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Kunst und Irrsinn.

Die psychologische Beurteilung eines Menschen erfordert eine doppelte Erwägung seiner geistigen Thätigkeit. Wir haben dieselbe erstens als eine rein individuelle, zweitens aber als Glied in der grossen Kette der sich fortentwickelnden Menschheit zu betrachten. Eine jede Epoche der Geschichte hat ihre Irrtümer und Unwahrheiten, und ein jeder Mensch steht unter dem Einfluss des Geistes seiner Zeit, von dem er sich nicht loszureissen vermag. Selbst jene Geistesheroen, welche ihrer Zeit in kühnem Fluge vorauseilten und die Kultur in neue Bahnen lenkten, selbst diese genialen Geister klebten zum Teil an den irrtümlichen Anschauungen ihrer Zeitgenossen und standen, wie Goethe sagt, durch ihre Mängel mit ihrem Jahrhundert in Verbindung.

Die Irrtümer und Verkehrtheiten der Zeit werden wir niemals als Krankheitssymptom betrachten dürfen, denn dann wäre die gesamte Menschheit von jeher geisteskrank gewesen, indem sich die Menschen zu allen Zeiten in Verirrungen befunden haben. Was zu einer Periode der Geschichte hoch und heilig gehalten wurde, hat man zu anderen Zeiten verhöhnt und verspottet; absolute, unumstössliche Wahrheiten hat noch kein Zeitalter hervorzubringen vermocht. Der Irrtum der Zeit darf daher nicht mit jener Erscheinung verwechselt werden, die wir im vorigen Kapitel als Zeithysterie kennen

gelernt haben. Bei der letzteren handelt es sich um ein typisches, zu allen Zeiten zu beobachtendes Krankheitsbild, das nur durch bestimmte sensationelle Ideen besonders charakterisiert ist. Der Inhalt der Vorstellungen kommt dabei garnicht in Betracht, es ist vielmehr das ganze Verhalten, die gesamte Erscheinung der betreffenden Individuen, wodurch sie sich als Kranke kennzeichnen. Dieselben Personen, welche im Mittelalter als Behexte durch die Strassen tanzten, wären vielleicht zu anderen Zeiten der Geschichte fanatische Revolutionäre geworden, oder sie hätten sich in Spiritistenversammlungen mit den Geistern der Verstorbenen unterhalten, immer aber hätten sie das typische Bild der Hysterie dargeboten. Der Irrtum der Zeit hingegen betrifft alle, die Geistesstarken so gut wie die Geistesschwachen. Weil jemand im Mittelalter an Hexen und Teufel glaubte, werden wir ihn sicherlich nicht für geisteskrank halten, denn er teilte ja nur den allgemeinen Irrtum seiner Zeit. Wenn Luther im neunzehnten Jahrhundert geboren wäre, so hätte er vielleicht nicht an einen leibhaftigen Teufel geglaubt.

Wir sehen also, dass wir bei der Beurteilung eines Geisteszustandes nicht von unsern eigenen, individuellen Anschauungen ausgehen dürfen, sondern dass uns nur die Gesamtheit der Gesellschaft einen Anhaltspunkt geben kann. Wenn heutzutage ein wissenschaftlich gebildeter Mensch einem Stier göttliche Verehrung zu teil werden liesse und ihm eine allmächtige Kraft zuschriebe, so würden wir wohl einen pathologischen Geisteszustand des Betreffenden anzunehmen haben, während bei den alten Aegyptern die göttliche Verehrung von Tieren der allgemeinen Weltanschauung entsprach, und wir daher darin nur einen Irrtum der Zeit, nicht aber ein Krankheitssymptom erblicken dürfen.

Vor nur wenigen Jahrhunderten wurde noch die Astrologie, die Kunst, aus den Gestirnen die Schicksale der Menschen zu ersehen, selbst von den hervorragendsten Männern geübt. Es ist bekannt, wie fest Wallenstein an diese Dinge glaubte. Selbst ein wissenschaftlich so hervorragender Mann wie Johannes Kepler äusserte sich darüber wie folgt: „Je nachdem die Strahlen der Gestirne bei der Geburt eines Menschen

konfiguriert sind, fliesst dem Neugeborenen das Leben in dieser oder jener Form zu. Ist die Konfiguration harmonisch, so entsteht eine schöne Form des Gemüts, und dieses baut sich eine schöne Wohnung. Inzwischen werden Starke von Starken, Gute von Guten geboren. Die einzelnen Zufälle stehen unter der Macht Gottes und in der Gewalt des Schutzgeistes unter seiner Zulassung; ist das Gemüt übel zubereitet, so muss man trachten, es zu verbessern. Harmonie ist Vollkommenheit der Verhältnisse. Nur der Unendliche erkennt die Harmonie der Sphären in ihrem ganzen Umfange; der Erdball hat nur ein schwaches Nachgefühl. Dieses Nachgefühl belebt die Erdseele und macht den Menschen zum Denken und jeglichem Thun geschickter."

So wie wir auf die Irrtümer der Vergangenheit zurückblicken und dieselben für eine längst überwundene Schwäche der Menschheit halten, so werden künftige Generationen vielleicht auch auf uns zurückschauen. Was wir heute für unumstössliche Wahrheiten halten, das mögen kommende Geschlechter als den gewaltigsten Irrtum bezeichnen. Die Welt hat von jeher geirrt, und solange es Menschen auf der Welt giebt, wird es auch Irrtümer geben:

„Es irrt der Mensch, so lang er strebt."

Wir wachsen in den Irrtümern der Zeit auf, haben sie von frühster Jugend an vor Augen, und, ohne über dieselben nachzudenken, nimmt der Durchschnittsmensch sie als unantastbare Wahrheiten entgegen. Religion, Kunst, Moral und Sitte, die gesamte menschliche Kultur mit all ihren Schwächen und Irrtümern vererbt sich von Geschlecht auf Geschlecht, von Jahrhundert zu Jahrhundert.

„Es erben sich Gesetz und Rechte

Wie eine ew'ge Krankheit fort."

Eine Haupteigenschaft jener gewaltigen Naturen, denen die Welt ihre Fortschritte, die Kenntnis neuer Thatsachen verdankt, ist daher ein absoluter Zweifel an der Wahrheit alles Bestehenden. Wer nicht zweifelt", sagt Hagen *), „ob

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*) Hagen, Genie und Irrsinn, a. a. O.

das, was man über irgend einen Gegenstand weiss, nicht auch falsch sein könne, ist nicht zum Entdecken befähigt, und zum Auffinden neuer Wege und Gesetze ist nicht blos derjenige ungeeignet, welcher wenig, sondern auch wer bles Verstand besitzt, wer alles ganz wohl einsieht und nicht begreifen kann, wie ein anderer Bedenken haben kann über Dinge, die ja aller Welt längst geläufig sind." Hagen führt hier noch einen sehr treffenden Ausspruch Lichtenbergs an: „Der gewöhnliche Kopf ist immer der herrschenden Meinung und der herrschenden Mode konform, er hält den Zustand, in dem sich jetzt alles befindet, für den einzig möglichen und verhält sich leidend bei allem. Ihm fällt nicht ein, dass alles, von der Form der Möbel bis zur feinsten Hypothese hinauf, in dem grossen Rat der Menschen beschlossen worden, deren Mitglied er ist. Dem grossen Genie fällt überall ein: Könnte dies nicht auch falsch sein?"

Während wir uns daher einerseits einen grossen Fehler zu Schulden kommen lassen würden, wenn wir bei der psychologischen Beurteilung dem einzelnen Individuum den Irrtum seiner Zeit zur Last legten, so würden wir andererseits durchaus laienhaft verfahren, wenn wir den grossen Denker, welcher die Wahrheit und den Wert der bestehenden Verhältnisse anzweifelt, welcher in seinen Empfindungen und Anschauungen von der Allgemeinheit abweicht, für krank hielten. Der grosse Haufe pflegt ja allerdings alles, was er nicht begreift oder was von seinen althergebrachten Gewohnheiten abweicht, wenn diese auch noch so absurd sind, verrückt" zu nennen. Wer aber mit der psychologischen Entwickelung der Menschheit vertraut ist, wird hierin nur ganz natürliche, ja sogar notwendige und sich stets wiederholende Erscheinungen erblicken.

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Für die Beurteilung des einzelnen Individuums ist es daher nicht so wichtig zu erwägen, was jemand denkt und thut, sondern es kommt in erster Linie darauf an, wie er denkt, wodurch er zu seinen Anschauungen gelangt ist, welche Motive seinen Handlungen zu Grunde liegen. „Duo cum faciunt idem non est idem". Was bei dem einen das Symptom einer psychischen Erkrankung sein mag, ist viel

leicht bei dem anderen die Aeusserung eines durchaus physiologischen geistigen Vorgangs. Der Psychiater darf daher niemals bei der äusseren Erscheinung stehen bleiben, er wird vielmehr den causalen Zusammenhang des psychischen Vorgangs zu ermitteln haben, er wird versuchen müssen, die Quelle aufzufinden, welcher die betreffenden Handlungen oder Aeusserungen ihre Entstehung verdanken.

In ähnlicher Weise hat auch die Völkerpsychologie bei der Beurteilung der einzelnen Erscheinungen zu verfahren. Der jeweilige Zeitgeist, die Volkspsyche, welche sich durch die verschiedensten Gebiete, wie Politik, Philosophie, Kunst und Litteratur äussert, kann nur dann gewürdigt und richtig verstanden werden, wenn sie in ihrem causalen Zusammenhang, wenn sie als Glied in der grossen Kette geschichtlicher Entwickelung betrachtet wird.

Aus dem Zusammenhang gerissen, wird jede Epoche der Kunst und Litteratur unverstanden bleiben und zu Missdeutungen Anlass geben, während die Schöpfungen der Kunst als Teil eines grossen Ganzen, als Bindeglied in einer langen Kette betrachtet, unser Verständnis für das Denken und Fühlen ihrer Zeit wesentlich erleichtern. Eine genaue Kenntnis der Entstehungsweise der einzelnen Erscheinungen, ein Ergründen der Motive bestimmter künstlerischer Entäusserungen sind unbedingt erforderlich zur richtigen Beurteilung der Kunst als Symptom einer zeitweiligen Volkspsyche, als Teilerscheinung des momentanen Zeitgeistes. Wer unsere modernen Kunstverhältnisse als Ding an sich betrachtet, ihren Zusammenhang mit der Vergangenheit und ihre psychologische Entstehungsweise unberücksichtigt lässt, der wird sicherlich fehl gehen, wenn er dieselben als Material zur Beurteilung des gesamten Zeitgeistes verwerten will.

man einen Gang durch die modernen Gemäldeausstellungen macht und dort die Beschauer der Bilder beobachtet, wie sie zuweilen kopfschüttelnd vor diesem oder jenem Bilde stehen, ohne enträtseln zu können, was der Künstler hier überhaupt darstellen wollte; wenn man die eigentümlichen Farbenzusammenstellungen, die grellen Kontraste, die verschwommenen Konturen, den eigenartigen Grundton

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