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