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Und angenommen auch, Walter studirte Theologie und würde ein Prediger des Herrn, ein Verkündiger des Evangeliums so bliebe doch immer die schreckliche Frage: Wer wird an Frigen's Stelle treten, wenn ihn der Tod oder das Alter einmal abrufen? Tante Malchen mußte sich sagen: Ein Fremder wird es thun, ein Unbekannter wird schalten und walten in den durch so viele Erinnerungen, durch das Andenken an geliebte, längst dahingeschiedene Menschen geheiligten Räumen; und sie, die hier geboren war und hier zu sterben gehofft hatte, würde genöthigt sein, ihren Fuß über eine fremde Schwelle zu sehen, ihre Kniee an einem fremden Heerd zu wärmen, ihren leßten Seufzer in einem Zimmer auszuhauchen, in welchem sie vielleicht das Muster der Tapeten nicht einmal genau fannte!

Dieser trübe Gedanke verfolgte die gute Dame bei Tag und bei Nacht, denn sogar in ihre Träume schlich er sich in einer oder der andern Gestalt; und dabei war ihr, als ob das Försterhaus nie so ganz ihre Heimath gewesen sei, als eben jezt, wo sie im Geiste schon von ihm Abschied nahm.

Das traute einstöckige Haus mit dem niedrigen, weitvorspringenden Dache! Die drei Fenster, welche es auf jeder Seite der Thür hatte, standen sämmtlich ein wenig schief, hinüber und herüber, und waren für den Uneingeweihten kaum zu öffnen oder gar nicht zu schließen; aber desto blanker waren die Scheiben und desto weißer die Gardinen. Ueber der Thür erhob sich ein in seiner Spite mit einem mächtigen Hirschgeweih geschmückter Giebel mit noch zwei Fenstern, vor denen große, grün angestrichene Blumenbreter befestigt waren, auf welchen den ganzen Sommer hindurch die schönften Blumen in Töpfen blühten. Diese Giebelstube hatte Tante Malchen seit so langer Zeit bewohnt, sie wußte faum, wie lange. Die Blumenbreter waren ihr vorzüglicher Stolz; aber noch nie, so lange sie zurückdenken konnte, hatten sie in solchem Flor gestanden, wie in diesem Herbst. Sie mußte immer wieder unwillkürlich hinauf blicken, wenn sie des Abends auf der kleinen Wiese, die sich vor dem Hause

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bis an den nahen Wald erstreckte, ihre Promenade machte. Durch wie viele Erinnerungen war diese Wiese geheiligt! Hier hatte sie als kleines Kind mit den Geschwistern um die Kniee der Eltern, um die Kniee des Großvaters, dessen Bild in der Wohnstube über dem Sopha hing, die schönsten Spiele gespielt - im Zwielicht, wenn die Sterne aus dem Blau des Himmels zu funkeln begannen jene Spiele, von deren trauter Heimlichkeit und halb mystischer Seligkeit das kältere Herz der Erwachsenen kaum noch eine Ahnung hat. Hier auf diesem Plage hatte der Frig in jener Schreckensnacht gestanden, als ihn die Franzosen aus dem Hause schleppten. Hier hatte sie zu dreien Malen sich die Trauerzüge ordnen sehen, welche die Särge des Großvaters, des Vaters, der Mutter zum Kirchhof in Tuchheim geleiteten; hier hatte sie die Festtafel hergerichtet, als Frit die Försterstochter aus dem benachbarten Schwarzenbach heimführte, das schöne, blasse, junge Mädchen mit den schönen, sanften, blauen Augen, das fortwährend kränkelte und so bald starb. Da war Tante Malchen nun wieder in ihre alten Rechte eingesezt, und eine wie große, neue, verantwortliche Pflicht mußte sie dazu übernehmen! die Erziehung der armen, so früh der Mutter beraubten Kinder! Hier war endlich für das liebevolle, fleißige, aufopferungsfähige Weib ein schrankenLoses Feld der Wirksamkeit. Nun konnte sie sich plagen, Tage durcharbeiten, Nächte durchwachen, Freuden und Leiden durchkosten und erdulden in dem guten, mitfühlenden Herzen. Aber wie vergalten die Kinder auch ihre unermüdliche Sorge! Gab es einen Jungen wie ihren Walter, einen Jungen mit einem Paar so treuherziger, blauer Augen, der so muthig und so bescheiden, so brav und so gut war! Und Silvia! Die gute Dame verfiel in tiefe Nachdenklichkeit, so oft sie den Versuch machte, den Charakter dieses Kindes zu ergründen. Manchmal glaubte sie den Schlüssel zu dem Räthsel zu haben; aber noch viel öfter mußte sie unter vielem Kopfschütteln sich bekennen, daß sie weiter als je davon entfernt sei.

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Nun hatte Tante Malchen noch ein drittes Pflegekind,

das ihre Sorgenlast wahrlich nicht verringerte. Sie konnte fich des Gedankens nicht erwehren, daß der düstere Knabe, so wenig wie sein Vater, zum Glück geboren sei. Schon daß er die dunklen Augen seiner Mutter hatte, die aus einer böhmischen, zur Zeit des alten Friz in Feldheim eingewanderten Familie stammte, war äußerst bedenklich. Tante Malchen hatte noch nie glückliche Menschen mit schwarzen oder schwarzbraunen Augen gesehen. Der junge königliche Förster Hartwig, der sich vor fünfundzwanzig Jahren in dem benachbarten Nesselbruche erschoß, hatte auffallend dunkle Augen gehabt. Es konnte die Gute bis zu Thränen wehmüthig stimmen, wenn sie Leo's braune Augen oft mit einem seltsam starren und doch unbestimmt ziellosen Blick voll unergründlicher Schwermuth in die Ferne gerichtet sah. War es nicht, als ob der Knabe in solchen Momenten in dem Buche seines Schicksals lese? Sie hatte schon ein paarmal die Karten in die Hand genommen, um endlich einmal zu wissen, wie wenig fie für den armen Jungen zu hoffen, wie viel sie zu fürchten habe; aber immer hatte sie ein geheimnißvoller Schauder verhindert, die Antwort des Orakels abzu

warten.

Sechstes Capitel.

Dennoch waren diese Tage die glücklichsten, welche Leo noch erlebt hatte. Befreit von der fortwährenden Gesellschaft eines vor der Zeit alt gewordenen, kränklichen, grillene haften Mannes, der ihn, ohne es zu wollen und zu wissen, auf das grausamste tyrannisirte; erlöst von einer Lebensweise, die bereits seine kräftige Constitution zu untergraben ange

fangen, fühlte der Knabe etwas von dem trauten Frieden, der über dem Försterhause lag, auch in sein junges Herz einziehen. Und in dem Maße, daß die unnatürliche Anspannung seiner geistigen Kräfte, mit welcher ihn der Vater heimgesucht, nachließ, trat auch die lichtere Seite seines Wesens mehr und mehr hervor. Es war wie mit dem Wetter, das jezt nach einer Periode unerträglicher Hiße, welche häufige und furchtbare Gewitter nicht hatten abkühlen können, eine ungemeine Lieblichkeit und gleichmäßige Milde zeigte.

An solchen schönen Tagen des frühen Herbstes war das Forsthaus von Tuchheim ein entzückender Aufenthalt. In einem Paradiese konnte die Sonne nicht sanfter scheinen, der Himmel nicht reiner, durchsichtiger blauen, als hier. Die alten Eichen und Buchen, welche den Blaß, auf dem das Haus mit den Nebengebäuden lag, umgaben, standen so still da, als hätten sie bereits Abschied genommen von dem Sonnenschein, dessen goldene Lichter noch eben so lieblich in dem dunkelnden Laube spielten, und erwarteten nun in ruhiger Ergebung den Winter, der sie ihres Schmuckes berauben und das Leben in ihnen erstarren würde. In dem Garten hinter dem Hause blühten die Aftern und Georginen, auch noch einzelne Rosensträuche; aber die weißen Sommerfäden, die in der klaren Luft schwebten, sagten, daß die Zeit der Blumen nun unwiederbringlich vorbei sei. Dafür fingen die Aepfel an, durch das spärlichere Laub zu glänzen, und dunkler und dunkler färbten sich die mächtigen Trauben der breitblättrigen Reben, die an den Spalieren der nach Süden gelegenen Giebelwand bis fast auf den First des Daches hinauf rankten.

Diese und die anderen Züge des herbstlichen Angesichts der Natur trugen hier in dieser gänzlichen Abgeschlossenheit ein besonders deutliches Gepräge, und erregten das poetische Gemüth des leidenschaftlichen Knaben, bis es, in bald schwermüthigen, bald heiteren, jezt ruhig klaren, jezt wild verworrenen Weisen zu tönen begann. Besonders des Abends,

wenn die Stimmen der Natur noch vernehmlicher zu seinen aufgeschlossenen Sinnen sprachen, fühlte er sich oft von der sonderbarsten Unruhe erfaßt. Das dumpfe Klappen einer fallenden Frucht, das Säuseln des Nachtwindes in den Blättern, auf denen der Schimmer des Mondes lag, das ferne Geschrei hoch oben in der Luft vorübersegelnder Kraniche - das Alles floß für ihn zu Melodien zusammen, für die er nie vergeblich nach Worten suchte. Oft überraschte es Walter, der mit ihm in derselben Giebelstube schlief, wenn er des Morgens beim Aufstehen auf einem Blatt, das am Abend, als sie zu Bett gingen, rein gewesen war, Verse ge= schrieben fand, die dem gläubigen Knaben das Größte zu sein schienen, was der menschliche Geist jemals ersonnen. Walter dachte nicht daran, Verse zu machen; er hatte keine Ahnung, wie man Verse machen könne, wo Leo all' die herrlichen Worte, all' die tönenden Reime hernahm. Walter kam sich so dumm vor, wenn er sah, wie sein begabter Genoß das Alles nur so spielend hinwarf; öfters betrübte es ihn auch, wenn er Vieles nicht gleich beim ersten Hören vollständig verstand und Manches, troß wiederholter Lectüre, gar nicht verstehen konnte. Aber nie erwachte ein Neidgefühl in seinem Herzen und noch viel weniger ein Zweifel an dem Genie seines Vetters. Es fiel ihm nicht ein, sich zu fragen, ob denn die schönen Phrasen, in die er keinen Sinn hineinbringen konnte, überhaupt einen Sinn hätten. Leo war ihm sein Vorbild, sein Stern, sein Jdeal. Leisten zu können, was Leo leistete, daran dachte Walter so wenig, als mit den Schwalben und Störchen nach Afrika zu fliegen.

So bildete sich zwischen den Knaben immer mehr eine Freundschaft aus, die wenigstens von Walter's Seite aufrichtig und enthusiastisch war und die den auffallendsten Gegensatz des sonderbaren Verhältnisses abgab, welches zwischen Leo und Silvia bestand.

Seit Leo's Ankunft auf dem Försterhause war eine große Veränderung in diesem Verhältnisse vorgegangen. Wenn der Knabe früher das um einige Jahre jüngere Mädchen stets Spielhagen, In Reih' und Glied. L

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